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Mythos und Moloch. Die Metropole in der modernen Hindi-Literatur (ca. 1970-2010)
20 Nov 2020
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie untersucht Hindi-sprachige Stadtliteratur in der Zeit zwischen 1970 und der Gegenwart. Anhand von populären Mythen wie der „trügerischen Stadt“ (māyāvī śahar), Figuren wie dem Flaneur und Orten wie der Teebude zeigt sie, wie regionalsprachliche Narrative eine Schnittstelle zwischen globalen und nationalen Diskursen und lokalen Erfahrungswelten bilden. Hindi-Stadtliteratur eröffnet einen kritischen Diskursraum für gesellschaftliche Selbstbefragungen im modernen Indien. Einerseits stabilisiert sie Identitätsvorstellungen, andererseits bietet sie Raum für alternative Vorstellungen von einem authentischen Zusammenleben in Delhi, Mumbai, Kalkutta und anderen nordindischen Großstädten. Erstaunlicherweise orientieren sich sowohl konservative als auch (neo)marxistische Alternativen an demselben Gedanken der idealisierten indischen Nation. Gerade utopische Erzählungen und Werke, in denen es um Bürgerschaft geht, schlagen mit der Frage nach dem „Eigenen“ eine Brücke zwischen dem nationalen Einheitsideal der Gründerjahre der indischen Republik und der postkolonialen Kritik der 1980er und 1990er Jahre. Stadtliteratur in Hindi bereichert damit intellektuelle und politische Debatten durch regionalsprachliche Lesarten von Vergangenheit und Gegenwart.
Jakob (1991–2013)
Der Tod ist die Kurve in der Straße,
Sterben ist nur dem Blick entzogen sein.
Lausch ich, höre ich deine Schritte
Sein, so wie ich bin.
Die Erde ist aus Himmel.
Die Lüge hat keine Bleibe.
Keiner ging je verloren.
Alles ist Wahrheit und Weg.
(Fernando Pessoa)
Anmerkungen zur Umschrift und Schreibweise von Namen
Namen von Personen, Städten und Orten werden im Fließtext zugunsten der besseren Lesbarkeit ohne Diakritika und in deutscher (Ortsnamen) bzw. englischer (Eigennamen von Personen) Umschrift wiedergegeben, z.B. Kalkutta statt Kal'kattā, Swadesh Bharati statt Svadeś Bhār'tī, Sara Rai statt Sārā Rāy. Für die Autorennamen gilt, dass jeweils die vom Autor bevorzugte englischsprachige Schreibweise benutzt wird, also z.B. Vivek statt Viwek, Dixit statt Dikshit. Die vollständige Angabe Hindi-sprachiger Titel und Originalzitate in den Fußnoten und in der Bibliographie erfolgt nach den Umschriftkonventionen des NLAC-Systems für indische Schriften (mit dem zusätzlichen Elisionszeichen ', um den Ausfall des inhärenten a im geschriebenen Wort dort kenntlich zu machen, wo er nach den geltenden Ausspracheregeln nicht ersichtlich wird).
Bei mehreren Versionen von Ortsnamen etwa im Falle von Mumbai (Bombay) oder Banaras bzw. Benares (Varanasi) orientiert sich die Autorin am Gebrauch der Namen in den literarischen Werken.
Einleitung: Zur Bedeutung der Stadt in der modernen Hindi-Literatur
Spätestens seit Salman Rushdies Welterfolg „Midnight’s Children“ hat sich der indo-englische Roman einen festen Platz im Kanon der Weltliteratur erobert.1 In der Regel siedeln die Autorinnen und Autoren ihre Handlung in einer der indischen Metropolen an: Salman Rushdie, Kiran Nagarkar und Jeet Thayil wählen Mumbai (Bombay) als Schauplatz. Die Romane von Amitav Ghosh und Neel Mukherjee spielen in Kalkutta und Rana Dasguptas „Capital“ sowie Arvind Adigas „White Tiger“ in der Hauptstadt Neu-Delhi.2 Im Zuge dieses Booms englischsprachiger Stadtromane aus Indien hat sich eine eigene Sparte in der Forschung etabliert, die untersucht, welche Bedeutung der Megastadt in diesen Romanen als Schauplatz von Familiengeschichte(n), Symbol für die indische Geschichte und Kultur, als interkulturelle Kontaktzone oder realer und imaginärer Heimat der Charaktere zukommt.3
Stadtliteratur in Hindi genießt in den Kulturwissenschaften bislang nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die indo-englischen Stadtromane. Zwar haben sich in den vergangenen Jahren, ausgelöst durch einen breiten urban turn in den Kulturwissenschaften, vor allem indische, amerikanische und englische Vertreter der Subaltern Studies der regionalsprachlichen Populärkultur in den Metropolen zugewandt. Ihnen geht es darum, durch die Einbeziehung von künstlerischen Ausdrucksmedien jeglicher Art ein umfassendes Verständnis von urbanen Wahrnehmungs- und Erfahrungswelten zu erlangen. Diese Studien richten ihr Erkenntnisinteresse jedoch vor allem auf Felder einer (angeblich) nicht-elitären Kulturproduktion. Dazu zählen koloniale wie postkoloniale orale Traditionen wie das Straßentheater4 und gedruckte Zeugnisse der Unterhaltungskultur und Trivialliteratur ebenso wie (meist englischsprachige) Comics, Pulp Fiction und Graphic Novels der letzten zwei Jahrzehnte.5 Zuweilen weist die Auswahl der regionalsprachlichen Quellen in Untersuchungen der Postcolonial und Subaltern Studies, die selbst in der Tradition neomarxistischer Theoriebildung stehen, eine Vorliebe für „linke“ oder marxistisch beeinflusste Bewegungen wie der Progressive Writers’ Association der 1930er und 40er Jahre auf.6 Werke, die etwa außerhalb des bis ca. 1950 etablierten Kanons der Hindi/Urdu-Literatur liegen, oder gar aus tendenziell traditionell-konservativen Milieus der (unteren) indischen Mittelklassen stammen, finden hingegen kaum oder gar keine Erwähnung.
Die vorliegende Arbeit behandelt dagegen vor allem solche Literatur, die nach Francesca Orsini die normierende Agenda des sogenannten „Hindi Establishments“ verfolgt.7 Dieser Kreis von eher konservativen, männlichen und im antikolonialen Sinne „nationalistischen“ Kulturschaffenden verfolgte seit dem 19. Jahrhundert das Ziel, Hindi als Nationalsprache gegen Urdu (und Persisch), Englisch und andere indische Sprachen durchzusetzen. Im Zuge nationaler Reformbewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert wurden „moralisch fragwürdige“ Genres, orale Traditionen und persische Einflüsse zunehmend zurückgedrängt.8 Diese zugleich sprachpolitische und normative Ausrichtung des Mainstreams der Hindi-Literatur hat sich bis heute erhalten. Sie vorzustellen, in ihren zeitgeschichtlichen Kontext einzubetten und exemplarisch zu analysieren ist ein wichtiger Beitrag, um die indische, Hindi-sprachige Gesellschaft im Ganzen besser verstehen zu können, auch wenn die Ergebnisse nicht immer dem entsprechen mögen, was manch westliche Beobachter für wünschenswert halten. Indien ist in weiten Teilen ein konservatives Land und das gilt es als Realität anzuerkennen, genauso wie die emanzipatorischen Gegenbewegungen gegen eingefahrene Muster der Gesellschaft oder die verborgenen Laster und Sehnsüchte, die Spaltungen und Gewaltpotentiale, die sich selbstredend auch in der kulturellen Produktion ihre Wege bahnen.9
Trivial- und populärkulturelle Beispiele aus Literatur und Film werden in dieser Arbeit daher weitgehend ausgeklammert, um die Selbstbefragungsdebatten um Urbanität, Gesellschaft und Wandel, die in der Hindi-sprachigen „Hochliteratur“ geführt werden, näher zu beleuchten. Und wie zu zeigen sein wird, gibt es auch hier eine Durchlässigkeit der Genres.10 So wirkt, Charu Gupta zufolge, einerseits die Unterhaltungsliteratur an vielen Stellen normierend, etwa durch Geschlechterstereotypen in pornografischen Texten.11 Andererseits weisen einige der hier vorgestellten Beispiele, die der sogenannten Hochliteratur zugerechnet werden, eine Nähe zum Populären oder zum literarischen Kitsch auf.
Insgesamt stehen weniger literatursoziologische Fragestellungen im Vordergrund dieser Arbeit, als vielmehr das Bemühen, literarische Diskurse im Mainstream der Hindi-Literatur anhand wiederkehrender Themen und Motive zu klassifizieren und die literaturgeschichtliche Entwicklung dieses Zweigs Hindi-sprachiger Stadtliteratur einer kritischen Einordnung hinsichtlich ihrer Funktion und Bedeutung zu unterziehen. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit regionalsprachlicher Stadtliteratur steckt nämlich noch in den Kinderschuhen; darauf hat zuletzt Hans Harder in einem programmatischen Aufsatz hingewiesen.12 Zugleich macht Harder auf die weit zurückreichende, eigene Tradition der Stadtbeschreibung in den südasiatischen Regionalsprachen aufmerksam. Diese reicht von den Portraits der Städte Ayodhya und Lanka im „Rāmāyaṇa“ und Beschreibungen des aristokratischen Lebensstils im „Kāmāsūtra“ über das Genre šahar-ašob, „Stadt des Verfalls“, in der Urdu-Dichtung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, bis hin zu Gegenwartsromanen von Alka Saraogi, Nabarun Bhattacharya und Geetanjali Shree.
Nach dieser Eingrenzung des Gegenstandes stellt sich die Frage, wie die Werke literaturwissenschaftlich zu untersuchen seien: So behandeln viele der vorhandenen Studien, die in Hindi vorliegen,13 Stadtromane (in Hindi) unter rein mimetischen Gesichtspunkten, also unter der Annahme, Literatur sei ein Spiegel von Wirklichkeit. Dieser Ansatz dient dann häufig dazu, gesellschaftliche Phänomene anhand von literarischen Beispielen zu problematisieren. Das ist sowohl in literaturtheoretischer Hinsicht als auch im Hinblick auf den sozialen Entstehungskontext von Hindi-Stadtliteratur hochgradig unbefriedigend und unterkomplex. Literatur und Realität lassen sich spätestens seit der grundlegenden Arbeit von M. H. Abrams „The Mirror and the Lamp“ nicht eins-zu-eins aufeinander beziehen.14 Deshalb wählt diese Arbeit eine andere Herangehensweise, um das Verhältnis von literarischen Stadttexten auf Hindi in Bezug zur südasiatischen Moderne zu setzen. Vom pragmatischen Standpunkt aus betrachtet ist Literatur ein Modell von Wirklichkeit, ein „konstruktiver Verstehensentwurf“.15 Literarische Texte über Städte lassen sich als eigene, künstlerisch geformte Zeichenwelten lesen: „the city and its literature share textuality – that the ways of reading literary texts are analogous to the ways urban historians read the city.‍“16 Solche „Textstädte“, um ein Konzept des amerikanischen Literaturtheoretikers Richard Lehan aufzugreifen, haben zwar einen semantischen Bezug zu den realen Städten Bombay, Kalkutta oder Delhi, können diese aber nie vollständig und immer nur innerhalb einer erzählten Welt abbilden. Die fiktionalen Texte stehen aber dennoch in einer ganz besonderen Wechselwirkung zu den realen Städten, denn sie formen und überformen auch das Bild, das sich Menschen von den Städten machen. Sie nehmen vorhandene Bilder aus der Populärkultur auf, entwerfen neue Bilder, die dann ins Archiv kultureller Vorstellungen aufgenommen werden, und prägen somit auch Haltungen zur Stadt: Das Bombay von Bollywood, der zugleich kreative und verheißungsvolle, aber auch zerstörerische Moloch, in dem der Einzelne entweder aufsteigen oder untergehen muss, ist hier sicher das einschlägigste Beispiel.
Um diese Wechselwirkung mit der realen Stadt abzubilden, eignet sich als empirisches Analyseinstrument das Konzept des „(urbanen) Ethos“.17 Ethos, wie ihn Ethnologen und Soziologen heute verstehen, bezeichnet das, was Mitglieder einer Gruppe oder Gemeinschaft über Sitten und Gebräuche hinaus verbindet, nämlich die Anerkennung genereller Grundsätze, die auf unhinterfragten existentiellen Gewissheiten gründen.18 Ethos kann also durchaus als normative Kategorie verstanden werden, die gleichermaßen individuelle und soziale Haltungen und moralische Zwischenräume wie auch Idealbilder fiktionalen Ursprungs umfasst. Der Leitbegriff des urbanen Ethos dient dabei als Rahmen, in dem Erfahrungen und Wahrnehmungen sowohl aus einer individuellen Perspektive (Erleben der fiktionalen Protagonistinnen und Protagonisten) als auch aus einer intersubjektiven und sozialen Perspektive (Vorstellungen von Gesellschaft) untersucht werden können.
Das Konzept lehnt sich an Georg Simmels kulturphilosophische Vorträge und Schriften an. Die anhaltende Bedeutung Simmels und dessen Wiederentdeckung in den Sozial- und Kulturwissenschaften zeigt, dass seine Schriften auch heute noch als Zeugnisse einer „moderne[n] Erfahrungswissenschaft […] mit Ausrichtung auf die zeitlosen Formen (moderne ‚Strukturen‘) der Prozesse der Vergesellschaftung gelesen werden können.19 Für Simmel entpuppt sich die Freiheit zur Selbstentfaltung in der Großstadt, fern aller einzwängenden sozialen Abhängigkeiten der dörflichen Gemeinschaft, in „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) als eine Medaille mit zwei Seiten: Dem individuellen Gewinn an Freiheit steht die stets präsente Gefahr der Nervosität und Entfremdung durch Reizüberflutung und gestiegenen Anpassungsdruck gegenüber. Simmels Analyse lässt sich auch auf das Südasien des 19. und 20. Jahrhunderts übertragen, hält man sich vor Augen, dass die urbanen Entwicklungen in Südasien doch unter ähnlichen Vorzeichen standen wie zur Jahrhundertwende in Europa und den USA: Das massive demographische Wachstum der Metropolen Kalkutta und Bombay im 19. Jahrhundert, die Anfänge der Industrialisierung seit 1870 und die zweite Industrialisierungs- und Urbanisierungswelle im unabhängigen Indien zu Beginn der 1950er Jahre sind auch Wegmarken einer indischen Geschichte der Modernisierung.20
Sehr viel schwieriger ist es hingegen, den Beginn und das Wesen der indischen Moderne zu fassen, auch weil der Begriff in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung hart umkämpft ist.21 Historisch betrachtet setzte die kulturelle Moderne im heutigen Südasien mit der Gründung der Asiatic Society (1784) und des Fort William College (1800) im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zuerst in Bengalen ein. In Kalkutta wurde zum ersten Mal philologische Forschung im historisch-kritischen Sinne der westlichen Aufklärung betrieben, wiewohl der Hauptzweck des College in der Ausbildung von Angehörigen der britischen East India Company (und später der britischen Krone) in indischen Sprachen bestand. Durch solche neuen Bildungsimpulse und Handelskontakte entstand in Bengalen eine Schicht wohlhabender und westlich gebildeter Inder (bhadralok), aus der berühmte Reformer wie Ram Mohun Roy hervorgingen, die eine geistige, spirituelle und gesellschaftliche Erneuerung der Verhältnisse anstrebten und erste Vorstellungen von einer indischen Nation entwickelten. All diese neuen Entwicklungen sind unter der Bezeichnung „Bengali Renaissance“ als Beginn einer genuin indischen Moderne in die Geschichtsbücher eingegangen, wenngleich ihre Herausbildung untrennbar mit dem britischen Kolonialismus verbunden ist und es sich – wie auch bei der namensgebenden Renaissance in Europa und der Aufklärung selbst – gleichermaßen um historische Momente des Aufbruchs in eine neue Zeit wie um kämpferische Eigenbezeichnungen der historischen Protagonisten handelt.
Aus dieser engen Verbindung von „westlicher“ und „indischer“ Moderne rührt die allgemeine Skepsis gegenüber einer begrifflichen Festlegung von „Moderne“ und „Modernität“ (im Englischen beides modernity) für Südasien. Partha Chatterjee, einer der wegweisenden Theoretiker der Subaltern Studies, begründet in seinem Essay „Our Modernity“ diese Skepsis gegenüber dem Begriff der Moderne und ihren Verheißungen wie Gleichheit und freie Meinungsäußerung damit, dass sie untrennbar mit den vielfältigen Widersprüchen der kolonialen Zivilisierungsmission verbunden war.22 Bald scheint es, die Begriffe Moderne und Modernität seien bis heute so vorbelastet, dass eine fortführende Diskussion etwa um die Postmoderne im Keim erstickt wird, und sich viele Studien stattdessen mit dem – selbst im Kern postmodernen – Grundsatz „anything goes“ begnügen, um dem gefürchteten Fortschreiben kolonialer Meistererzählungen zu entgehen. Viele Autorinnen und Autoren dieser Schule betonen, es gäbe in Südasien nicht nur die eine Moderne (nach dem Vorbild Europas), sondern multiple, alternative oder gar „unauthorized modernities“.23 Der indische Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Makarand Paranjape schlägt vor, zur Realisierung des postmodernen Projekts, das im Kern eine intellektuelle Verschiebung „from knowledge to wisdom“24 anstrebte, ein „indigenous and homespun theorizing“25 zu entwickeln, um damit koloniale Hierarchien und Denkmuster, welche bis heute in intellektuelle Debatten hineinwirkten, endgültig zu überwinden. Er geht so weit, zu behaupten, „non-dualism […] is what we can consider India’s truth“.26 Die vorliegende Arbeit geht jedoch davon aus, dass ein solcher Relativismus mindestens ebenso schlimm ist, wie das Übel, das er zu bekämpfen vorgibt. Und zwar mit Blick auf wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte, die man auf diese Weise ausschließen würde, und auch im Hinblick auf den persönlichen Werterelativismus, den sich die Erforscherin der südasiatischen Modernen sonst einhandeln müsste. Denn es ist möglich, die Besonderheiten der indischen Moderne, die zweifellos eng mit dem Kolonialismus verbunden sind, anzuerkennen und gleichzeitig Bezüge zur ‚westlichen‘ Moderne in Europa und Amerika herzustellen. So bewerteten auch indische Denker, Reformer und Literaten moderne Entwicklungen aus dem Gefühl „dialektische[r] Zwiespältigkeit“27 heraus. Anhand des bengalischen Reformers Ram Mohun Roy zeigt Hans Harder, dass die Gegenüberstellung kultureller Codes, allen voran modern vs. traditionell und indisch vs. westlich, seit dem frühen 19. Jahrhundert zur „gedankliche[n] Grundausstattung“ indischer Authentizitätsdebatten gehörte.28 Diese dialektische Auseinandersetzung mit der Moderne setzte sich fort: Bis weit in die Unabhängigkeit Indiens hinein beschäftigten Fortschritt, Beschleunigung und veränderte Sozialstrukturen indische Autorinnen und Autoren genau so intensiv wie europäische oder amerikanische. Und diese ähnliche Ausrichtung der globalen Debatten um Moderne und Modernität zu unterschlagen, wäre mindestens ebenso falsch wie fragwürdig. Denn es würde ja bedeuten, Südasien und südasiatische Denker aus der Moderne auszuschließen und damit den kulturellen Überlegenheitsanspruch, der die finsterste Epoche des Kolonialismus kennzeichnete, von vorneherein in den hermeneutischen Aufbau wissenschaftlicher Untersuchungen einzubauen.
Mit dem Vergleich von indischer und europäischer (oder „westlicher“) Moderne stellt diese Studie daher bewusst die weit verbreitete Annahme der Postcolonial und Subaltern Studies von den multiplen Modernen in Frage. Denn südasiatische Stadtliteratur zeigt, dass Moderne auch auf dem Subkontinent janusköpfig und doppeldeutig ist. Und genau die Anzeichen der globalen Moderne und der damit seit dem 19. Jahrhundert – global – verbundenen Prozesse: „Individualisierung, Differenzierung, Spezialisierung und Abstraktion“ sowie „Technologisierung, Säkularisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung“.29 In Verbindung mit Simmels Beobachtungen eignet sich das Konzept des urbanen Ethos daher besonders gut dazu, die literarische Verarbeitung von Urbanisierungserfahrungen und dem kulturellen Spiel mit den Kontrasten traditionell-ländlich und fortschrittlich-großstädtisch in der Hindi-Stadtliteratur zu beschreiben und einzuordnen. Durch die Verknüpfung des literaturwissenschaftlichen Konzepts der Textstadt mit der soziologischen Kategorie des urbanen Ethos verbindet diese Studie daher die Analyse von Motiven, Themen und Perspektiven in den untersuchten Texten mit Ansätzen aus der Stadtsoziologie und Ideengeschichte.
Im größeren geistesgeschichtlichen Kontext betrachtet lässt sich die Hindi-Stadtliteratur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vereinfachend gesprochen, in drei Phasen einteilen: In den Jahren unmittelbar nach der Staatsgründung 1947 entstand in den 1950er Jahren die Nayī Kahānī als erste literarische Strömung des unabhängigen Indiens.30 Die ersten zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit standen unter dem Eindruck des sprunghaften demographischen Wachstums und unter dem von Jawaharlal Nehru angestoßenen Industrialisierungs- und Modernisierungsschub. Die Nayī Kahānī war auch deshalb von der Perspektive des Neuankömmlings gekennzeichnet, weil viele Autoren selbst in Großstädte, v.a. Delhi und Bombay, zogen.31 Sie leuchteten unter Einsatz klassisch-moderner Ausdrucksmittel, wie der erlebten Rede oder des stream-of-consciousness, die Gedanken- und Gefühlswelten ihrer Figuren tiefenpsychologisch aus und schilderten in betonter Nüchternheit alltägliche Erfahrungen in und mit der urbanen Umwelt. Die Suche nach dem eigenen Platz in der Großstadt weitete sich in den Jahrzehnten nach 1960 auf Fragen der gesellschaftlichen und nationalen Identität aus. In der zweiten Phase (ca. 1970-1990), die von politischen und ökonomischen Krisen wie dem Notstand unter Indira Gandhi 1975-1977 geprägt war,32 wandten sich viele Autoren vom Individualismus der Nayī Kahānī ab. Die Vertreter des sozialkritischen Realismus stellten subjektive Entfremdungserfahrungen in einen größeren gesellschaftlich-nationalen Kontext und rangen in zahlreichen zivilisationskritischen Kurzgeschichten, aber auch in utopischen und dystopischen Erzählungen um den Stellenwert ihrer eigenen kulturellen Werte. Damit eröffnete die Hindi-Stadtliteratur einen Diskursraum, in dem das postkoloniale Deutungsschema „das Selbst vs. das Andere“ vor der Folie älterer Gesellschaftsentwürfe, etwa Mohandas Karamchand Gandhis Vision von der ‚authentischen‘ indischen Dorfnation, diskutiert und mit eigenen Vorstellungen zur gesellschaftlichen Einheit erweitert wurde. Der Topos der Überfremdungsangst, die durch Kapitalismus und Technisierung hervorgerufen wird, überdauerte auch die 1990er Jahre und lebt als Globalisierungskritik in der Gegenwart fort.
Ende der 1990er Jahre zeichnet sich in der Hindi-Stadtliteratur ein weiterer Paradigmenwechsel ab, der sich in einer Auffächerung von Erzählformen, einer experimentellen Aneignung traditioneller Sprachformen und mehrdeutigen, postmodernen Erzählweisen bemerkbar macht.33 In einer Art reflexiven Wende hinterfragen die Protagonistinnen und Protagonisten der Geschichten jetzt nicht mehr nur das urbane Leben selbst, sondern auch dessen Bedingungen, insbesondere das Fortschrittsversprechen des globalen Kapitalismus. Eine zweite Dimension dieser reflexiven Wende besteht darin, dass viele Autorinnen und Autoren das Schreiben und Geschichtenerzählen in der oder über die Stadt selbst zum Thema machen, was sich etwa in autobiographisch angelegten Erzählperspektiven und in der Verflechtung von Figurenbiographien und Stadtgeschichte(n) äußert.
In jeder dieser drei Phasen hatte (und hat) die Hindi-Stadtliteratur eine stabilisierende Wirkung auf gesellschaftliche sowie nationale Identitätsbildungsprozesse der Hindi-sprachigen Mittelschichten in Indien, wie sich etwa an den Kontinuitäten zu älteren Denkfiguren und Gesellschaftsutopien aus der Zeit des Nationalismus zeigen lässt. Für die Hindi-Literatur lässt sich hinsichtlich solcher nationalistischer Idealvorstellungen (und ihrer Gegenbilder) also kein drastischer postkolonialer Bruch konstatieren. Im Versuch, sich die eigene kulturelle Identität anzueignen, zeigt sich allerdings ab den 1970er und 80er Jahren eine intensivere Auseinandersetzung mit „westlichen“ Einflüssen. Die Suche und Bestätigung des ‚Eigenen‘ ist dabei untrennbar mit der Annahme verbunden, dass dieses Eigene zugleich authentisch sei.
Literaturproduktion in Hindi geschieht schließlich nicht in einem politischen Vakuum, sondern ist in ein umkämpftes linguistisches und ideologisches Feld eingebettet, das sich auch über die Abgrenzung zum Englischen definiert.34 Regionalsprachliches Schreiben steht auch im Kontrast zur englischsprachigen Bildungs-, Konsum- und Geschäftswelt der urbanen Eliten. Bei jeder Studie zu regionalsprachlicher Literatur in Indien stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieses Schreibens zum Englischen, das auch nach der Unabhängigkeit seinen Status als Bildungssprache der einheimischen Eliten behalten und zudem die Rolle einer globalen lingua franca hinzugewonnen hat. Diese Entwicklung hat in Indien vor allem in der urbanen Bildungsschicht zu einem sogenannten Hindi-English-gap geführt. Diese „Lücke“ zwischen den Sprachen ist darauf zurückzuführen, dass das Englische nach wie vor das Feld der höheren Bildung besetzt und sowohl in akademischen Zirkeln als auch in der Literaturkritik als Mediator zwischen den bhāṣās, den indischen Neusprachen, fungiert.35 Hindi und andere ‚Regionalsprachen‘ gelten demgegenüber eher als die Sprachen der traditionellen, häuslichen (d.h. auch weiblichen) und ländlichen Lebensbereiche: „In the process, English in India becomes a sign of the cosmopolitan, the urban, and the elite, whereas bhasha literatures become artificially fixed to their somewhat artificially structured ‚regional‘ locations.‍“36 Schließlich weisen viele gebildete Städter selbst ihrer Muttersprache den Status einer „kitchen language“37 zu. Bedeutsame moderne indische Literatur, so eine unhinterfragte und selten so explizit wie von Salman Rushdie geäußerte Annahme, werde in Englisch verfasst.38
Noch dazu befindet sich anspruchsvolle regionalsprachliche Literatur in einer schwierigen Marktsituation. Der Kreis der potenziellen Abnehmer ist auf ein gebildetes urbanes Milieu begrenzt, wobei in diesem Abnehmerkreis Englisch hohes Ansehen als Akademiker- und Kultursprache genießt. Außerdem ist die Produktion und Vermarktung von neusprachlicher indischer Literatur schwierig, weil die indischen Verlage finanziell schwach aufgestellt sind: Es mangelt an Mitteln, um die Bücher kommerziell zu vermarkten, dazu kommt eine undurchsichtige Auflagenpolitik und schließlich die Vorliebe der zahlkräftigen Mittelschicht für englische Romane, wovon Unterhaltungsliteratur wohl die größte Sparte abdecken dürfte.39 Auch über die Rezeption Hindi-sprachiger Bücher lassen sich kaum verlässliche Aussagen treffen.40 Schließlich finden nur wenige Werke überhaupt den Weg in „westliche“ Buchhandlungen, nicht zuletzt, weil es an professionellen Literaturübersetzern und dem Interesse vonseiten der Publikumsverlage mangelt.41
Selbst für den forschenden Zugriff auf die Regionalsprachen stellen die grundlegenden Begriffe ein Problem dar. Begrifflichkeiten wie Regional- oder Vernakularsprachen suggerieren „entweder einen niederen Ursprung (lat. vernaculus einheimisch, häuslich, pöbelhaft, zu Sklaven gehörig) […] oder […] verweisen auf klare geografische Abgrenzbarkeit sowie auf eine in Indien übliche administrative Terminologie, was […] irreleitend ist.‍“42 Um dieser Verzerrung etwas entgegenzusetzen, schließlich spricht heute ein knappes Viertel der Weltbevölkerung, rund 1,7 Milliarden Menschen, eine südasiatische Muttersprache, schlägt Hans Harder den Terminus der „südasiatischen Neusprache“43 vor. An anderer Stelle zieht er jedoch ganz bewusst vernacular der alternativen Bezeichnung South Asian languages vor, um das oben skizzierte Hierarchiegefälle zwischen Regionalsprachen und dem Englischen zu problematisieren.44 In der vorliegenden Studie wird vor allem der Begriff der Regionalsprache benutzt, einmal aus Gründen der Praktikabilität, aber auch, um klarzumachen, dass die Herausforderungen, denen sich Literatur in Hindi gegenübersieht, untrennbar zu den Produktionsbedingungen dieses Schreibens dazugehören. Die Entscheidung für einen scheinbar neutralen oder politisch korrekten Begriff würde für den Zweck dieser Studie nämlich genau den – gleichermaßen produktiven wie problematischen – Kontext des Hindi-English-gap verdecken.
Ein wichtiger Grund für das Gefälle zwischen den indischen Regionalsprachen und Englisch – gewissermaßen die Kehrseite des Hindi-English-gap – ist auch im historischen und ideologischen Projekt der Nationalsprache Hindi zu suchen. In der gesamten Debatte sollten Beobachter nämlich keineswegs die politische Bedeutung und Macht der Regionalsprachen unterschätzen. Sie sind mit dem Attribut „einheimisch“ fest in lokale Denk- und Wissenssysteme eingebettet: „Urban dwellers experience their globally situated and connected urban space as decidedly local lifeworlds, thick with specific experiences, practices, imaginations, and memories.‍“45 Gerade Regionen im sogenannten Hindi belt abseits der drei Megastädte weisen eine sehr lebendige Literaturproduktion und -rezeption auf.46 Und das macht Hindi zu einem Machtfaktor in der indischen Politik. Die hindunationalistische BJP setzt ganz bewusst Hindi ein, um untere Mittelschichten anzusprechen.47 Mit der Weigerung des aktuellen Premierministers und vieler BJP-Politiker, verständliches Englisch zu sprechen, hat diese auf kulturelle Identität abzielende Politik eine neue, mitunter beängstigende Intensität erreicht.48 Die hier bloß angedeutete kulturelle und politische Verwurzelung indischer Literatursprachen ruft aber, wenn wir nun in den Bereich der Literatur zurückkehren, vor allem Fragen nach der Authentizität der erzählten Welten und den Authentifizierungsstrategien ihrer Autorinnen und Autoren auf den Plan. Die Frage lautet also nicht, ob regionalsprachliche Werke authentischer sind als ihre indo-englischen Pendants, sondern: Welche Funktion erfüllt die Vorstellung von Authentizität angesichts der umstrittenen, politisch aufgeladenen und ökonomisch schwierigen Lage der Hindi-Literatur?‍49 Mit Rashmi Sadana lässt sich feststellen, dass auch die Authentizitätsdebatte als eine Art „politics of imagination“50 der Logik indischer Identitätspolitik folgt: „the idea of cultural authenticity is a political variable – rather than a cultural truth“.51
Bereits im Streben um die nationale Einheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Attribut des ‚Lokalen‘ oder ‚Traditionellen‘, das besonders dem Hindi angeheftet wurde, als ideologisches Mittel im Kampf um die nationale Identität und gegen die Sprache und Kultur der englischen Kolonialherrscher gedient.52 Mahatma Gandhi unterstützte in „Hind Swaraj“ (1909) die Idee der Nationalsprache Hindi (damals Hindustani).53 Damit war untrennbar die Vorstellung des kommenden Indien als einer Nation der Dörfer verbunden. Für Gandhi war das Dorf die Seele der Nation. Deshalb entwickelte sich die Vorstellung von Indien als einer Nation der Dörfer im Unabhängigkeitskampf zu einem locus classicus im kollektiven Bewusstsein der in Entstehung begriffenen indischen Nation.54 Allerdings gab es auch einflussreiche Gegenstimmen: Gandhis politischer Verbündeter Nehru sah das indische Dorf z.B. als Hort der Rückständigkeit und Ignoranz an.
Dennoch strahlte der Topos vom Dorf als Wiege der indischen Nation, wie Gandhi ihn propagiert hatte, noch lange in die Zeit nach der Unabhängigkeit aus. Er fand seinen populären Niederschlag in Filmen wie Pather Panchali (1955) von Satyajit Ray und in der sogenannten Regionalliteratur (Āṃcalik Sāhitya) im Sinne von Literatur aus der Peripherie. Es handelte sich dabei um eine Parallelbewegung zur Nayī Kahānī, die an eine frühe Form des sozialen Realismus aus den 1930er Jahren anknüpfte und der Phanishwarnath Renus Roman „Schmutziger Rand“ (mailā āṁcal) von 1954 ihren Namen gab.55 Die Vertreter der Āṃcalik Sāhitya beriefen sich auf Dhanpat Rai Shrivastav, besser bekannt unter seinem Pseudonym Munshi Premchand, der als Pionier der modernen Hindi-Literatur große Popularität erlangte. Premchand hatte bereits in den 1930er Jahren die Lebenswelt sozial benachteiligter Gruppen aus der ländlichen Bevölkerung, allen voran der Bauern, ins Zentrum seines Schaffens gerückt.56 Auch die Erforschung der Hindi-Literatur in der deutschen Indologie/Südasienkunde orientierte sich während des Kalten Krieges an unterschiedlichen Wahrnehmungen von Dorf und Stadt als ‚authentischen‘ bzw. ‚unauthentischen‘ Orten der indischen Nation. So interessierten sich vor allem Forscherinnen und Forscher in der ehemaligen DDR für Hindi-Dorfromane.57 Sie verorteten Premchand und die nachfolgende Generation von Literaten, zum Beispiel Renu, Markandeya und Shivaprasad Singh, in der Tradition des sozialistischen Realismus,58 in der Literatur vor allem dazu dienen sollte, gesellschaftliche Missstände im Kapitalismus aufzuzeigen. Im Westen hingegen richtete sich das Interesse vor allem auf den individualistischen Ästhetizismus der Nayī Kahānī oder auf experimentelle, marxistisch beeinflusste Schulen, wie den Prayog'vād (experimentelles Schreiben) oder die „Nicht-Geschichte“ (Akahānī), die mehrheitlich einen urbanen Hintergrund hatten – sowohl in Bezug auf ihren Entstehungsort als auch auf den literarischen Schauplatz.59 In gewisser Weise ergeben sich dadurch bemerkenswerte Parallelen zwischen dem kollektiven Bewusstsein der indischen Nation, der Topologie regionalsprachlicher Literatur in Indien und den Bildern von Indien, die sich Beobachter von außen machen: Alle kreisen gleichsam um den Gegensatz von Dorf und Stadt, der stets mit den beiden Polen des Authentischen und Unauthentischen verknüpft bleibt. In anderen Worten: So wie das Dorf durch Gandhi zum Gründungsmythos der indischen Nation gehört, so gehört es durch Premchand auch zur Grundausstattung der Hindi-Literatur und durch den Ost-West-Gegensatz in der Südasienforschung auch zum Erbe der deutschen Indologie.
Angesichts dieser komplexen Ausgangssituation besteht das Ziel dieser Arbeit darin, die Bedeutung der Stadt in der Hindi-Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erforschen. Auf der erzähltheoretischen Ebene lautet die Frage: Welche literarischen Bilder und Vorstellungen von Stadt(gesellschaft) werden mit welchen narrativen Mitteln erzeugt? Und auf der literaturgeschichtlichen Ebene: Wie verarbeiten Autorinnen und Autoren ihre Erfahrungen mit Urbanität und Modernisierung? Besondere Bedeutung kommt auf beiden Ebenen den Beschreibungen von Migranten zu: In der Figur des Fremden spiegelt sich – in Anlehnung an Ashish Nandy – nicht nur die physische Reise vom Land in die Stadt wider, sondern auch die metaphorische Reise aus der imaginierten Heimstube der Nation, dem Dorf, hinein in die ehemalige Kolonialstadt.60 Im Gepäck trägt der Fremde das Bild von einem anderen Ort, einer ‚besseren‘ Gesellschaft mit sich, das er immer wieder mit der Realität abgleicht. Dieses Bild dient als Vorlage, nach der immer wieder neue Ideen von einer „inneren Sphäre“ entworfen werden. Autorinnen und Autoren nutzen diese Denkfigur, um gesellschaftliche Themen zu debattieren, aber auch, um alternative Vorstellungen vom städtischen Zusammenleben zu entwerfen. Hindi-Stadtliteratur eröffnet damit einen kritischen Diskursraum für Selbstbefragungsprozesse.61 Die Suche des Individuums nach dem Selbst ist häufig auch an Fragen der gesellschaftlichen und nationalen Identität gekoppelt.62
Die Texte, anhand derer diese Fragen beantwortet werden, sind nach inhaltlich-systematischen Kriterien ausgewählt worden.63 In den Texten sollte die Stadt nicht bloß als Schauplatz in Erscheinung treten, sondern urbane Erfahrung sollte explizit zum Thema gemacht werden. Deshalb lag der Literaturrecherche ein begriffliches Kriterium zugrunde: Begriffe wie śahar, nagar oder mahānagar bilden verschiedene Formen und Wahrnehmungen von Stadt ab.64 Bei einer distanzierten Betrachtung dieses Korpus zeigen sich bereits einige Trends: Titel wie „Die kranke Stadt“ (bīmār śahar), „In der fremden Stadt“ (aj'nabī śahar meṃ) oder „Großstadt“ (mahānagar) lassen bereits eine gewisse Programmatik erkennen, die sich in einer intensiven, nicht selten zivilisationskritischen Auseinandersetzung mit der urbanen Gesellschaft äußert.65 In manchen Fällen bleibt die Stadt anonym, etwa in Geetanjali Shrees Roman „Unsere Stadt in jenem Jahr“ (hamārā śahar us bar's),66 um ihre allegorische Bedeutung und die politische Aussagekraft des Romans zu erhöhen. Im Roman werden die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen Anfang der 1990er Jahre aus der Perspektive einer säkular-liberal eingestellten Schriftstellerin geschildert. Obwohl davon auszugehen ist, dass wir es bei Shrees Schauplatz mit einer Millionenstadt zu tun haben, lässt die Bezeichnung śahar völlig offen, mit welcher Größenordnung von Stadt wir es zu tun haben.
Der Begriff mahānagar weist mehrere Bedeutungsebenen auf: Auf einer nominellen Ebene schließt er quantitative und qualitative Bedeutungen ein. Vieles deutet darauf hin, dass der Neologismus eine regionalsprachliche Entsprechung für die englische metropolis (griech. „Mutterstadt“) bzw. megacity ist. Dabei verweist das Präfix mahā, ähnlich wie die griechische Vorsilbe metro, sowohl auf die quantitative als auch qualitative Dimension von Stadt. In der literarischen Verwendung des Begriffs in Hindi schwingt eine Konnotation von Wachstum mit, zum Beispiel, wenn etwa der Wandel einer Stadt (nagar) zur Großstadt oder eben Megastadt (mahānagar) thematisiert wird.67 Ähnlich wie andere Komposita, die aus Sanskrit-Wörtern zusammengesetzt sind (tatsamas), etwa nagar-nigam, „Stadtverwaltung“, oder nagar-pramukh, „Bürgermeister“, umgibt auch mahānagar ein Hauch von Verwaltungssprache.68 Das mag ein Grund sein, warum es in literarischen Werken seltener vorkommt. Üblicherweise ist einfach nur von „Stadt“ die Rede, wofür oft das aus dem Persischen entlehnte, poetischere und semantisch offenere śahar (synonym mit nagar) benutzt wird. Die Übertragung des Wortes erfolgt entlang historischer Linien: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung nach der Unabhängigkeit, die von der Kongresspartei unter Nehrus Führung eingeleitet wurde, erscheint „Großstadt“ und „Metropole“ die angemessenere Übersetzung, wohingegen spätestens mit der liberalen Ära ab 1991 die Megastadt, so darf vermutet werden, auf das Verständnis von mahānagar abgefärbt haben dürfte. Diese kurze Begriffsanalyse deutet schon an, dass das philologische Handwerk des Übersetzens im weiteren Sinne eine kulturgeschichtliche Systematisierung und Einordnung der literarischen Werke meint, die hier unter dem Genrebegriff „Stadtliteratur“ zusammengefasst werden. Eine generelle Schwierigkeit bei der Recherche bestand darin, dass für die zeitgenössische Hindi-Literatur kein Kanon definiert ist, geschweige denn für Stadtliteratur in Hindi. Insofern kann die Auswahl und Einbettung der Texte auch als ein Versuch verstanden werden, sich einem solchen Kanon anzunähern.
Die vier Kapitel eröffnen zwei konzeptionelle Blickwinkel auf literarische Stadtwahrnehmung und -darstellung: Der erste Teil der Arbeit, Kapitel eins und zwei, ist der narrativen Konstruktion der Stadt gewidmet, der zweite Teil der literaturgeschichtlichen Entwicklung der Hindi-Stadtliteratur. Das erste Kapitel lotet das Verhältnis verschiedener Textgenres zu populären Bildern und Narrativen aus. Stadtbilder weisen eine große Durchlässigkeit für populäre oder stereotype Topoi und Narrative auf. Diese Bilder unterscheiden sich jedoch in englischsprachigen und Hindi-sprachigen Texten: Während zum Beispiel englischsprachige Stadtbiographien das Bild von Bombay als legendärer Aufsteigermetropole lediglich zitieren, gewinnt es in Hindi-sprachigen Einführungen und Vorworten zu Stadtbiographien an Kontur, etwa im Vorwort zu Suraj Prakashs Anthologie „Bombay 1“ (baṃbaī-1).69 Bereits in solchen Paratexten wird deutlich, wie sehr Bombays Janusköpfigkeit an lokale Denkfiguren anknüpft: Bombays Sogwirkung wird mit dem Zauber der māyā erklärt, dem illusionären Schleier, der die Menschen glauben lässt, die materielle Welt habe eine Bedeutung. Damit bezieht sich der Herausgeber auf bekannte Versatzstücke hinduistischer Mythologie und bezieht diese auf zeitgenössische Erfahrungen der Leser: Bombay trägt Züge einer mal fürsorglichen, mal grausamen Muttergottheit – mal Lakshmi, mal Kali –, die ihre Kinder willkürlich belohnt oder straft.
Das zweite Kapitel beleuchtet die empirisch fassbaren räumlichen Aspekte der Textstädte. Neben Personifizierungen dienen Schauplätze und Erzählperspektiven in den Geschichten dazu, den Stadtraum empirisch und narrativ zu erschließen und konkrete, alltägliche Erfahrung zu schildern. Ähnlich wie im Film werden in der Literatur Ausschnitte von Stadt gewählt, um das unüberschaubare Ganze zu erfassen. Stadtbiographien wählen dafür häufig eine Darstellung der Stadt als Organismus. Während fiktionale Texte, besonders in den 1970er und 80er Jahren die Stadt als menschenfressenden Dämon darstellen, dem der Einzelne schutzlos ausgeliefert ist, machen jüngere Darstellungen (Biographien oder fiktionale Geschichten) die jeweilige Stadt oft selbst zu einer Art personifiziertem Subjekt der eigenen Geschichte. Auch markante Gebäude und zentrale Einrichtungen wie das Gateway of India, Bahnhöfe oder eine Teebude dienen dazu, geographische Orientierung und soziale Verankerung in Geschichten sicherzustellen. Bei näherem „Hineinzoomen“ treten jeweils unterschiedliche Ausschnitte der Stadtlandschaft in den Vordergrund, die urbanes Zusammenleben etwa im Viertel oder Mohalla als einen gesellschaftlichen Mikrokosmos beschreiben. Eine dritte Technik, mit der Autoren den Stadtraum gestalten, ist die Beschreibung sensorischer Wahrnehmung. Diese werden durch dynamisch im Raum positionierte Figuren wie den Flaneur „gefiltert“ und lassen Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen Individuum, Menschenmenge und Stadt(raum) zu. Diese raumbildenden Wahrnehmungen bilden wiederum die Grundlage für die gesellschaftskritische Funktion dieser Figuren. Der saṛak'māp, ein Flaneur oder Tramp, übt mit seinen – im wahrsten Sinne des Wortes – gegenläufigen Ansichten Kritik am Fortschrittsimperativ, der gedankenlosen Konsumorientierung und Geschichtsvergessenheit der urbanen Mittelschichten. Durch die sinnlichen Raumwahrnehmungen des indischen Flaneurs übertragen die Autorinnen und Autoren nicht nur den dreidimensionalen Stadtraum in einen zweidimensionalen Text, sondern sie schreiben umgekehrt auch Geschichte(n) und Erinnerungen in die Textstadt ein.
Im zweiten Teil der Arbeit geht es darum, literarische Diskurse über die indische Stadt in einem größeren ideengeschichtlichen Kontext zu betrachten. Im dritten Kapitel steht daher Literatur aus den 1970er bis zu den 90er Jahren im Mittelpunkt der Betrachtung. In dieser Zeit sind viele sozialkritische Kurzgeschichten entstanden, die von den enttäuschten Hoffnungen über die (vermeintlich) ausgebliebene Modernisierung nach der Unabhängigkeit berichten. Diese Kritik erfährt besonders in utopischen Erzählungen eine Zuspitzung: Vorstellungen von einer idealen Einheit vom „Ich im Wir“, das die Vorzüge von Gemeinschaft und Gesellschaft in Einklang bringt, sind ein wichtiger Topos in den Geschichten. Er schlägt eine Brücke von den enttäuschten Idealbildern aus der Zeit des Freiheitskampfes zu den vielgestaltigen und ambivalenten Deutungsmustern der postkolonialen Zeit. In diesem Prozess kommt der Hindi-Stadtliteratur eine „konservierende“ oder stabilisierende Wirkung zu, weil in ihr nationale Ideale der Unabhängigkeitsbewegung und der Anfangsjahre der indischen Republik wieder aufgenommen und weitergedacht werden. Gerade in der – auch durch den postkolonialen Diskurs angestoßenen – Auseinandersetzung mit den prägenden Entfremdungserfahrungen des Kolonialismus suchten auf Hindi schreibende Literatinnen und Literaten nach Wegen der Aneignung der Stadtgeschichte durch alternative Deutungen. Damit trugen sie auch in den 1970er und 80er Jahren entscheidend zur Suche nach einer kulturellen und nationalen Identität Indiens bei. Diese Selbstbefragungsdiskurse spielen sich nach wie vor im imaginären Raum der inneren Sphäre ab. Wenn städtische Zugehörigkeit thematisiert wird, prallen unterschiedliche Deutungen davon aufeinander, worüber sich das „Innere“ genau definiert.
Deshalb untersucht das vierte Kapitel anhand des um 2000 vermehrt auftretenden Begriffes nāgarik'tā (Urbanität, Bürgerschaft) die literarische Umsetzung jüngerer Ideen und Ideale städtischen Zusammenlebens. Durch die Analyse und Interpretation von zwei Geschichten, Kashinath Singhs Banaras-Roman „Mohalla Assi“ (kāśī kā assī) und Prakashs Langerzählung „Die Mauern von Delhi“ (dillī kī divāreṃ), ergibt sich ein Ausblick auf die zeitgenössischen Diskurse, in denen zwei Sichtweisen von Bürgerschaft miteinander konkurrieren. Bei Kashinath Singh ist es eine Insiderperspektive, die Zugehörigkeit als fixe Identität versteht. Sie manifestiert sich sowohl durch gemeinschaftliche Praktiken und Werte als auch über die Abgrenzung gegenüber Fremden. Bei Prakash definiert sich Bürgerschaft (nāgarik'tā) hingegen durch einen Blick von außen als eine konstruierte und zufällige Kategorie. Ihm geht es um die underdogs, die als ewige Migranten in den physischen und sozialen Nischen der Stadt leben und so das Versprechen von Gleichheit und Freiheit, das der demokratische Rechtsstaat jedem Bürger und jeder Bürgerin (nāgarik) zusichert, in Frage stellen. Beide Perspektiven zeigen, dass der verfassungsrechtliche Status eines (Staats)Bürgers im heutigen Indien keineswegs ausreicht, um soziale und politische Zugehörigkeit zu sichern. Kaste, Geschlecht, Religion und Ethnie erweisen sich nach wie vor als enges Raster, das Individuen gleichermaßen ein- und ausschließt. Allerdings ähnelt sich die Stoßrichtung der Kritik auch in gewisser Weise: Sowohl die ökonomischen Außenseiter von Prakash als auch die etablierten Insider von Singh werden als Globalisierungsverlierer dargestellt. Dieses Neben- und Miteinander konservativer und neomarxistischer (bzw. subalterner) Deutungen erzeugt eine ungemein produktive Spannung und zeigt, dass Hindi-Stadtliteratur weiterhin eine bevorzugte Sphäre für Reflexionen, kritische Nachfragen und Lesarten bezüglich moderner Entwicklungen bildet, und zwar in bewusster Abgrenzung zu globalen englischsprachigen Diskursen und Deutungsmustern.
1. Stadt schreiben. Populäre Bilder und Narrative von der indischen Megastadt (am Beispiel von Mumbai/Bombay)
1.1 Mumbai/Bombay: die indische Megastadt par excellence
Ein bis heute populärer Bollywood-Klassiker, Raj Kapoors Shree 420 (1955), drückt die Janusköpfigkeit Bombays, das 1995 in Mumbai umbenannt wurde, in einer Allegorie aus: Maya, die den sprichwörtlichen Lug und Trug im Namen trägt, verführt den ebenso mittellosen wie unbedarften Neuankömmling Raj mit ihrem ruchlosen Charme und dem verlockenden Angebot, in der feinen Gesellschaft und unter falschem Namen, Raja von Piplinagar, beim Glücksspiel ganz groß herauszukommen. Maya, genau wie der ganze Glanz und Luxus, der sie umgibt, entpuppt sich als unberechenbare, erbarmungslose ,Hure des Systems‘. Ihr Gegenpart ist die ehrliche und anständige Vidya („Wissen“), deren Liebe Raj um Haaresbreite verspielt, bis er schließlich den Wert eines aufrichtigen Lebenswandels erkennt und in einem genialen Coup den betrügerischen Geschäftsmann Seth Sonachand überführt und damit dutzende ehrliche Arbeiter von der Straße vor einem Betrug ungeahnten Ausmaßes bewahrt. Nun, was macht diesen alten Hut der indischen Filmgeschichte interessant? Die janusköpfige Stadt und andere Narrative aus Raj Kapoors Filmen haben mit ihrer Bildsprache den Mythos Bombay entscheidend geprägt.70 Nicht nur begegnet uns Bombay bzw. Mumbai auch heute noch in verweiblichter Form bei indo-englischen Autoren wie Salman Rushdie, wie im Folgenden zu sehen sein wird.71 Der Topos der māyāvī śahar, der mit dem Konzept von der Illusion (māyā) der sichtbaren Welt klassische philosophische Traditionen auf die trügerische Zauberstadt überträgt,72 bildet die Grundierung für populäre, auch global verbreitete Bombay-Sujets.73
Das Gegensatzpaar „Mythos und Moloch“74 gehört zum festen Repertoire, aus dem Reportagen, Filme oder Artikel über Mumbai (Bombay) schöpfen und auch unsere ‚westliche‘ Wahrnehmung dieser Stadt prägen.75 Filme wie Slumdog Millionaire (2008) tragen dazu bei, dass sich bestimmte Bilder von dieser janusköpfigen Stadt verfestigen, und zu einer Art Label oder Image gerinnen, wobei der englische Begriff, umfassender als der deutsche, sowohl den Modus der Darstellung als auch den der Wahrnehmung und Vorstellung einschließt. Die Linguisten George Lakoff und der Philosoph Mark Johnson haben in „Leben in Metaphern“ darauf hingewiesen, dass Metaphern nicht nur ein sprachliches Phänomen sind, sondern unser „alltägliches Konzeptsystem“ durchdringen, das unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln strukturiert.76 Genauso tragen populäre Topoi, also Denkfiguren, Sprachbilder oder Allgemeinplätze,77 entscheidend zur Wahrnehmung und Konstruktion von Wirklichkeit bei.
Wenn Texte über die Stadt die Stadt selbst (mit-) kreieren, dann findet das „Schreiben“ von Stadt auf verschiedenen Reflexions- und Abstraktionsebenen statt, angefangen bei akademischen Diskursen bis hin zu populären Debatten. Ziel dieses Kapitels ist es aufzuzeigen, dass populäre Bilder und Narrative die unterschiedlichsten Ebenen der Beschäftigung mit der indischen Megastadt in Texten durchdringen: Populäre Bilder „sickern“ durch alle Textgenres und Repräsentationsschichten. Dieses Kapitel untersucht stichprobenartig die Verbreitung und Ausformung von stereotypen Darstellungen von Mumbai (Bombay) in unterschiedlichen Textgattungen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten. Der Zugang, der hier gewählt wird, kann mit einer Probebohrung verglichen werden, die dem Zweck dienen soll, schichtweise die unterschiedlichen Textsorten zu sondieren, in denen die indische Textstadt konstruiert wird.78 Die erste Schicht repräsentiert Interessenschwerpunkte in der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der indischen Megastadt. Dazu zählen deutsch- und englischsprachige Studien über indo-englische Romane sowie populärwissenschaftliche Bücher. In Indien entstandene und publizierte Stadtbiographien und Essays über Mumbai (Bombay) bilden die zweite Schicht. Die dritte Schicht markiert den Übergang von anglophonen zu regionalsprachlichen Texten mit Großstadtbezug. Paratexte, also Vorworte zu Studien über Hindi-Stadtromane und zu Anthologien mit Großstadtgeschichten, bilden die Brücke zwischen alltagsweltlichen Vorstellungen und der literarischen Repräsentation. In allen Schichten herrscht, unabhängig vom Genre, eine erstaunlich große Durchlässigkeit für populäre Bilder.
Bertrachtet man diesen Prozess einmal „von unten“, wird der Einfluss lokaler Sprachbilder und Redeweisen in der globalen Bildproduktion sichtbar. Nicht nur erzeugen etwa Journalistinnen und Journalisten den kosmopolitischen Ruf von Mumbai (Bombay), indem sie eine geistige Verwandtschaft zu New York herstellen. Ein Beispiel ist der Geo-Artikel „Bombay. Die Stadtneurotiker“,79 der Woody Allens Filmklassiker Annie Hall (dt. Titel: Der Stadtneurotiker) aus dem Jahr 1977 zitiert. Umgekehrt zitieren sie auch ‚lokale‘ Bilder wie das der māyavī śahar, was so viel wie „Traumstadt“ oder auch „Stadt der Illusion“ bedeutet. Die urbs prima in Indis empfiehlt sich deshalb als exemplarischer Untersuchungsgegenstand, da ihre Popularität weit über nationale Grenzen ausstrahlt. Aus der Beschäftigung mit Mumbai (Bombay) ist ein umfangreiches Textkorpus hervorgegangen, das es ermöglicht, globale und lokale Bilder miteinander zu vergleichen.
Wenn die Kategorien von „global“ und „lokal“ als Bezugssystem zu Hilfe genommen werden, geht damit zumeist eine oben-unten-Hierarchisierung einher. Das Vorurteil, regionalsprachliche Literatur bleibe in ihrer Entstehung und Rezeption nur auf lokale, traditionelle Lebensbereiche beschränkt, wohingegen englischsprachige Literatur globaler Natur sei,80 leitet sich von einer globozentristischen Auffassung her. Diese gründet auf der Gegenüberstellung von einem transterritorialen space of flows und fixen Orten (places): „Das Lokale als Effekt des Globalen zu imaginieren, heißt, ‚Ort‘ als Produkt externer Beziehungen zu denken. Für diese Deutung gilt: Orte (das Lokale) verfügen über keinerlei kontextgenerierendes Potenzial, denn alles was zählt, ereignet sich irgendwo anders.‍“81 In Abgrenzung zu universalisierenden Globalisierungstheorien, welche die Ähnlichkeiten von Megastädten und global cities hervorheben,82 hat sich Anfang der 2000er Jahre rund um die Konzepte des städtischen Habitus bzw. Charakters83 und der „städtischen Eigenlogik“84 in der soziologischen Stadtforschung eine neue Stoßrichtung durchgesetzt. Martina Löws Kategorie der städtischen Eigenlogik verbindet gewissermaßen das Stadtbild mit dem urbanen Ethos: Die Stadt ist in ihren lokal verankerten praxeologischen Strukturen (Eigenlogik) und ihren ortsspezifischen Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (Doxa, Habitus) als auch in ihrem überregionalen Bezugsrahmen „ein sehr spezifisches räumliches Strukturprinzip“.85 Die städtische Eigenlogik bilde „ein Ensemble zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, wodurch sich Städte zu spezifischen Sinnprovenienzen verdichten.‍“86 Diese Sinnprovenienzen nehmen verschiedene „Ausdrucksgestalten“87 an. Zu diesen zählen die materielle Kultur genauso wie Redeweisen von Besuchern und Bewohnern, oder Texte, aus denen sich Rückschlüsse auf lokale Wahrnehmungen und Vorstellungen bis hin zur emotionalen Besetzung einer Stadt ziehen lassen.
Das bedeutet, dass populäre Topoi von und Narrative über Mumbai (Bombay) nicht nur gewissermaßen von oben nach unten – um noch einmal im Bild globozentrischer Deutung zu bleiben – durchsickern, sondern dass sich dieser Prozess auch andersherum, also bottom-up, vollzieht. Zwar gebrauchen alle Autorinnen und Autoren dieselben Sprachbilder, jedoch gewinnen diese global kursierenden Images – nicht zuletzt durch die Anbindung an ortsspezifische Wahrnehmungsmuster und individuelle Erfahrungen – an Kontrast und Kontur, je weiter wir uns der regionalsprachlichen Textebene nähern.
1.2 Urbs Prima in Indis:88 Mumbai als Sinnbild des modernen Indiens
Narrative über Mumbai (Bombay) als Sinnbild des modernen Indiens, aber auch als verrucht-legendärer Hort der Prostitution, kriminellen Machenschaften und des Drogenhandels treten ganz unverhüllt, selbst in den Titeln populärwissenschaftlicher und akademischer Publikationen zutage, wie das Beispiel „Mafia Queens of Mumbai: Stories of Women from the Ganglands“ nahelegt.89 Dabei überlappen sich die alltagssprachlichen Bedeutungen von „Modernität“ und „Moderne“. Das ist einmal die Vorstellung von der jüngeren Entwicklung Mumbais hin zu einer fortschrittlichen, wirtschaftlich starken Weltklassestadt, die in derselben Liga wie New York, Singapur oder Shanghai spielt.90 Zum anderen impliziert „Moderne“ die Gegensätzlichkeiten, die eine Megastadt ausmachen: Reichtum und Armut, Finanzsektor und Slum, Arbeitsplätze und Überbevölkerung, soziale Vielfalt und religiöse Konflikte. Und tatsächlich erzählt Mumbais Geschichte viel über das Nach- und Nebeneinander unterschiedlichster Einflüsse: Das Archipel, Heimat der Koli-Fischer, wurde von Hindu- und Moghul-Dynastien beherrscht, bis der Sultan von Gujarat es im 16. Jahrhundert an Portugal abtrat. Bis heute ist strittig, ob sich der Name Bombay vom portugiesischen buan bahia („guter Hafen“) oder vom Namen der lokalen Gottheit Mumba Ai ableitet. 1661 pachtete die East India Company die Inseln, nachdem sie als Teil der Mitgift für die Hochzeit der portugiesischen Prinzessin Catharina mit dem Thronfolger Charles II. in britische Hände übergegangen waren. Von da an stieg Bombay zu einem wichtigen Handelszentrum für den Baumwoll- und Opiumhandel der East India Company auf.91 Das industrielle und demographische Wachstum beförderte jedoch auch soziale Ausgrenzungen, die vor allem die zugezogene Marathen-Bevölkerung zu spüren bekamen, die im 19. Jahrhundert vor Hungersnöten aus dem Hinterland geflohen war.92 Meera Kosambi belegt, dass die Maratha-Migranten die Stadt vor allem als parasitären Ausbeuter sahen, der eine Gefahr für Reinheit und Tradition darstellte.93 Die Identifikation des modernen Indiens mit der kosmopolitischen Metropole geht laut Vinay Dharwadkar auf die Zeit nach der Unabhängigkeit zurück.94 Die 1950er und 60er Jahre sind auch die Zeit, an der sich z.B. auch Salman Rushdies Ideal vom „Bombay classique“ orientiert und das von kosmpopolitischem Flair, Toleranz und Chic geprägt war (wiewohl dieser kosmopolitische Lebensstil vor allem den Eliten vorbehalten war).95 Dieses Ideal vom multikulturellen Mumbai (Bombay) scheint nach wie vor die narrative Darstellung wie auch die populäre Wahrnehmung der Stadt v.a. in englischsprachigen Stadtbiographien wesentlich zu beeinflussen. Die historische Quelle, auf die Meera Kosambi verweist, macht aber auch deutlich, dass regionalsprachliche Bombay-Darstellungen das zerstörerische Potential der Großstadt für die gesellschaftliche Ordnung aus der Sicht von Migranten thematisieren. Dass dieser Narrativstrang bis heute äußerst lebendig ist, beweisen auch jüngere (Para-)Texte in Hindi, die von einem solchen zivilisationskritischen Ethos geprägt sind, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird.
Orientiert man sich jedoch zunächst einmal an dem oben erwähnten Bild der multikulturellen, modernen Metropole in anglophonen Texten, so stellt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler zeitgenössische Mumbai-Romane vor, die sie zur „neuen Weltliteratur“ zählt. Dazu gehören Kiran Nagarkars „Ravan und Eddie“ (1994), Suketu Mehtas „Bombay Maximum City“ (2004), Altaf Tyrewalas „No God in Sight“ (2005) und Jeet Thayils „Narcopolis“ (2012). Löffler zitiert eingangs zum Kapitel „Bombay/Mumbai – Der Moloch der Zukunft“ Doug Saunders „Arrival City“, in dem die indische Metropole als „die am stärksten multikulturell orientierte Stadt der Welt“96 bezeichnet wird. Auch in der Besprechung der Bücher stützt sie sich auf die literarischen Vorlagen aus den Romanen und Stadtchroniken, wenn sie Mumbai eingangs als „zwar chaotische, aber einzigartig tolerante, polyglotte und kosmopolitische Mega-City“ vorstellt.97 Aufschlussreich ist, dass die Autorin neben Themen wie „Kriminalität, Polizei-Korruption, Sex-Business und Filmwelt“98, die etwa für Suketu Mehtas „Maximum City“ zentral sind, zahlreiche Körpermetaphern zum Einsatz bringt. Sie spricht etwa vom „toleranten säkularen Habitus“,99 von der „einzigartigen Dynamik und Energie dieses Stadtkörpers“,100 und konstatiert: „[d]er reisende Reporter Mehta senkt seine Sonde tief in den Körper der Stadt und nimmt Stichproben.‍“101
Mit der metaphorischen Sprache bezweckt Sigrid Löffler gewiss, die Leserinnen und Leser auf unterhaltsame und anspruchsvolle Weise mit dieser Sparte der Weltliteratur vertraut zu machen. Einer Literaturkritikerin sei es außerdem unbenommen, Literatur mit literarischer Sprache zu erzählen. Dennoch wirft die oft unreflektierte Wiedergabe von Stadtbildern und -narrativen in Kombination mit der Bezeichnung der besprochenen Werke als „globale Literatur“102 vor dem Hintergrund dieser Untersuchung Fragen auf. Was bedeutet „global“ in Bezug auf die indo-englische Literatur? Inwieweit mögen auch populäre Vorstellungen aus der „lokalen“, regionalsprachlichen Sphäre eine Rolle spielen, oder umgekehrt Stadttexte in Hindi ganz ähnliche Bilder von Mumbai (Bombay) als der ‚kosmopolitischsten‘ indischen Metropole produzieren? Wie zu sehen sein wird, nimmt der Einsatz von Körpermetaphern zu, je weiter wir uns lokalen Vorstellungswelten bzw. „dominante[n] lokale[n] Sinnkontexte[n]“103 nähern. Bereits in anglophonen Stadtbiographien (city biographies) und Essay-Sammlungen (city writings) über Mumbai sind Körpermetaphern häufig anzutreffen.
Die beiden Stränge, die die Darstellung der indischen Megastadt, allen voran Mumbai, in den journalistischen und populären Medien in den letzten drei Jahrzehnten gekennzeichnet haben, lassen sich ansatzweise auch in der akademischen Beschäftigung nachweisen. Einerseits untersuchen kulturwissenschaftliche Studien, die den Global Studies nahestehen, die Einflüsse von Modernisierung und Globalisierung auf die Kultur der (englischsprachigen) urbanen Mittelklasse, etwa in den Publikationen „Popular Culture in a Globalised India“ und „Globalisation and the Middle Classes in India: The Social and Cultural Impact of Neoliberal Reforms“.104 Ein beliebtes Untersuchungsfeld urbaner Mittelklassekultur stellt dabei das Bollywood-Kino dar.105 Auf der anderen Seite werden großstädtische Slums, informelle Lebens- und Arbeitsbedingungen und Kriminalität aus einer lokalen, subalternen Perspektive analysiert, wie zum Beispiel in Vinit Mukhijas Studie über squatter Siedlungen in Mumbai.106 Darunter befinden sich auch einige Untersuchungen aus dem Bereich der Gender und Queer Studies, zum Beispiel „Why Loiter? Women and Risk on Mumbai Streets“.107 In beiden Fällen wird deutlich, wie stark verbreitet „Etiketten“ von Mumbai (Bombay) in der akademischen Beschäftigung sind, auch dann, wenn sie einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, wie es der Fall beim zuletzt genannten Titel ist.
Auch literaturwissenschaftliche Publikationen, die sich mit englischsprachigen Romanen beschäftigen, reflektieren widersprüchliche Bilder von Mumbai (Bombay). Teils werden diese Topoi und Narrative dekonstruiert, wie anhand eines Aufsatzes von Thomas Kullmann über „Rushdies Bombay“ nachvollzogen werden kann, teils werden diese aber auch in der Interpretation der Werke übernommen. Kullmann zitiert in der Einleitung seines Aufsatzes einen Reisebericht des englischen Journalisten G.W. Stevens, in dem neben den Kontrasten auch der Traumcharakter der Stadt heraufbeschworen wird.108 In einer kurzen Überblicksbeschreibung, die von drei Photographien begleitet ist, welche unter anderem das Gateway of India und das Taj Hotel zeigen, bietet Kullmann einen Blick auf die Metropole aus der Sicht des heutigen Besuchers, wobei dieser Blick durch markante Bilder, wie die prominente Postkartenansicht des Gateway of India, gelenkt wird. Der Autor erwähnt auch die „Vielfalt der Religionen Bombays“ und „die Unterschiede im Charakter einer Straße oder eines Viertels“.109 Schnell kommt er auf Rushdies literarische Beschäftigung mit der Stadt zu sprechen: „Besucher sind also mit eben jener Situation konfrontiert, die auch das große Thema der Romane Salman Rushdies ist: die chaotische Vielfalt Bombays, das Nebeneinander der Kulturen, die fortdauernde Bedeutung der Geschichte, die Schwierigkeiten, ihr zu entkommen.‍“110
Insbesondere das Bild von der multikulturellen Stadt und ihrer magischen Anziehungskraft sind gängige Topoi in verschiedenen Hindi-sprachigen Textgattungen. Thomas Kullmann verfolgt jedoch einen bestimmten Zweck, wenn er diese bekannten Zuschreibungen abruft. Im Folgenden weist er nach, wie viel Phantasie in Rushdies Bombay steckt, und entlarvt damit so manche Ortsbeschreibung als imaginär, wie hier in „Midnight’s Children“:
Rushdie nennt hier wohl einige Namen zuviel: Nachdem der Schulbus vom Marine Drive nach links abbiegt, fährt er sicher an Churchgate Station vorbei, in Richtung Flora Fountain im ‘old Fort district’, kaum jedoch an den abseits gelegenen Victoria Terminus und Crawford Market. Rushdie schmuggelt diese berühmten Namen offensichtlich wegen der Vielfalt der Bezüge ein, die sich mit ihnen verbinden […].111
Zum einen weist Kullmann darauf hin, dass diese Vorstellungen einen „reichhaltigen und konfliktträchtigen historischen und politischen Hintergrund“112 haben, wonach Rushdie in der Tradition modernistischer Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie James Joyce steht. Zum anderen stellt er fest, dass Rushdies Erzählungen vor allem in einer „mythisch-paradiesische[n] Welt“113 angesiedelt seien. Kullmann identifiziert Rushdies Bombay als konstruierte Welt zwischen Utopie und Dystopie114 und schlussfolgert, dass die Stadt selbst der Protagonist bzw. die Aussage des Romans sei, was aus mehreren Zitaten aus „The Ground Beneath Her Feet“ (2000) und „The Moor’s Last Sigh“ (1995) hervorgehe, z.B.: „Anyway, Bombay isn’t India. The British built her and the Parsis gave her her character.‍“115 Hier sei auf ein kleines Detail auf der Ebene des fiktionalen Textes hingewiesen: Das Pronomen „her“, das in der deutschen Übersetzung als „die Stadt“116 erscheint, verrät Einiges über die lokalen Einflüsse beim Weltschriftsteller Rushdie. Es bezieht sich nämlich auf den femininen Genus des Nomen baṃbaī bzw. mumbaī in Hindi und anderen indischen Neusprachen.117 Solche regionalsprachliche Einflüsse oder, in Martina Löws Gebrauch, „dominante lokale Sinnkontexte“118 sind ein Merkmal von Rushdies „chutneyfiziertem“ Sprachstil.119 Bemerkenswert ist, dass Rushdie in seinen Romanen selbst schon den erzählerischen, bildhaften Charakter der Metropole aufgreift:
Bombay was central, had been so from the moment of its creation: the bastard child of a Portuguese-English wedding, and yet the most Indian of Indian cities. In Bombay all Indias met and merged. In Bombay, too, all-India met what-was-not-India, what came across the black water to flow into our veins. […] It was an ocean of stories; we were all its narrators, and everybody talked at once.120
Dieses Zitat verdeutlicht einmal mehr, dass gängige Vorstellungen wie das der hybriden, multikulturellen Stadt Bombay in Romanen aufgegriffen oder gar erschaffen werden.121 Es verwundert daher zunächst, dass Claudia Anderson in ihrer Studie zu englischsprachigen Bombay-Romanen argumentiert: „Just as a city means different things to different people, writers always produce their own poetic transformations of a particular urban space. Therefore, if we compare various representations of the same city, it is impossible to single out a specific image and to convey a stable, coherent, and universal impression.‍“122
Dabei übersieht Anderson, dass sowohl sie selbst als auch die Autorinnen und Autoren der Romane mit Zuschreibungen wie dem „Pluralismus der Formen und der großen Vielfalt von Erfahrung“,123 der hybriden Natur und dem Mikrokosmos Indiens124 das zentrale Image von Mumbai (Bombay) als weltoffene und kosmopolitische Stadt zitieren. Sie weist ganz richtig darauf hin, dass die Mythos-Bildung bei Rushdie mit Niedergangsnarrativen durchzogen ist. Anderson bezeichnet diesen pessimistischen Tenor, wie er auch in Rohinton Mistrys (geb. 1952) „A Fine Balance“ (1997) zutage trete, als „decosmopolitanisation“.125 Allerdings diene dieser Tenor den Autoren dazu, sich der Chancen und Werte zu vergewissern, für die Mumbai (Bombay) stehe: „Although Rushdie, Mistry and Irving have fairly different backgrounds, this study has made transparent that they all believe in the same ideal: a secular, democratic society where different cultures mix and mingle in a creative way.”126
Kontrastierungen wie diese sind auch ein gebräuchliches rhetorisches Mittel in Stadtbiographien. Bereits der Begriff „Stadtbiographie“ (city biography) suggeriert, Städte bestünden nicht bloß aus leblosem Stein, Beton und Glas, sondern seien mit einer Persönlichkeit ausgestattet. Spricht daraus ein neues urbanes Ethos oder der Versuch gegen den schlechten Ruf des asiatischen Molochs anzuarbeiten, oder ist es gar Ausdruck für einen erstarkenden Bürgersinn? Martina Löw sieht zumindest in der wachsenden Anzahl von (europäischen) Stadtbiographien „ein beredtes Beispiel für die Suche nach dem Eigenen der jeweiligen Stadt.‍“127
In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist der Buchmarkt von (vorwiegend englischsprachigen) Publikationen regelrecht überschwemmt worden, in denen die Metropolen Indiens, darunter Delhi, Kalkutta, Mumbai, Allahabad, Chennai und Bangalore, in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.128 Die Mehrzahl dieser Bücher kann grob in zwei Gruppen unterteilt werden, das sind zum einen Stadtbiographien (city biographies) und zum anderen Memoiren- und Essaysammlungen (city writings). Der Sammelbegriff city writings ist hier an die Penguin-Reihe „Writings on…“ angelehnt und bezeichnet Anthologien und Reihen,129 die vor allem semi-literarische Texte in einer Länge zwischen vier bis fünfzehn Seiten enthalten, die als autobiographische Essays, Memoiren, Alltagsskizzen und Reiseberichte klassifiziert werden können, oder Anteile des jeweiligen Genres in sich vereinen. Da einige Anthologien auch (fiktive) Kurzprosa mit einschließen, verschwimmen zuweilen die Grenzen zwischen Essay-Sammlungen (city writings), Stadtbiographien (city biographies) und Stadtliteratur (city fiction/literature).
Während die Memoiren- und Essaysammlungen keiner einheitlichen Bezeichnung folgen, ist „Stadtbiographie“ im Englischen ein etablierter Begriff, unter den Bücher fallen, die die Geschichte einer Stadt aus einer populärwissenschaftlichen, journalistischen oder kulturgeschichtlichen Perspektive erzählen. Es steht zu vermuten, dass diese Bücher vor allem das einheimische (englischsprachige) Lesepublikum, aber auch Non Resident Indians und Touristen erreichen wollen, die ein kompaktes Interesse an der Stadtgeschichte haben. Vor dem Hintergrund des aktuellen Booms von Stadtbiographien stellt sich die Frage, was diese Bücher so erfolgreich macht, und welche formalen Kriterien und Erzählstrukturen zugrunde liegen, nach denen sie aufgebaut sind. Anhand Naresh Fernandes Bombay-Biographie wird deutlich, inwiefern dieses Genre populäre Bilder und Narrative zum Einsatz bringt, und als „Wahrheiten“ deklariert: „Among the truths Bombay holds to be self-evident is the fact that it is cosmopolitan.”130 Diese Wahrnehmung entspricht dem, was Martina Löw in ihrer Definition von städtischer Eigenlogik als unhinterfragte Gewissheit beschreibt: „Die Eigenlogik einer Stadt als unhinterfragte Gewissheit über diese Stadt findet sich in unterschiedlichen Ausdrucksgestalten und kann insofern anhand verschiedener Themenfelder rekonstruiert werden, zum Beispiel in den Redeweisen von Besuchern und Bewohnern, in graphischen Bildern dieser Stadt, in Schriftquellen über sie (vom Roman bis zur Reisereportage)“.131 Stadtbiographien sind wohl das Medium par excellence, um Bilder und Narrative von der Stadt zu formulieren. Durch Persönlichkeitszuschreibungen übertragen sie körperbezogene Konzepte auf die Stadt.132
Dabei hängt der Zugang und die Erzählweise stark vom Hintergrund des Autors ab. Während Naresh Fernandes in „City Adrift“ (2013) einen journalistischen Zugang mit autobiographischer Komponente wählt, fußt Gyan Prakashs „Mumbai Fables“ (2010) auf extensiver historischer Quellenrecherche. Trotz des wissenschaftlichen Niveaus macht es sich Prakash zur Aufgabe, seine Chronik unterhaltsam zu erzählen, wie schon die assoziationsreichen Kapitelüberschriften „The Colonial Gothic“ oder „Avanger on the Street“ andeuten. Dazu gehört es auch, die Stadtgeschichte, in Anekdoten verpackt, aus einer mehr oder minder autobiographischen Perspektive zu vermitteln, was der Bezeichnung Stadtbiographie eine weitere Ebene der Personalisierung hinzufügt. Diese wird zum einen durch den Autor hergestellt, der eine Verbindung zwischen seiner Biographie und der Stadthistorie herstellt, als auch durch das Stadt-(Lebe-)Wesen, das verschiedene Entwicklungsstadien durchläuft.
Fernandes Schilderung leistet durch diese Metaphorisierung einen Beitrag zur „kulturellen Realitätsbildung“.133 Zwar ruft auch er, ähnlich wie Löffler, einleitend zu jedem Kapitel utopische und dystopische Vorstellungen auf.134 Jedoch bindet er sie viel stärker an die Lebenswelt und -erfahrungen einer in Indien lebenden (englischsprachigen) Leserschaft an. Er beschreibt Mumbai (Bombay) als eine Stadt, die zwar jedem offen stehe, jedoch gleichzeitig unter der massiven Überbevölkerung leide. Das erste Kapitel, in dem er auf die überlastete Infrastruktur zu sprechen kommt, beginnt beispielsweise mit einem starken Untergangsmoment: „For months, the front pages had warned of imminent doom.‍“135 Im Zusammenhang mit Bombays Bedeutung als Umschlagplatz für den Baumwoll- und Opiumhandel sowie für das Banken- und Schiffswesen im 19. und 20. Jahrhundert kommt Fernandes auf die einzigartige Lage der Stadt zu sprechen. Die Tatsache, dass Bombay, ähnlich wie Rom, aber statt auf Hügeln auf sieben Inseln erbaut wurde, bildet das Fundament für eine „vom Tellerwäscher zum Millionär“-Erzählung, die auf die Stadt selbst gemünzt ist: „The laborious process of knitting together the islands over the centuries not only made travel across the settlement less cumbersome, it altered Bombay’s fate, transforming a malarial swamp into a global city.‍“136
Jedoch scheint die Fassade dieser Erfolgsstory, folgt man Fernandes Ausführungen, angesichts der vielfältigen Probleme der Stadt zu bröckeln. Die exklusiven Wohnkomplexe (gated communities), laut Autor Ausdruck eines extremen Individualismus, stünden in krassem Widerspruch zu den inadäquaten Wohnsituationen der überwiegenden Bevölkerung.137 Das Gateway of India versinnbildliche die Botschaft, alle Siedler, „no matter how tired or huddled, are welcome“.138 Vor diesem Hintergrund kritisiert Fernandes die Stadtmodernisierung (re-development) als Mittel der Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit vom Stadtraum.139 In einer zugespitzten Formulierung wird der Bezug zwischen dem Geist von Bombay hergestellt, symbolisiert durch das Gateway of India und durch Geisterhäuser, die den Modernisierungsplänen zum Opfer fallen: „The preposterous property rates have even squeezed out Bombay’s ghosts. The plots occupied by haunted houses have proved too valuable for them to be abandoned to the spirits.‍“140
Bereits hier zeigt sich der Einfluss von Narrativen aus regionalsprachlichen Erzählschichten. Baufällige kolonialzeitliche Häuser (banglows), in denen Gespenster hausen, ist ein in regionalsprachlichen Filmen und literarischen Werken häufig anzutreffender Topos. In dem erfolgreichen bengalischen Film Bhooter Bhabhishyat („Die Zukunft der Geister/Vergangenheit“) aus dem Jahr 2012 wird z.B. von einem Banglow in Kalkutta erzählt, das abgerissen werden soll, um auf dem Gelände eine Shopping Mall zu errichten. Allerdings hat in der Zwischenzeit eine illustre Gruppe von Gespenstern aus unterschiedlichen Epochen Schutz in dem leerstehenden Haus gesucht und verteidigt es mit Gruseltricks gegen geldgierige Immobilienhaie. Einen ähnlichen Stellenwert als ‚authentisches‘ kulturelles Symbol141 bzw. als Erinnerungsort schreiben zeitgenössische Hindi- und Urdu-Schriftsteller alten herrschaftlichen Häusern, banglows und havelis, zu. Naiyer Masud (1936-2017) und Sara Rai (geb. 1956) verwandeln verwilderte Grundstücke und leerstehende Häuser zu Schauplätzen, die eine Verbindung zur Vergangenheit der Stadt herstellen.142 Das historische Erbe der Stadt wird bei Rai etwa als kostbares Gut geschätzt, das vor kurzsichtiger Modernisierungswut bewahrt werden muss.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass Literatur, Film und Stadtbiographien als Medien kollektiver, ja auch nostalgischer, Erinnerung dienen und zugleich ein urbanes Ethos vermitteln. So richtet sich Fernandes Ausblick in der Form eines Appells an alle Bewohner der Stadt: „The re-islanding of Mumbai does not bode well for its future. A city can flourish only if it has common ground to make common cause.‍“143 Den Prozess einer erneuten Verinselung, den er der Stadt attestiert, führt Fernandes auf ein verloren gegangenes demokratisches Bewusstsein, verarmte soziale Werte und die „pay-as-you-go“-Einstellung der Mittelklassen zurück.144 Mehr noch, seine Kritik dürfte auch als Seitenhieb auf den Vision-Mumbai Bericht von McKinsey (2003) verstanden werden, in dem empfohlen wird, „islands of excellence in world-class housing and commercial complexes“145 zu schaffen.
Warum macht Fernandes diese Metapher zum zentralen Topoi für seine Stadtbiographie? Fernandes Einschätzung ist Teil einer Deutung, die viele Autorinnen und Autoren von Stadtbiographien und city writings über Mumbai (Bombay) gleichermaßen teilen. Sie basiert auf der Erzählung vom Niedergang der urbs prima in Indis, die mit einem Set von Attributen einhergeht, über die weitgehend Übereinstimmung zu herrschen scheint. In der Anthologie „Mumbai. City of Dreams“ bezeichnet Harsh Sethi die Metropole als Bastion der Zivilgesellschaft, wenn er von „civic consciousness and pride“146 spricht. Ein weiteres stereotypes Bild ist das der „most vibrant, multicultural and welcoming city“.147 Die Nachnamen der Autorinnen und Autoren des Bandes unterstreichen zusätzlich den pluralistischen Charakter der Stadt, womit der Personalisierung Mumbais eine weitere Bedeutungsebene hinzugefügt wird. Sie haben wie de Cunha katholisch-portugiesische Wurzeln, gehören der Gemeinschaft der Parsen an (Guzdan und Godrej), stammen – dem Namen nach zu urteilen – ursprünglich aus Gujarat oder dem Punjab (Mehta, Sethi), oder sind gar britische Staatsbürger (Loyd).
Andererseits diagnostizieren viele der Autorinnen und Autoren eben diesem „spirit of Bombay“ einen schleichenden Verfall:
It is not as if the ‘decline’ of Bombay, now Mumbai – the growth of crime and resultant insecurity; an increasing ghettoization of different communities […]; the erosion of its once-famed tolerance and welcoming spirit – can be traced only primarily to the rise of the Shiv Sena. Many other factors – demographic, economic and political – have come together to transform this metropolis, possibly to the worse.148
Interessanterweise werden diese pessimistischen Beobachtungen rhetorisch in das Appell an die Bürger Mumbais überführt, für die Werte der Stadt einzutreten: „[a]ll Mumbaikars […] have a responsibility to preserve and nourish Bombay’s big heart.‍“149
Auch Fernandes Stadtbiographie und der Mumbai-Band aus der von Malvika Singh herausgegebenen Seminar-Reihe zitieren populäre Topoi und Narrative wie das vom Untergang des kosmopolitischen Stadtcharakters. Das ambivalente Stadtbild Mumbais (Bombays) erfährt in den Stadtbiographien allerdings eine stärkere inhaltliche Ausfüllung. Die Janusköpfigkeit der Metropole gewinnt an Kontur, Allgemeinplätze wie die der Überbevölkerung werden stärker in lebensweltliche Zusammenhänge gestellt und historisch erklärt (Insellage und Landgewinnungsmaßnahmen, Stadtmodernisierung und Grundstücksspekulation). Die Rede vom Niedergang der kosmopolitischen Stadtkultur gewinnt in regionalsprachlichen Textschichten mit der Einbindung mythologischer Untergangsszenarien (kali yuga), urbanen Legenden aus der Populärkultur, wie sie in Filmen, Liedern und Gedichten vorkommen, als auch individuellen Erfahrungen vom Aufstieg und Scheitern in der Stadt der Illusion (māyāvī śahar) weiter an Kontur und Schärfe.
1.3 Traum und Illusion: Die māyāvī śahar
In einer weiteren sprachlichen und geographischen Engführung des Blicks auf die Darstellung Mumbais (Bombays) werden nun nicht-fiktionale Begleittexte in Hindi vorgestellt.150 Ihre Einbindung ist für diese Untersuchung deshalb gewinnbringend, da Paratexte erstens die Brücke zwischen ‚global‘ kursierenden und ‚lokalen‘, regionalsprachlichen Stadtbildern in Hindi-Texten bilden, sie zweitens individuelle Erlebnisse und Erfahrungen des Autors mit Stadt und Urbanität sowie kulturelle Wertediskurse abbilden und drittens Auskunft darüber geben, wie die Schriftsteller das Verhältnis von Literatur und Welt bewerten, das heißt, welche Funktion sie der fiktionalen Darstellung von Stadt zuschreiben: „Als Textrahmen stehen sie zwischen einem Text und seinem Umfeld und vermitteln zwischen beiden. Paratexte verraten viel über Herkunft, Intention, Leserschaft und Kontext der Texte, die sie umrahmen, und erschließen allgemein gesprochen ihre soziale Dimension.‍“151
Barsati Kahar, der selbst 1975 nach Bombay gekommen war und am dortigen Khalsa College Hindi unterrichtet hat, erläutert im Vorwort zu seiner Doktorarbeit, das mit „Was noch zu sagen wäre“152 überschrieben ist, sein persönliches Interesse an der Darstellung Bombays bzw. Mumbais im Hindi-Roman seit 1950 (bis 1999). Voller Zuneigung sagt er über seine Wahlheimat: „Diese Stadt hat mich nicht nur zum Kämpfen animiert, sondern ich habe in der Zeit hier auch die Kunst zu leben gelernt.‍“153 Die Motivation für seine literarische Beschäftigung mit der Stadt begründet Kahar mit der Dankbarkeit, die er Bombay gegenüber hegt: „Ich habe in dieser Großstadt bei Null angefangen. Aber kraft unermüdlichen Ringens und Mühens habe ich es doch weit gebracht. Ich bin dieser Stadt, die mir jede mögliche Hilfe bot und mich angespornt hat, weiterzukommen, zu großem Dank verpflichtet.‍“154
Der Autor macht sowohl im Vorwort als auch im ersten Kapitel keinen Hehl aus seiner grundweg positiven Einstellung gegenüber Bombay. Allerdings soll diese ‚authentische‘ Perspektive nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem kosmopolitischen Bekenntnis um ein verbreitetes Selbstverständnis vieler Bombayiten handelt, die sich als Bestandteil einer weltoffenen und grundliberalen Metropole ansehen, wie es z. B. schon in der oben vorgestellten Stadtbiographie von Naresh Fernandes angeklungen ist. Kahar beginnt das erste Kapitel155 mit dem Satz: „Mumbai gilt nicht nur als eine bedeutende Stadt in Indien, sondern auf der ganzen Welt.‍“156 Neben dieser schon bekannten Zuschreibung der „Weltstadt“ bedient Kahar weitere gängige Stereotype, die auch in Essaysammlungen und Stadtbiographien über Bombay vorkommen. Besonders prominent ist das Bild von der Stadt der Träume, die jeden Fremden willkommen heißt, und in der jeder es schaffen kann, sofern er sich redlich bemüht: „Mumbai ist die Stadt der Träume, die Stadt, um Träume zu verwirklichen. Hier hätscheln die Menschen täglich ihre Träume, sie werden verwirklicht, aber auch zerstört.‍“157 Das Aufstiegsnarrativ taucht, wie schon zuvor in personalisierter Form im Vorwort, in verallgemeinerter Form noch mehrmals im ersten Kapitel auf: „Diese Stadt vereinigt alles in sich, egal ob eigen oder fremd. Wer sich redlich bemüht, wird es hier eines Tages ganz weit bringen. Bummelfritzen und Faulenzer schmeißt die Stadt hochkant raus.‍“158 Bemerkenswert ist die verkörperte Darstellung Mumbais. Bei Kahar tritt deutlich und direkt die Vorstellung vom städtischen Habitus zutage. Natürlich helfen solche klischeehaften, teils schockierenden Zuschreibungen, das besondere „Wesen“ dieser Metropole zu erfassen. Kahar nimmt im Folgenden noch Feinjustierungen vor und beschreibt auch die dunklen Seiten Mumbais in aller Anschaulichkeit. Wie auch die Stadtbiographen spricht Kahar den Wohnungsmangel, die Umweltverpestung und „asoziale Tendenzen“ (asāmājik gatividhiyāṁ) an, die innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte, also seit Beginn der 1990er, drastisch zugenommen hätten. Er bezieht sich weiter auf die Auswüchse der Kriminalität (Bandenkriege, Mord und Raubüberfälle) und gewaltsame Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen (communal riots), die in das kollektive Gedächtnis eingegangen seien.159 Dennoch gibt Kahar trotz dieser Entwicklungen seine optimistische Haltung gegenüber Mumbai zu keiner Zeit auf: „Mumbais Schönheit ist mit einem Flicken Hässlichkeit versehen.‍“160 Mit anderen Worten: Der Kern der Stadt ist gut, nur hier und da ist der Lack ab – ein Zeichen für Echtheit. Auch an dieser Stelle zitiert er ein gebräuchliches Markenzeichen, das auf der Kontrastierung von Mythos und Moloch gründet: „Auf der einen Seite riesige Hochhäuser und auf der anderen der größte Slum [der Welt], Dharavi. Trotzdem tut das der Anziehung, die Mumbai auf die Menschen ausübt, keinen Abbruch. Jeder einzelne hier liebt Mumbai, ja liebt es von ganzem Herzen.‍“161
Im Folgenden fasst Kahar dieses erste einleitende Kapitel zusammen: „Basierend auf der vorliegenden kritischen Erörterung kann man feststellen, dass der Charakter dieser Metropole im Vergleich zu anderen Metropolen mannigfaltig war und ist. In den anderen Megastädten (Kalkutta, Chennai, Delhi) tritt die lokale Färbung stärker hervor.‍“162 In den anderen Großstädten, so Kahar, dominiere ein typischer Lokalkolorit (sthānik raṃg), anhand dessen man die jeweilige Stadt identifizieren könne. In Mumbai hingegen beschwerten sich die „einheimischen“ Marathi-Sprecher darüber, dass die kulturellen Einflüsse aus den anderen indischen Bundesstaaten ihre eigene Kultur dominierten.163 Der Autor spitzt das auf die folgende „Wahrheit“ (sac) zu: „Es ist nicht zu leugnen: Mumbai hat den Charakter eines Klein-Indiens.‍“164
Auch gewinnt die ambivalente Wahrnehmung der māyāvī śahar, der trügerischen Stadt, auf der regionalsprachlichen Ebene weiter an Kontur und Schärfe. Ähnlich wie in dem anfangs zitierten Kapoor-Film Shree 420 tritt Bombay mal als fürsorgliche, mal als grausame Geliebte in Erscheinung, deren Anziehungskraft über die harte Realität hinwegtäuscht. Diese Vorstellung ist eine interessante Mischung aus zwei regionalsprachlichen Traditionen: Während māyā (Skt. „Schein“) ein Konzept aus der indischen Philosophie zitiert, das unter anderem den Schein der materiellen Welt (prakr̥ti) bezeichnet, ist die grausame, ablehnende Geliebte ein wiederkehrendes Motiv in der Urdu-Lyrik des 18. Jahrhunderts.165 Allgemeinplätze wie die māyāvī śahar werden in den Hindi-sprachigen Vorworten mit Einzelschicksalen illustriert. Im Vorwort zur Anthologie „Bombay-1“ (baṃbaī-1, 1999),166 die ursprünglich als erste von zwei Bänden konzipiert war, zitiert der Herausgeber Suraj Prakash (geb. 1952) zum Beispiel den „ungekrönten König“ der Fimwelt, Bhagwan Dada (1913-2005), der über Nacht seinen gesamten Reichtum verlor, und Haji Mastan (1926-1994), der sich vom Kuli zum Boss der Unterwelt hochgearbeitet hatte.167 Zitate aus bekannten Filmsongs wie Muhammad Rafis beliebtem Lied yah hai bambaī merī jān (1956) und populäre Legenden werden für den Leser zu einem dichten Assoziationsteppich verwoben.
Der Herausgeber wählt übrigens genau jenes Gedicht (naz̤m) des Urdu-Dichters Ali Sardar Jafri (1913-2000) als Epigraph, das auch Kahar seinem ersten Kapitel über Mumbais Charakteristika voranstellt:
Ich möchte mal wissen,
was deine kühlen Gewölbe an sich haben
Bombay,
dass man „Awadh am Abend,
Banaras am Morgen“
für dich verlassen hat und
in deinen Straßen geschlafen,
in deinem Regen gebadet hat
und dich trotzdem, oh Bombay,
nie wieder loslassen will…168
Dieses Gedicht greift dasselbe urbane Ethos auf, das bereits bei Kahar angeklungen ist. In konzentrierter Form drückt es die zutiefst emotionale, annähernd erotische Beziehung des Sprechers zu Mumbai (Bombay) aus. Auch Suraj Prakash beschwört den ambivalenten Mythos der Stadt herauf. Das Vorwort, das mit „Die Stadt zerplatzter Träume, wunder Füße und guten Mutes: Bombay“ überschrieben ist, ruft Bilder und Inkarnationen der Metropole ab, die uns bereits in den Stadtbiographien und city writings sowie in Kahars Studie über Bombay-Romane begegnet sind. Einleitend verweist Prakash auf die Vielgesichtigkeit der Stadt: „Bombai, Bombay, Mumbai, Mumbay... Sie hat zig mal so viele Gesichter wie Namen, diese Künstlerin der Illusion: Bombay.‍“169 Die Stadt, die allen und niemandem gehöre, halte für jeden Menschen, so Prakash, eine andere Bedeutung bereit.170 Im Folgenden kommt der Herausgeber explizit auf die berauschende Anziehungskraft zu sprechen, die schon in Jafris Gedicht besungen wird:
Mumbai ruft alle dazu auf, sich zu bemühen, doch nicht alle lässt sie einen Teil von sich werden. Bombay ist barsch, Bombay bringt einen zum Weinen, Bombay macht nervös und Bombay quält. Und trotzdem hat sie diese unbeschreibliche Anziehungskraft, die einen nicht mehr gehen lässt. Weder den erfolgreichen noch den erfolglosen Mann. Jemand hat mal gesagt, dass beide hier bleiben, wenn sie erst einmal da sind, und auch dazu verdammt sind hier zu leben und zu sterben... Alle Wege führen nach Bombay, aber keiner wieder heraus.171
Die personifizierte Stadt erscheint hier durch und durch ambivalent. Der Grat zwischen Erfolg und Scheitern ist schmal. Prakash spitzt es in einer filmreifen Wendung zu:
Das heißt dann also nichts anderes als: Je größer der Traum, desto größer der Sprung und desto größer die Welt unter Ihren Füßen. Je größer der Traum, desto größer aber auch die Splitter, die sich ins Fleisch bohren, dass es nur so blutet, sollte er in Scherben gehen.172
Doch auch in den misslichsten Lagen erweist sich Bombay als fürsorgliche Mutter, die ihr hilfloses Kind in den Arm nimmt und dem Obdachlosen ein Heim bietet:
Selbst wer nichts hat außer Bombay, der muss nicht mit leerem Magen schlafen gehen. Bombay wird ihm in ihren nächtlichen Armen Schutz bieten und ihm wenigstens den halben Bauch füllen. Auch wer kein Dach über dem Kopf hat, den nimmt Bombay zu sich.173
Auch zieht sich die Rede vom Aufstiegsversprechen durch das Vorwort hindurch. In Prakashs Sinne müsste es wohl „Vom Bürgersteig zum Filmset“ heißen. Neben allgemeinen populären Bildern von Bombay (Glamourwelt, Show-Business, Unterwelt und kosmopolitischer Charme) bezieht sich Prakash auf Motive, Orte oder Schicksale, die sowohl dem realen Leben als auch den im Band abgedruckten Kurzgeschichten entstammen. Zentrale Orte wie der local train, den Prakash als Herzschlag der Stadt bezeichnet, sowie die Bar und der Bürgersteig, wo viele den Neuanfang in der Stadt wagen, sind zentrale Schauplätze in den Geschichten.174 Prakash verankert seine Beschreibung in lokalen Lebenswelten und eröffnet ein breites Spektrum an Schicksalen und Erfahrungen, die zwischen Aufstiegsglück und krachendem Scheitern jenen Mythos erschaffen, der das Bild von Mumbai (Bombay) so entscheidend prägt. Mit teils drastischen Ausführungen aus der Perspektive des Zuzüglers verfolgen Kahar und Prakash gewiss auch didaktische Ziele. Utopische, darunter auch dystopische, Darstellungen sprechen dafür, dass die Paratexte dem Leser als Handreichung dienen sollen, um Hoffnungen und Ängste in Bezug auf großstädtisches Leben zu reflektieren, aber auch, um die Unterschiede zwischen modernen und traditionellen Werteordnungen zu erklären.
Auffällig ist, dass der Einfluss kulturpessimistischer Sichtweisen auf städtisches Leben in dem Maße zunimmt, je weiter sich die Autoren von der Textstadt Mumbai (Bombay) entfernen und die literarische Beschäftigung mit Urbanisierung allgemein betrachten.
1.4 Die Stadt im Kali Yuga: Urbanisierung und Werteverfall
Ein Blick in fünf Hindi-sprachige literaturwissenschaftliche Studien, die Hindi-Stadtromane der 1970er bis 1990er Jahre untersuchen, zeugen einerseits vom Einfluss stadtkritischer Stimmen in den Werken des sozialkritischen Realismus (siehe auch Kapitel 3.1). Andererseits offenbart er auch den konservativ-traditionalistisch geprägten Interpretationsrahmen, den Wissenschaftler wie Ashok Bachulkar auf ihren Untersuchungsgegenstand anwenden, um die indische Urbanisierung nach dem Muster der mythologischen Niedergangserzählung vom kali yuga, dem letzten großen Zeitalter, zu interpretieren. Das zivilisationskritische Ethos, das bei Bachulkar in krassem Widerspruch etwa zu den kosmopolitischen Bombay-Bildern bei Kahar steht, ruft uns auch in Erinnerung, dass Autoren und -Kritiker die Werke der Hindi-Literatur in die Nähe zum nationalen Projekt rücken und eine starke „moralisch-normative Ausrichtung“ aufweisen, die sich Francesca Orsini zufolge bereits in den 1930er Jahren ausgebildet hatte.175 Betrachtet man Bachulkars Studie im größeren literaturgeschichtlichen Kontext, schreibt sie sogar eine Tradition kritischer Bombay-Texte des 19. Jahrhunderts fort, in denen Migranten aus dem Kernland des heutigen Maharashtra die Metropole als Hort der Dekadenz und des Werteverfalls beschreiben. Eine solche ablehnende Haltung gegenüber der Großstadt war im Übrigen bis weit ins 20. Jahrhundert unter sehr vielen indischen Schriftstellern verbreitet. In der bengalischen Literatur etwa galt die damalige Hauptstadt Britisch Indiens, Kalkutta, als mindestens fremdartig, wenn nicht gar als Strafe der Geschichte, und über sie zu schreiben, kam einem Verrat an dem ‚genuin‘ Indischen (dem Dorf) gleich.176
Wie stark der Einfluss gerade von Gandhis Anti-Stadt-Propaganda, der hier nachzuhallen scheint, auf die Hindi-Literatur(kritik) nach wie vor ist, veranschaulichen wissenschaftliche Studien zum Stadtroman in Hindi. Die fünf Studien erschienen im Zeitraum zwischen 1981 und 2012. Bereits die Titel der vorliegenden Arbeiten deuten darauf hin, dass die Autorinnen und Autoren die Großstadt in erster Linie als Schauplatz (pr̥ṣṭh'bhūmī) verstehen: „Urbanisierung und der Hindi-Roman“ von Kshama Goswami (1981), „Die Großstadt im modernen Hindi-Roman“ von Kusum Ansal (1993), Ashok Bachulkars „Die Wahrnehmung der Großstadt im Hindi-Roman“ (2006), Priya Nayars „Der Hindi-Roman nach 1960 und die urbane Wahrnehmung“ (2009) und „Die Großstadt im Spiegel von Hindi-Romanen (unter besonderer Berücksichtigung von Mumbai)“ von Barsati J. Kahar (2012).177
Die ersten Kapitel enthalten eine Einführung in die Geschichte der Urbanisierung in Indien. Bemerkenswert daran ist, dass die Analyse der Werke nicht erzähltheoretischen Fragestellungen folgt, sondern soziologischen.178 Zentrale Gesichtspunkte, an denen Urbanisierung und Stadtleben festgemacht werden und die anhand der Romane untersucht werden, sind die sich wandelnden Beziehungen zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Familie (angefangen bei Zweierbeziehungen bis hin zur Großfamilie),179 kaputte Familien (khaṇḍit parivār) und der Verfall gesellschaftlicher Werte.180 In diesem Zusammenhang werden auch Beispiele großstädtischer Lebensformen wie die „wilde Ehe“, Gleichgeschlechtlichkeit und Prostitution angeführt.181 Goswami, Ansal und Bachulkar begründen die Vernachlässigung der Kindererziehung unter anderem mit der Emanzipation der Frau.182 Weitere Themenbereiche sind die urbane Klassengesellschaft,183 neue Arbeitsbeziehungen,184 Einsamkeit und psychische Probleme.185
Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen also gesellschaftliche und zwischenmenschliche Beziehungen, die besonders die negativen Auswirkungen und zersetzenden Tendenzen des modernen Stadtlebens zu spüren bekommen. Zwar werden auch die Chancen des Stadtlebens aufgeführt, etwa das Aufweichen der Kastengrenzen, die individuellen Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten, doch rücken diese angesichts der vielfältigen, oben genannten Probleme (samasyāeṁ) deutlich in den Hintergrund. Stellenweise verschwimmt bei den Analysen die Grenze zwischen einer textbasierten Literaturstudie und einer verallgemeinernden Gesellschaftskritik, die mit Literaturbeispielen unterfüttert ist.186 Traditionalistische Vorstellungen vermischen sich bei Bachulkar mit einer undifferenzierten Zivilisationskritik, wie ein Vergleich der dörflichen und städtischen Lebensformen (S. 29-36)187 zeigt:
In der Dorfgesellschaft haben die Männer das Sagen. Frauen haben keine vergleichbaren Machtbefugnisse. Wenn es zu einem Streit zwischen Mann und Frau kommt, selbst wenn sie sich prügeln, vertragen sie sich am nächsten Morgen auch wieder. Das ist unser Beitrag zur Institution der Ehe. […] In den Großstädten haben die Menschen den Glauben an die Ehe verloren. Wenn das Kind geboren ist, übertragen die Eltern dem Kindermädchen die Verantwortung und gehen außer Hauses ihrer Arbeit nach oder frönen ihren Hobbys.
Die essentialistisch anmutenden Gegenüberstellungen von Stadt- und Landleben gehen häufig mit moralischen Urteilen einher: „Wenn jemand im Dorf etwas Schlechtes tut, muss er die harsche Kritik des ganzen Dorfes einstecken. Wenn jemand eine gute Tat vollbringt, wird es sich keiner nehmen lassen, diesem Dörfler auf die Schulter zu klopfen. Hier herrscht kollektive Einheit.‍“188 Solche Zitate verdeutlichen, dass Bachulkars Untersuchung stark von traditionalistischen Vorstellungen durchzogen ist, in denen der großstädtische Lebenswandel vor allem durch Selbstsucht und einen alle Bereiche erfassenden Werte- und Kulturverfall gekennzeichnet ist.
Trotz der analytischen Schwächen bietet uns Bachulkars Arbeit über die Hindi-Großstadtliteratur aus den 1980er und 1990er Jahren wichtige Einblicke in populäre Vorstellungen über die Geschichte der Urbanisierung in Indien selbst. Hier spielt die mythologische Vorstellung vom „goldenen Zeitalter“ eine Rolle, dem in nachfolgenden Epochen ein gradueller Niedergang beschieden war. Das Verfallsnarrativ, das uns schon in den anglophonen Stadtbiographien begegnet ist, bezieht sich hier weniger auf einen spezifischen Stadtcharakter, sondern umfassender auf die moderne (Stadt-) Gesellschaft allgemein.
Mit der Betonung des Werteverfalls und der zahlreichen negativen Folgen der Urbanisierung greifen Bachulkar und andere Autoren mythische Vorstellungen vom kaliyuga-Zeitalter auf. Das Zeitalter des Dämonen Kali189 gilt in der hinduistischen Zeitrechnung als das letzte der vier großen Weltalter (yuga), das die Welt in Chaos und Gewalt (adharma) stürzt und nach 4,32 Millionen Jahren, einem vollendeten yuga-Zyklus, das Weltende einleitet.190 Es kündige sich „in gesellschaftlichen Missständen, wie Überbevölkerung, schlechter Gesetzgebung, Zunahme der Kriminalität usw., als auch in Veränderungen in der Natur wie Dürrekatastrophen, Überschwemmungen oder Missgeburten“191 an. Als sichere Zeichen für einen drohenden Untergang gelten mangelnde Solidarität, das Zerbrechen der Familienbanden, Ehebruch, Vergnügungssucht und Freizügigkeit der Frauen. Laut Beschreibungen im Bhāgavatapurāṇa und Brahmavaivartapurāṇa ließen sich die Männer sowohl von ihren Frauen als auch von den Verwandten der Frauen dominieren und degenerierten zu Weiberknechten.192 Bachulkar orientiert sich im oben skizzierten (mytho-) historischen Abriss an dieser Vorstellung vom goldenen Zeitalter und dem graduellen Werteverfall in den folgenden Epochen, der in der Zeit nach der Unabhängigkeit vorerst seinen Höhepunkt erreicht.193
Insgesamt deutet der pessimistische Blick auf die Großstadt und ihre literarische Darstellung auf eine konservative und zivilisationskritische Perspektive des Autors hin. Dies wird auf zwei Ebenen deutlich, auf einer inhaltlichen und einer paratextuellen. Auf der inhaltlichen Ebene sind die Kapiteleinteilung und die thematischen Schwerpunktsetzungen ein Indiz für eine deterministische Deutung von Stadtliteratur als Zeugnis für den kulturellen Niedergang im Zeitalter der Moderne. Bereits im einleitenden Kapitel über die Geschichte der Urbanisierung in Indien seit der Induskultur konstruiert der Autor eine lineare Geschichtstradition, bei der die Blütezeit der indischen Städte mit der der alten hinduistischen Dynastien identisch ist.194 Erst mit der Ankunft fremder Eroberer naht das Ende dieser goldenen Epoche, und es deutet sich ein Untergangsszenario für die städtische Kultur an. Bachulkar stützt sich bei der Beschreibung der „klassischen“ Perioden auf mytho-historische Quellen wie das Rāmāyaṇa und Mahābhārata.195 Die vormodernen Zeiten wie die Maurya-Periode oder die Zeit von Harsha bezeichnet Bachulkar als „Kulturen“ bzw. „Zivilisationen“ (sabhyatās). Die 900-jährige Geschichte muslimischen Einflusses in Indien, angefangen bei den Eroberungsfeldzügen von Mahmud Ghazni im 10. Jahrhundert, handelt Bachulkar im Teil „Mittelalter“ (madhyayug) ab.196 Er behauptet, dass mit dem Niedergang hinduistischer Königreiche auch der Niedergang der indischen Städte begann.197 Ein retardierendes Moment vor dem endgültigen Untergang bildeten nur noch die Moghul-Herrscher Akbar und Shahjahan, die den „alten Städten“ zu einem letzten Glanz verhalfen. Einen scharfen Einschnitt in diese organische Entwicklung der Stadtkultur in Indien, wie der Autor sie beschreibt, bildet der Beginn der britischen Kolonialzeit (briṭiś kāl).198
Auch auf der paratextuellen Ebene wird deutlich, dass es Bachulkar in erster Linie um eine Gesellschaftskritik geht, der die besprochenen Hindi-Stadtromane als Beweisgrundlage dienen. Sowohl das Vorwort als auch der Klappentext verdeutlichen die Zielsetzung der Publikation, die großstädtischen Lebensumstände anhand von Romanen zu illustrieren:
Der Autor erklärt den Entwicklungsprozess der Urbanisierung, indem er die großstädtische Gesellschaft, Werteordnung, Kultur, Politik und Ökonomie in den Fokus rückt und repräsentative Werke von etwa sechszehn wichtigen Romanschriftstellern der 1990er Jahre, die hauptsächlich das großstädtische Leben beschreiben, studiert und einer kritischen, vorurteilsfreien Betrachtung unterzieht.199
Über die Gründe für die pessimistischen, gar dystopischen Sichtweisen sowohl auf Stadt und Urbanisierung als auch auf deren literarische Darstellung lässt sich nur spekulieren. Zum einen bieten der biographische Hintergrund des Autors und sein akademisches Umfeld einen Schlüssel zum Verständnis. Ashok Bachulkar wuchs im Dorf Kagani im Bundeststaat Maharashtra auf. In einem weiteren Buch, das er auf Marathi verfasst und in dem er den „Niedergang der dörflichen Ordnung“ zur Zeit des Marathenreichs (1600-1818) untersucht, weist er sich einmal mehr als Experte für historische Verfallsszenarien aus. Sein Interesse an nationalen Themen ist möglicherweise an der Shivaji University in Kolhapur (Maharashtra) geweckt worden. Die Universität ist nach dem Feldherrn benannt, unter dessen Führung sich die Marathen seit dem 17. Jahrhundert der Vorherrschaft der muslimischen Moghulherrscher widersetzten und das Großreich Anfang des 19. Jahhrhunderts empfindlich schwächten. Von Maharashtra gingen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse für hindu-nationalistische Erneuerungsbewegungen aus. Gruppierungen und Parteien wie die 1966 gegründete Shiv Sena, „Śiva[jī]s Armee“, ist dafür bekannt, eine anti-pluralistische Politik zu betreiben.200
Inwieweit die Universität von Kolhapur sich mit der Politik der Shiv Sena identifiziert, kann hier nicht geklärt werden. Gewiss wäre es falsch, von der Benennung einer Universität nach einem Volkshelden automatisch auf eine hindunationalistische Positionierung zu schließen. Es soll hier auch nicht darum gehen, Bachulkars Verständnis und Lesart von Stadttexten zu diskreditieren. Schließlich weist der Autor viele der aufgegriffenen Probleme der modernen Stadtgesellschaft (Atomisierung der Gesellschaft, Einsamkeit, Prostitution, Gewalt, Armut, Korruption etc.) in den besprochenen Werken – wenn auch selektiv – mit Zitaten nach. Die Werke der Hindi-Schriftsteller und -Schriftstellerinnen der post-1960er (sāṭhottar) Generation, die er für seine Untersuchung heranzieht, hatten sich schließlich bewusst von der individualistischen psychologischen Perspektive der Vorgängergeneration der Nayī Kahānī abgewandt und kritisch Stellung zu den bestehenden Verhältnissen bezogen (Kapitel 3.1), worin ein Grund für die zivilisationskritischen Sichtweisen liegen dürfte. Ungeachtet dessen steht Bachulkar in seiner Auffassung von Hindi-Literatur selbst in der Tradition des sozialkritischen Realismus, der Kunst eine gesellschaftsbildende Funktion zuschreibt.201
Doch die Bewertung von Urbanität und urbaner Wahrnehmung, wie sie auch in der zeitgenössischen Hindi-sprachigen Literatur und -Literaturkritik zutage tritt, ist stark von einer kulturpessimistischen bzw. traditionalistischen Sichtweise geprägt. Diese lenkt auch Bachulkars Erkenntnisinteresse, wenn er etwa auf Basis der literarischen Beispiele pauschale Aussagen über das Stadtleben trifft, welches er immer im Gegensatz zum „heilen“ Dorfleben konzipiert. Anders als bei den Mumbai-Schilderungen von Kahar und Prakash, die von einem überwiegend stadtfreundlichen Ethos getragen sind, fallen Betrachtungen von Urbanität oder Stadt in den Hindi-Studien allgemein düster aus. Diese Diskrepanz ist mit dem Blickwinkel des Betrachters zu erklären: Jemand wie Kahar, der der Stadt aufgrund seiner Lebensgeschichte verbunden ist, nimmt die Stadt eher in ihrer Eigenlogik bzw. als Persönlichkeit mit zwei Gesichtern wahr. Jemandem wie Bachulkar, der von außen auf Stadt(literatur) blickt, scheinen eher die Unterschiede zur traditionellen, dörflichen Gesellschaftsordnung aufzufallen.
In den beiden Sichtweisen zeigt sich, dass die Rezeption von Hindi-Stadtliteratur ein umstrittenes Feld ist: Auf der einen Seite spricht aus ihr ein weltoffenes, liberales Ethos, das die intergrative Kraft der Metropole nach dem Motto „If you can make it here, you can make it anywhere“ betont. Dem gegenüber stehen kulturpessimistische, konservative Sichtweisen, welche die negativen Auswirkungen von Urbanisierung und Moderne hervorheben, weil viele Autorinnen und Autoren sie mit gesellschaftlichem Werteverfall in Verbindung bringen. Hindi-Literatur ist somit nicht nur eine wichtige Ressource für die Reflexion und Produktion von Stadtbildern. Die Beschäftigung mit ihr hat auch eine visionäre politische Funktion: Sie ist ein kritischer Diskursraum, in der sich die Befürworter eines individuellen, kosmpopolitischen Lebensstils denen eines von Überfremdungsängsten geprägten Wertekonservatismus gegenüberstehen.
1.5 Zwischenfazit
Die in diesem Kapitel vorgenommenen Probebohrungen in verschiedenen Textsorten haben gezeigt, dass populäre Sprachbilder und Redeweisen alle textlichen Konstruktions- und Reflexionsebenen durchdringen: Die Stadt erzeugt Narrative und umgekehrt erzeugen Narrative auch das Bild der Stadt. Dabei nehmen Texte über Mumbai (Bombay) ortspezifische Wahrnehmungsmuster auf und sind zugleich in einen überregionalen Bezugsrahmen eingebettet. So werden populäre Vorstellungen wie die von der hybriden kosmopolitischen Metropole in unterschiedlichen Texten konstruiert. Jedoch fällt auf, dass Stadtbilder wie das von der modernen, weltbürgerlichen urbs prima in Indis oder personifizierte Darstellungen in regionalsprachlichen Texten in Form und Ausgestaltung ausgeprägter sind als in global verbreiteten Texten über Mumbai (Bombay). Zum Beispiel wird der Topos der Traumstadt in vielen englischsprachigen Texten oft nur zitiert, um Vorstellungen von der schillernden asiatischen Megastadt zu wecken, die trotz zahlreicher Probleme im Grunde einen liberalen, kosmopolitischen, ja „westlich-modernen“ Charakter hat. Je weiter man aber in Hindi-sprachige Schichten vordringt, gewinnt dieser Topos an Kontur, Kontrast und Dramatik hinsichtlich der Beschreibung alltäglicher Erfahrungswelten einheimischer Leserinnen und Leser. Durch die Perspektive des Migranten und/oder Angehörigen der unteren Mittelschicht, der mit dem Leben in der Metropole große Aufstiegserwartungen verbindet, reflektieren Autorinnen und Autoren persönliche Erlebnisse, Hoffnungen, Erwartungen und Ängste gegenüber einer bestimmten Stadt und dem modernen Lebensstil, für den sie steht. Dabei wird auch deutlich, wie produktiv ältere regionalsprachliche Erzähltraditionen und Denkfiguren (māyāvī śahar, kali yuga) an dem Prozess mitwirken, „zusammenhängende […] Wissensbestände und Ausdrucksformen zu spezifische[n] Sinnprovenienzen202 zu einem Stadtbild zu verdichten. Regionalsprachliche Narrative über individuelle Schicksale, die in Verbindung mit realen Schauplätzen und daran geknüpften Erfahrungen und Gefühlen vom schmalen Grat zwischen Chance und Scheitern berichten, verleihen diesem Bild Tiefe.
Beim Vergleich englischsprachiger und regionalsprachlicher Stadtbilder besteht gewiss die Gefahr, in die von Rashmi Sadana beschriebene Authentizitätsfalle zu tappen, der zufolge regionalsprachliche Werke durch ihre provinzielle Verwurzelung näher am „echten“ Leben dran wären als englischsprachige, die aus der Sicht einer urbanen Elite romantisierende Bilder von der hybriden Metropole projizierten.203 Gleichwohl machen die Beispiele deutlich, dass es durchaus Unterschiede in der Darstellung gibt, die sich in der teils pathetischen, teils krassen Ästhetik der Bildsprache niederschlagen. Sie lassen vermuten, dass eine Hindi-sprachige Leserschaft durchaus andere Erfahrungen mit und Empfindungen gegenüber der Stadt und der Literatur, die sich mit ihr beschäftigt, teilt, als die englischsprachiger Stadtbiographien oder -romane. Welche urbanen Erfahrungen und Wahrnehmungen (jenseits populärer Klischees) Hindi-Autoren ganz konkret in ihren Werken transportieren, und mit welchen erzählerischen Mitteln sie diese in den Raum der Textstadt übertragen, soll im Folgenden erörtert werden.
2. Dämon, Gasse, Flaneur. Literarische Erkundungen des Stadtraums
2.1 Literarische Topographien
Das zweite Kapitel untersucht die erzähltechnischen Mittel, mit denen sich Autorinnen und Autoren lokale Alltagserfahrungen und Lebenswelten erschließen. Denn gerade an zentralen Orten und Landmarken wie dem Marine Drive in Mumbai oder dem Connaught Place in Delhi prallen Klischeevorstellungen und subjektive Erfahrungen aufeinander. Hier sinnen die Protagonisten darüber nach, was die Stadt der Träume für sie bereithält. Aus Beschreibungen urbaner Kontaktzonen wie der Gasse, der Straße, von Plätzen und Verkehrsmitteln erfahren wir, wie der Einzelne zur Menschenmenge steht, welche Gerüche, Geräusche er wo wahrnimmt, welche Orte er anziehend findet und welche er meidet.
Die Analyse literarischer Raumbilder leistet eine lokale Kontextualisierung von urbanen Orten wie dem Bürgersteig, dem Vorortzug (local train) oder dem Teestand. Gerade an solchen unscheinbaren Orten, aber auch während alltäglicher Beobachtungen, in Gesprächen und beim flanierenden Nachdenken kristallisiert sich das urbane Ethos heraus. Literarische Topographien geben Aufschluss über den Wandel in den Wahrnehmungsmustern und literarischen Darstellungstechniken im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeugen von einem Prozess der Aneignung der Stadt mittels narrativer Mittel: Zunächst einmal erschließen die Autorinnen und Autoren den – oft aus der Erzählperspektive des Fremden – unbekannten Stadtraum durch Landmarken und zentrale Orte und strukturieren so die Wahrnehmung der Protagonisten. Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre erzeugen Personifikationen eine größere Nähe zum Organismus Stadt, indem die Literatinnen und Literaten ihn etwa als leidenden Menschen imaginieren oder ihre Charaktere in den Stadtraum „einschreiben“.
Der in den letzten Jahren in den Kulturwissenschaften vielfach ausgerufene topographical turn,204 der „kleine Bruder“ des spatial turn, täuscht darüber hinweg, dass diese Wende keineswegs eine Neuheit in den Geisteswissenschaften darstellt, sondern an eine lange Tradition der Beschäftigung mit Räumlichkeit in philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskursen anknüpft. Dieses Denken über und in Räumen wurde jedoch spätestens seit 1800 von den seither dominierenden Zeitmodellen, genauer gesagt, dem klassischen Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, abgelöst.205 Im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung spitzte sich das Raumproblem wieder zu und es setzte sich die bis heute in den Sozial- und Kulturwissenschaften verbreitete Auffassung durch, dass Raum keine physische Vorbedingung sei, sondern sozial organisiert und kulturell geschaffen werde.206 In der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Raum steht vor allem seine Repräsentation im Mittelpunkt vieler Betrachtungen. Versteht man Raumdarstellungen in der Literatur als kulturelle Bedeutungsträger, so kann die Analyse literarischer Topographien207 zum Verständnis von Stadtbildern beitragen.
Ansgar Nünning zufolge stehen dem Autor bei der Gestaltung des Raums drei Mittel zur Verfügung: Beschreibung, Bewusstseinsdarstellung und Bildlichkeit.208 Diese literarischen Gestaltungsmittel bilden die Grundlage für die Gliederung dieses Kapitels in die Unterpunkte „Stadtkörper“ (Bildlichkeit), „Schauplätze“ (Beschreibung) und „Erzähl- und Figurenperspektive“ (Bewusstseinsdarstellung). Zum Mittel der Beschreibung merkt Nünning an, dass es besonders wichtig sei, da es „die leserseitige Konkretisierung der erzählten Welt“ steuere und entscheidend zum Realismus-Effekt und zur Illusionsbildung beitrage. Wenn man die Art der Beschreibung analysiert, ist vor allem danach zu fragen, „welche Schauplätze, Gegenstände, Situationen und Ausschnitte der Wirklichkeit […] in einem narrativen Text ausgewählt und dargestellt bzw. erzählerisch gestaltet“209 werden. Gewiss darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass der literarische Raum Bestandteil eines fiktionalen Wirklichkeitsmodells ist und vom ‚realen‘ Raum außerhalb des sprachlichen Kunstwerks unterschieden werden muss.210 Man denke etwa an utopische Werke, in denen eine von der Realität abweichende Stadtlandschaft imaginiert wird, wie bei Jitendra Bhatiyas (geb. 1946) Science Fiction Dystopie „Bis zur nächsten Finsternis“ (Kapitel 3.3.2). Wohl eher rhetorisch wirft Roger Lüdeke die Frage auf, „ob ästhetische Diskurse womöglich spezifische Spiel-Räume eröffnen, die sich den lebensweltlichen Raummodellen, auf die sie Bezug nehmen, wiedersetzen und inwieweit den literarisch funktionalisierten Raumrepräsentationen ein besonderes transgressives oder reflexives Potenzial bezüglich ihrer eigenen Repräsentationsbedingungen […] zuzugestehen ist.‍“211 Selbst Beschreibungen, die den Stadtraum aus einer realistischen Wahrnehmungsperspektive heraus abbilden, lassen bei näherem Hinsehen große narrative Spielräume erkennen. Schließlich muss sich jeder Autor fragen: Wie umgehen mit der fragmentierten individuellen Wahrnehmung, durch die die Stadt immer nur ausschnittsweise erfasst wird? Erst durch die Sichtweise des Protagonisten bzw. durch die Erzählperspektive werden der Stadtraum oder einzelne Ausschnitte davon erst „sichtbar“ gemacht.
Für die narrative Bewusstseinswiedergabe stehen unterschiedliche Mittel und Wege zur Wahl, die sich aus dem Zusammenspiel von Figuren- und Erzählperspektive einerseits und dem gewählten statisch oder dynamisch angelegten Ausschnitt des Raums andererseits ergeben. Eine Möglichkeit ist, reale oder symbolische Orte als kognitive trigger einzusetzen, um beim Leser geographisches und kulturelles Hintergrundwissen aufzurufen. Nun bleibt es selten bei der Aneinanderreihung von Ortsnamen, um die Vorstellung von Stadtraum zu erzeugen. Um den urbanen Erfahrungsraum zu eröffnen und im besten Fall räumliche Wahrnehmung wiederzugeben, gilt es, eine knifflige technische Hürde zu überwinden: Der als Vorbild dienende, in der Realität dreidimensionale Raum muss in einen zweidimensionalen Text übertragen werden. Dies kann – hier kommt die dritte Repräsentationstechnik zum Einsatz – durch die Erzählperspektive erreicht werden. Indem Autorinnen und Autoren (im Rückgriff auf ihre persönliche Wahrnehmung) urbanen Raum in verschiedenen „Ausschnitten“ oder „Skalen“ konstruieren, erschließen sie alltägliche lokale Lebenswelten, etwa das häusliche Umfeld (Haus, Gasse), Nachbarschaftsbeziehungen (Gasse, Straße, Viertel), politisch-öffentliches Leben (soziale Zentren wie der Paan-Laden, geographische Knotenpunkte wie Kreuzungen) sowie religiöse Zentren (Ghat, Tempel etc.). Dass es sich bei diesen Skalen nicht um starre Raum(an)ordnungen handelt, sondern um ein Instrument der Erzählperspektive, wird am dynamischen Wechsel der Skalen deutlich: Wie im Film kann die ganze Stadt erst aus der Vogelperspektive betrachtet und im nächsten Moment durch Hineinzoomen in einer Art Close-up-Einstellung im Detail gezeigt werden.
Eine zweite Erzählperspektive ist in der Figur des Flaneurs, Tramps oder Spektators angelegt: In der Bewegung erschließt der Stadtspaziergänger nach und nach den Raum. Seine Erlebnisse, Empfindungen und Erinnerungen werden durch den Körper gefiltert dargestellt. Aufschlussreich ist auch die soziale Dimension dieser Figur: In jüngerer Zeit verschmilzt der Typus des Flaneurs mit dem des „weisen Verrückten“ (engl. wise-fool), der normative Vorstellungen von urbanem Fortschritt und Wohlstand durch sein unangepasstes Verhalten hinterfragt. Daran anknüpfend wird als dritte narrative Technik die sensorische Wahrnehmung im Stadtraum untersucht. Was empfindet der Einzelne in der Menge? Welche Gerüche und Geräusche herrschen in welchen Lokalitäten der Stadt vor? Sensorisches Erleben gibt Auskunft über das Verhältnis des Einzelnen zur Stadt, darüber, ob er sich fremd oder zuhause fühlt, sicher oder bedroht, und in welchen Beziehungen er zu anderen Menschen steht, die in der Stadt leben und arbeiten.
Drittens erzeugen auch Mittel der Bildlichkeit – Metaphern, Personifikationen, Allegorien – Vorstellungen von Stadt(raum). Eine Möglichkeit, die fragmentierte Wahrnehmung zu überkommen, ist es, die Stadt in personifizierter oder metaphorischer Form darzustellen. Diese Verkörperungsstrategie erfüllt mehrere Funktionen: Als Container oder imaginärer Ort bietet die Stadt Raum für utopische Ideen. Zum anderen tritt sie als eigenständiges Charakterwesen, handelnde Person oder zerstörerischer Dämon in Erscheinung.
2.2 Stadtkörper
Die verkörperte Stadt begegnete dem Leser bereits in mehreren Zitaten englischsprachiger Texte, etwa von Stadtbiographien mit ihrem personalisierten Zugriff auf Mumbai oder Delhi (Kapitel 1). Die bildliche Darstellung der Stadt als Körper oder Organismus erfüllt den Zweck, sie in ihrer Gesamtheit bzw. in ihrer Eigenlogik zu erfassen. Personifikationen helfen, „eine Fülle von Erfahrungen mit nichtpersonifizierten Entitäten [zu] begreifen, indem wir diesen Erfahrungen menschliche Motivationen, Merkmale und Tätigkeiten zugrunde legen.‍“212 Dieser kognitive Trick ermöglicht es, die Grenzen der individuellen Wahrnehmung zu sprengen und sich der unüberschaubar großen Einheit Metropole narrativ „habbar“ zu machen: „Körper und Stadt teilen die enge Verflochtenheit von scheinbar gegebener Materialität und diskursiver Aneignung.‍“213
Personifikationen sind überdurchschnittlich oft in Gedichten anzutreffen. Es können zwei Arten von literarischen Stadtkörperbildern unterschieden werden. Zum einen dient die Stadt als Projektionsfläche, imaginärer Ort oder Container. Als Allegorie, Metapher oder Symbol verweist sie dann auf etwas Anderes und kann wie in Harish Nawals (geb. 1947) Delhi-Satiren als pars pro toto das Herz eines Landes symbolisieren, oder eine geschlossene, intime Sphäre, wie in Sanjay Kundans (geb. 1969) Gedicht „Schuhe“ (jūte), beinhalten. Zum anderen tritt die Stadt in personifizierter Gestalt als Organismus oder Protagonist in Erscheinung. Die städtischen Leibhaftwerdungen fallen mannigfaltig aus: Mal leidet Delhi unter Hitze und Trockenheit und wartet sehnsüchtig auf Regen, mal verschlingt die Stadt als Dämon den Menschen.
2.2.1 Die Stadt als metaphorischer Container
Vor allem in Gedichten steht die Stadt als Metapher oder Allegorie für eine Vision, die das lyrische Ich – oft in ironischem oder sarkastischem Gestus – beschreibt. Sudha Jain (geb. 1935) modelliert im Gedicht „Die Rosenstadt“ (gulāboṃ kā śahar, 1985) eine nach ästhetischen Maßstäben ideale Stadt in einen Körper hinein.214 Indiens „schöne Stadt“ (sundar nagar) wird in der ersten Strophe als strahlende Grazie präsentiert, die Attribute aus der Natur (See, Rosen, Schmetterlinge) und der Zivilisation (Villen, Gärten etc.) harmonisch in sich vereint:
Diese Stadt
ist eine wahre Schönheit
auf dem Kopf ein lieblicher See
im Herzen
ein duftender Rosengarten
prächtige Villen
in den Villen Gärten
in den Gärten lachende Rosen
Das hier ist die Rosenstadt.
Allerdings währt die Illusion von der Traumstadt nicht lange, und die scheinbar perfekte Kulisse bekommt erste Risse, als bereits in der zweiten Strophe Zweifel an der Echtheit der Rosenstadt laut werden.
In jedem Zimmer gedeihen Rosen
die Farbe importiert, der Duft importiert
die Sprache importiert, der Gang importiert
die Stadt lebt in einer gekauften Umgebung
Das ist Indiens
schöne Stadt
das hier ist die Rosenstadt
Das ist die Stadt
der hübschen Schmetterlinge
wo kein Schmetterling je altert
er hat von den ewigen Früchten
Puder, Haarfärbemittel und
Lippenstift genascht und
das Alter an der Nase herumgeführt.
In der Rosenstadt –
von Farben angelockte Schmetterlinge
das hier ist die schöne Stadt der Schmetterlinge.215
In den nächsten Strophen werden weiterhin die Bewohner der Rosenstadt, Künstler, Intellektuelle und Schauspieler, in ihrer Selbstbezogenheit aufs Korn genommen:
Schließlich ist das die Stadt der Intelligenzija
Intellektuelle über Intellektuelle
soweit das Auge reicht
manche sind im Bild verewigt
manche haben sich in sinnlose
Diskussionen verrannt und
jonglieren mit Wörtern herum
manch einer an seinem Stuhl
festklebt
ein anderer an seiner Rolle
Schließlich ist dies hier
die Stadt der Schauspieler.
Bombastisch große Theater
bombastisch große Clubs
Im Haus Clowns
Schauspieler Künstler
Das hier ist Indiens
schöne Stadt
Das ist die Rosenstadt.216
Die Rosenstadt wird zur Allegorie, um die Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetisch vollkommenen Kunstwelt durchzuspielen. Dabei scheint weniger die Körperlichkeit der Stadt im Vordergrund zu stehen, die in der ersten Strophe noch evoziert wird, als vielmehr ihre Eigenschaft als Container, der unterschiedliche Deutungen zulässt: Man kann das Gedicht als Kritik an einer unauthentischen Kunstwelt lesen, oder aber als Anspielung auf eine wie auch immer geartete ‚Clownerie‘ in der Politik und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. Bemerkenswert ist, dass sich in diesem Gedicht schon Ansätze einer Globalisierungskritik wiederfinden, wie sie u.a. von rechten politischen Gruppen geäußert wird. So weit zu gehen, die kodierte Container-Symbolik als ideologischen Kommentar zum fragwürdigen Zustand der Stadt, Gesellschaft oder Nation zu lesen, der sich in die Nähe zur Rhetorik des krankenden „Volkskörpers“ begibt, würde dem Gedicht eine Auslegung überstülpen, die seiner potentiellen Mehrdeutigkeit nicht gerecht würde. Die Stadt eignet sich aber durchaus als Mikrokosmos des Staates bzw. der Nation. In dem Gedicht „Stadt der Visionen“ (yoj'nāoṃ kā śahar) aus dem gleichnamigen Gedichtband von Sanjay Kundan etwa fungiert śahar als Container für große Ideen technokratischer Planer, deren große Versprechungen von wiedergewonnener nationaler Größe oder dem Beseitigen sozialer Missstände uneingelöst bleiben.217
In anderen Beispielen versinnbildlicht die Stadt eine geschützte, intime Sphäre.218 Im Gedicht „Schuhe“ (jūte) aus dem oben zitierten Band zieht Kundan die Stadt als Vergleichsgröße heran, um die berufliche und private Lebenssphäre zu beschreiben. Die Schuhe verkörpern die Zwänge der fremden Stadt, wohingegen das Ausziehen der Schuhe daheim für die Rückkehr in die ārām kā śahar, die Stadt der Ruhe und Gemütlichkeit, steht:
Immer wenn ich meine Schuhe ausziehe
fühlt es sich so an als kehrte ich aus einer fremden Stadt
zurück in die meinige
das hier ist die Stadt der Muße
wo alles so gemütlich zugeht
als nippe man am Tee. […]219
Als intime Sphäre taucht die Stadt auch in den populären Mini-Geschichten im Band „Stadt der Erinnerung“ (yād śahar, 2013) von Nilesh Mishra (geb. 1973) auf,220 die ursprünglich als Hörfunkgeschichten beim Sender Big FM ausgestrahlt wurden. Das Vorwort zu beiden Bänden ist mit der Zeile „In mir wohnt eine kleine Stadt…“221 überschrieben. Die Stadt steht für einen imaginären Erinnerungs- und Sehnsuchtsort (kālpanik śahar),222 der mit romantischen und nostalgischen Geschichten und, mehr noch, mit dem Erzählen von Geschichten in Verbindung steht. Auf der Rückseite beider Bände wird direkt auf die allegorische Dimension der Bezeichnung yād śahar Bezug genommen: „Die Stadt der Erinnerung ist die Stadt jedes Einzelnen, in der alle Erinnerungen zuhause sind, die einen beim Zuhören ins Haus der Oma, auf den Schulhof, den Campus, oder in die Gassen des Liebesstädtchens katapultieren…“.223
Die metaphorische oder allegorische Funktion des Stadtkörpers öffnet vor allem in Gedichten einen reichen und teils widersprüchlichen Assoziationsraum. Auf der einen Seite werden idyllische Zustände, die mithilfe der Stadtmetapher evoziert werden, ironisch gebrochen (vgl. Sudha Jain, Sanjay Kundan). Auf der anderen Seite dient die Stadt als Container für nostalgische Erinnerungen (vgl. Nilesh Mishra) oder für eine geschützte intime Sphäre wie in Sanjay Kundans „Schuhe“. Während die Stadt dort dazu genutzt wird, einer Idee oder Allegorie einen Raum zu geben, erfüllt die Darstellung der Stadt als Person den Zweck, den Charalter einer konkreten Stadt herauszuarbeiten.
2.2.2 Die Stadt als Person
Die Personifikation ist eine gängige rhetorische Figur in unterschiedlichen Repräsentations- und Textschichten, um über den Charakter einer Stadt zu schreiben, wie das Vorwort zu Kahars Studie über Bombay-Romane gezeigt hat, das den Topos der sorgenden „Mutter Stadt“ zitiert (vgl. Kapitel 1). Seit Beginn der 2000er Jahre und verstärkt seit den Hundertjahrfeierlichkeiten im Jahr 2011 ist die indische Hauptstadt Neu-Delhi in den Fokus journalistischer, künstlerischer und kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt.224 Dem städtischen Charakter bzw. der Eigenlogik Delhis spürte bereits kurz vor dieser Welle der auf Hindi schreibende Autor Harish Nawal in humoristisch-essayistischen Skizzen nach.225 In „Herzensstadt Delhi“ (dillī dil'vāloṃ kī) erkundet der Autor das Wesen Delhis und seiner Bewohner, die in Anspielung auf dillī als dil'vāle, „Leute mit Herz“, tituliert werden (die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: „Delhi, Stadt der Leute mit Herz“). Statt die lokalen Eigenheiten zu rühmen, nimmt der Autor das Fehlen derselben aufs Korn:
Was ist typisch für Delhi? Rein gar nichts. Sobald es in Simla ein bisschen schneit, ziehen sich hier die Leute ein Tuch vor die Nase. Kaum dass unten in Tamilnadu der Ministerpräsident die Stirn runzelt, wirft der Premierminister gleich das Handtuch. Wird es in Massoori warm, werden in Delhi die Cooler installiert. Beim kleinsten Nieser der Marxisten in Kalkutta berufen die Roten in Delhi Volksversammlungen ein.226
Und weiter:
Es heißt, Delhi gehöre den Menschen mit Herz, aber demnach müssten hier alle herzkrank sein. Der eine hat sich in den Stuhl der Stadtverwaltung verliebt, ein anderer in die Kuppel des Parlaments. Der nächste will von ganzem Herzen in die Herzensakademie eingeladen werden, wieder ein anderer die Quote oder einen Freifahrtsschein. Das ist eine Herzenssache und nichts zum Scherzen.227
Delhis Charakter speist sich in dieser satirischen Glosse hauptsächlich aus den typischen Eigenschaften ihrer Bewohner, die in Nawals Portrait mehr egoistisch als herzlich erscheinen, weshalb sich Stadtpersonifikationen nur in Gemeinplätzen niederschlagen, etwa in der pars-pro-toto Metapher vom Herz der indischen Nation: „Delhi ist das Herz Indiens und Delhis Herz ist entzwei gebrochen – der eine Teil ist als Chandni Chauk bekannt, der andere als Connaught Place.‍“228 Die zweigeteilte Stadtlandschaft steht für die jüngere Geschichte der Hauptstadt: Alt-Delhi auf der einen Seite markiert im kulturellen Gedächtnis die Blütezeit Delhis unter der Moghul-Herrschaft,229 deren Ruhm bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert zu schwinden begann und mit der britischen Vormacht endgültig verlosch. Neu-Delhi auf der anderen Seite, das 1911 als neue Hauptstadt Britisch-Indiens gegründet wurde, symbolisiert als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum das Herz der unabhängigen Republik. Der Autor sucht die Gründe für den fehlenden Lokalpatriotismus der Hauptstädter im topographischen Bruch, der auf die Kolonialzeit zurückgeht. Delhi, das in der Herz-Metapher als pars-pro-toto für die Nation steht, weist keine spezifischen äußerlichen Merkmale oder Charakterzüge auf. Kommt die städtische „Identität“ zur Sprache, dann definiert diese sich vor allem über die alltäglichen Praktiken, Denk- und Verhaltensweisen ihrer Bewohner.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die Stadt als konkrete Person auftritt. Der Gedichtzyklus „Delhi im Regen“ bzw. „Delhi in der Regenzeit “ (bāriś meṃ dillī) von Sunita Jain (1941-2017) präsentiert Delhi, gemäß des grammatikalischen Geschlechts im Hindi, als Frau. Ganz explizit wird etwa im Gedicht „Auf Delhis Straßen“ (dillī kī saḍ'koṃ par) die Körperlichkeit der Stadt hervorgehoben:
Die sanfte Kühle der frühen Morgenstunden
auf dem müden Körper meiner Stadt
Der Kanon der Vögel
in den eingestaubten Bäumen
Über der Schulter des Osten
hing ein vom ersten Licht des Tages
gewaschenes Handtuch
Doch, der Tag stieg nur ängstlich herab
auf Delhis Straßen.230
Im thematisch verwandten Prosagedicht „Delhi im Regen“ (bāriś meṃ dillī)231 von Jain entspinnt sich ein Dialog zwischen der nach Wasser dürstenden Stadt und einer Wolke (bādal), die im Hindi männlichen Geschlechts ist. Entfernt erinnert das Gedicht an den „Wolkenboten“ (meghadūta) des berühmten Sans­k‍rit-Dichters Kalidasa, in dem ein im Exil lebender Naturgeist, ein Yaksha, eine Wolke überredet, seiner Liebsten in der Ferne einen Gruß von ihm zu übermitteln.232 In Jains Gedicht wartet Delhi sehnsüchtig auf die regenverheißende Wolke, die jedoch nur noch sporadisch vorbeischaut:
1
Das waren desolate Zeiten,
als Delhi auf dem Bürgersteig schlief.
Die Stirn klebrig vor Hitze
Mund und Kehle staubtrocken.
Wie kam die Wolke, wann regnete sie ab?
Delhi stand auf, lupfte die Kleider.
Je durchnässter sie war
desto mehr umklammerte sie
ihr zerlumptes Kleid.
2
Ohne sich vorher anzukündigen
war die Wolke reingeplatzt
in Delhis Stille.
Es schüttete wie aus Kannen
mit Händen und Füßen
schützte Delhi die Bäume
vorm Umstürzen.
Nie zuvor hatte es in Delhi
so viel Wind und Regen auf einmal gegeben
noch dazu mit solcher Heftigkeit
einer, der sich schon auf den Weg gemacht hat
kommt so schnell nicht mehr zurück
Jetzt können Sie sehen,
wie man Delhi hier und dort auf der Leine trocknet
3
Die Wolke fragte Delhi
wo sitzt der Schmerz, wo tut’s weh?
Delhi streckte stumm
ihre Hand aus.
Sie sah Linien darauf verlaufen
kreuz und quer durch Delhi.
Daraufhin schwiegen beide –
die Wolke
und Delhi.
4
Delhi sprach
die Wolke hörte zu,
Selbst wenn Delhi nichts sagte
hörte sie hin.
Wie lange schon schweigt Delhi
in der Hoffnung, erhört zu werden.
5
Die Wolke sagte schon oft,
„Du bist so weit weg, Delhi
vielleicht schaff ich’s nicht mehr zu dir.‍“
Delhi sagte nichts dazu.
Die Wolke war ja nicht die Erste
Vor ihr waren schon viele andere gegangen,
etwa die Bäume, die fest in Delhi verwurzelt sind. Fort.
Mit den Bäumen auch die Vögel.
Fort auch die Schlüssel,
die nie wieder kommen werden.
Hängen geblieben sind rostige Schlösser,
liebestolle Tauben haben sich eingenistet in Schächten und Luken
[…]
Noch im Gehen sagte sie wieder
„Ich schaff’s nicht mehr zu dir, Delhi.‍“
Auch wenn ihr zum Weinen zumute war
riss Delhi sich am Riemen.
Ohne ein Wort zu sagen harrte sie aus
auf ihren vor Hitze geschwollenen Füßen.
[…]
8
Die Wolke wird sie vergessen
Delhis Straßen,
die Wolkenkratzer und Flyovers.
Vergessen auch dieses Fremde
und Raue an Delhi.
Vergessen auch jenen Ort,
und die Luft,
die Tulsipflanze,
die vom Regen heruntergefegten Blätter
des Neembaums.
Vergessen wird die Wolke auch
das Delhi, das von Delhi übrig blieb,
wonach ihr so gedürstet hatte.
Die Wolke war glücklich.
Sie schrieb ein Gedicht.233
Das abrupte, lakonische Ende lässt ahnen, wie die seltsam unausgewogene Beziehung zwischen Wolke und Delhi endet. Die bedrohte Natur, von der in der 5. Strophe die Rede ist, ist ein Hinweis darauf, dass das Gedicht auch als Kommentar zu den schwierigen klimatischen Bedingungen in der Hauptstadt verstanden werden kann, in der es in den Frühlings- und Sommermonaten extrem heiß werden kann und – nicht zuletzt infolge des Klimawandels – das Eintreffen des Regens immer unberechenbarer wird.
Jain, eine international beachtete Autorin, die Lyrik und Prosastücke auf Englisch und Hindi schreibt,234 hat gemeinsam mit Vimala Shyama drei Jahre nach Erscheinen des Delhi-Gedichtbandes unter dem Titel „Confluence of Season“235 eine zweisprachige Übersetzung von Kalidasas Jahreszeiten-Zyklus R̥tusamhāra vorgelegt. Wenn sich Jain auch auf Kalidasas Werke bezieht, so haben wir es bei ihr mit einer völlig anderen Frauenfigur zu tun. Die Stadt ist, anders als bei Kalidasa, keine hinreißend geschmückte Braut, welche die Regenzeit gleichsam einem Liebhaber erwartet, sondern ein gebeuteltes Wesen in Lumpen, das von seinem Liebhaber, der Wolke, erst stürmisch heimgesucht und dann von ihm im Stich gelassen wird. In „Delhi im Regen“ werden besonders der Leidensaspekt und die Abhängigkeiten hervorgehoben, in denen sich die hitzegeplagte und nach Regen dürstende Hauptstadt befindet.
Eine weniger passive und statische Verkörperung Delhis findet man in einem weiteren Gedicht aus Jains Zyklus, „Regenbogen über Delhi“ (indradhanuṣ dillī meṃ). Darin erscheint Delhi in Gestalt eines Kindes, das sich über einen Regenbogen freut:
Es ist schon eine halbe Ewigkeit her,
dass Delhi einen Regenbogen gesehen hat
An dem Tag damals tauchte er plötzlich auf
und erstreckte sich über der Yamuna
riesig groß
und in alle seine sieben Farben getaucht!
Delhi hüpfte wie ein kleines Kind
klatschte in die Hände und rief,
„Guck, guck da am Himmel.‍“
Doch niemand hielt inne.
Auf der Straße rannte alles gerade so weiter
die Sitze der Mopeds pickepackevoll.
Der Gemüsemann wog gerade Gemüse
mit falschen Gewichten
und der Fahrradhändler
hatte die Regenbündel fest im Blick.
Wobei
als Delhi ein zweites Mal nach oben schaute,
auf der Brust zitterte schmetterlingsgleich
der Regenbogen des Monsuns –
da war er auch schon verschwunden
hinter dunklen Gewitterwolken.236
Sunita Jain lässt Delhi in ihrem Gedichtzyklus deshalb so plastisch vor Augen treten, da sie der Metropole nicht nur eine menschliche Gestalt verleiht, sondern sie auch mit einem Gefühlsleben ausstattet. Damit erzeugt sie den Eindruck einer persönlichen Bindung zwischen Individuum (lyrisches Ich, Leser) und Stadt. Von dieser Art der Aneignung hat bereits Swadesh Bharati in seinem Roman „Der Stadtfreund“ (nagar-baṃdhu) aus dem Jahr 1985 Gebrauch gemacht, in dem die bengalische Hauptstadt Kalkutta in einer poetisierenden Einleitung eine aktive Rolle zukommt (Kapitel 3.4.1).237 Die ehemalige Hauptstadt Britisch-Indiens wird nämlich zum Zeitzeugen und gleichzeitig zum „Macher“ ihrer eigenen Geschichte. Indem der Autor die Stadt personifiziert darstellt, hebelt er das Narrativ von der Gründung Kalkuttas durch die Briten aus und bietet stattdessen eine alternative Deutung an, die eine von der Kolonialzeit emanzipierte Stadt(geschichte) zum Gegenstand hat. Bharati benutzt den Stadtkörper als allegorisches Mittel, um die Stadt und ihre Geschichte aus einem alternativen Blickwinkel zu betrachten.
Das Verhältnis zwischen Stadt und Individuum, das haben die vorangehenden Beispiele gezeigt, wird durch die personifizierte Darstellung auf eine zwischenmenschliche Interaktionsebene gehoben und lässt gerade in Gedichten große Assoziations- und Interpretationsspielräume zu. Weniger groß ist der Interpretationsspielraum bei einem Aspekt des großstädtischen Organismus, der mit Hartherzigkeit und Vernichtung assoziiert wird, wie im nächsten Unterkapitel beschrieben.
2.2.3 Dämon Stadt
Die Stadt als Dämon erinnert stark an die literarische und filmische Darstellung der Großstadt als Moloch238 in der europäischen Lyrik und Erzählliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Insbesondere im deutschen Expressionismus (1910-1920) kam der Topos als Reaktion auf die industrielle Revolution auf: „Seit der Industriellen Revolution setzen sich Ausgestaltungen durch, in denen die Stadt das Wesen eines bedrohlichen Ungeheuers annimmt. Sie ist der Moloch, der seine Schöpfer verschlingt. Sie ist die Gesteinsmasse, die die Menschen erdrückt.‍“239 Die Thematisierung von individueller Existenzangst, „Menschheitsangst“, löste laut Elisabeth Frenzel die vom Naturalismus geprägten Milieuschilderungen ab. Städte wurden nun in ihrer grotesken und schockierenden Natur wahrgenommen.240 Entsprechend schlug sich die Dämonisierung der Großstadt in vielen Titeln nieder, etwa „Das große Ungeheuer“ (1901/04) von Karl Henckell, „Die Dämonen der Städte“ und „Der Gott der Stadt“ (1911) von Georg Heym, die „Steinerne Stadt“ von Georg Trakl (1914), Johannes R. Bechers „Die hungrige Stadt“ (1927), Bertold Brechts „Von der zermalmenden Wucht der Städte“ (um 1925), sowie die Anthologie deutscher Großstadtgedichte „Im steinernen Meer“ (1910).241 Auch der Filmregisseur Fritz Lang knüpfte in seinem Meisterwerk „Metropolis“ (1927) an diese Bildsprache an.
Warum ist dieser Topos auch in der Hindi-Literatur so verbreitet? Ein Grund ist sicher die große Beliebtheit Bertold Brechts unter marxistisch beeinflussten Schriftstellern der sozialkritischen Schule,242 worauf verstreute Hinweise in den Werken selbst hindeuten (vgl. auch Kapitel 3.1).243 Zum anderen scheint die literarische Repräsentation der Großstadt als gefräßiges Monster einer universalen Wahrnehmung (post)industrieller Gesellschaften zu entsprechen. In einer längeren Passage von Swadesh Bharatis „Stadtfreund“, die leicht variiert auch auf dem Buchrücken abgedruckt ist, wird Kalkutta als ein quälender Dämon beschrieben:
In den Wolkenkratzern dieser Stadt gibt es unzählige Schubfächer. Gefangen in diesen Schubfächern erduldet der Mensch in einem fort den großstädtischen Stumpfsinn und die Qualen, während die Stadt wie ein auf Krücken gestützter Monster-Dämon genüsslich die Existenz zahlloser Menschen zermalmt, die sich abrackern.244
Die Unbarmherzigkeit der Großstadt richtet sich vor allem gegen die Wanderarbeiter aus ländlichen Regionen in Awadh, Bihar oder Nepal, die nicht nur das glamouröse Nachtleben in Bars, Clubs und Hotels ermöglichen, sondern mit ihrer Arbeitskraft die Infrastruktur und den Dienstleistungssektor der Stadt überhaupt „am Laufen“ halten. Sie sind die Nahrung der ewig hungrigen Stadt.245 Wanderarbeiter in Delhi werden z.B. in der Kurzgeschichte „Der nicht angeklungene Ton“ (an'had nād) von Sudip (geb. 1942) Opfer einer blutrünstigen Stadt. Ganz konkret äußert sich der Blutrausch der Stadt in der Ausbeutung einer Gruppe von Wanderarbeitern, die auf einer Baustelle in Delhi lebt, und von denen sich der „Stadtkörper“ (śahar kā śarīr) ‚ernährt‘: „Die Stadt ist ein Dämon, dem ständig nach Blut dürstet. Sein Durst kann nie gestillt werden, Leute, nie…“246 So fordert der Blutdurst der Stadt am Ende auch ein Menschenopfer: Der Waisenjunge Miru, ein ausgelassener und fröhlicher Junge, der mit den Wanderarbeiterfamilien in dem temporären „Dorf“ lebt, stirbt beim Versuch, einen Drachen herunterzuholen, der sich in einem Stromkabel verfangen hat.
Neben dem für das Proletariat, hier Wanderarbeiter, besonders spürbare System der Ausbeutung zeigt sich die hässliche Fratze der Stadt auch in der Anonymität und Kälte unter ihren Bewohnern. In der Erzählung „Gasse Nr. 13“ (galī nambar terah) von Gyanprakash Vivek beschreibt der Erzähler die Stadt von Anfang an mit den Attributen eines Lebewesens: „Ich bin in dieser Stadt. Sie ist gleichzeitig in mir. Wenn ich die Stadt anschaue, schaut sie gebannt zurück, wie Wasser in einem Fluss, das die Reflexionen auf seiner Oberfläche betrachtet.‍“247 Der Protagonist Abhishek ist aus Delhi in eine nahe Kleinstadt gezogen, die er anfangs als verschlossen und provinziell erlebt; er vergleicht sie mit einem Schüler, der einschüchtert vor dem gestrengen Lehrer (Delhi) steht.248 Dabei sollte der Umzug ja gerade der Versuch sein, den Klauen der Großstadt zu entkommen: „Als ich der Großstadt entflohen und in diese Kleinstadt gekommen war, hatte ich gehofft, den brutalen Kiefern der Großstadt gerade noch mal entkommen zu sein, dabei bin ich geradewegs in die Mühlen dieser Stadt hier geraten.‍“249 Klauen, Schlund und Kiefer sind die äußeren Merkmale, die den Moloch charakterisieren. Die Stadt zermalmt den Menschen in der Regel, sie kann ihn aber auch ausspucken, was dann keineswegs einem Befreiungsschlag gleichkommt, sondern eher einem Rausschmiss desjenigen, der sich nicht behaupten kann, ob aus Pech oder Faulheit ist belanglos.250
In den Kiefern (jab'ṛe) bündeln sich diffuse Ängste des Einzelnen vor dem unbarmherzigen Moloch Stadt. Kunwar Narayans (1927-2017) Gedicht „Stadt und Mensch“ (śahar aur ād'mī)251 beschreibt, wie eine Dämonenstadt (daitya-śahar) einen Menschen in ihren blutbesudelten Kiefern zermalmt. Die Pointe ist, dass dem städtischen Organismus das menschliche Blut nicht bekommt:
Eine Dämonenstadt hat den Menschen
mit ihren blutbesudelten Kiefern zermalmt
und sich dann auf ihn draufgesetzt
Jetzt geht es nicht mehr nur um das Leben des Menschen,
sondern auch um das der Stadt
Sie hat den Menschen
auf übelste Weise zugerichtet
Doch das andersartige Menschenblut
hat etwas mit ihr gemacht
Oft hat man sie
wie einen kranken Mann
vor Schmerz wimmern hören.252
Dadurch, dass die Stadt zum Opfer ihrer eigenen Gefräßigkeit wird, löst sich in Narayans Gedicht die starre Täter-Opfer-Hierarchie auf; das Töten hat nun auch für die Stadt negative Konsequenzen. Die Metropole ist nicht mehr nur der übermächtige Dämon, der Willkür walten lässt, sondern sie erleidet selbst menschliche Qualen. Der provokante Vergleich „wie ein kranker Mann“ macht deutlich, dass sich das Machtverhältnis zwischen dem Stadt-Dämon und dem Individuum verschoben hat. Narayans Gedicht provoziert mit der Idee, dass sich die Stadt mit der Vernichtung ihrer eigenen Kinder ins eigene Fleisch schneidet. Das wirft die Frage nach dem urbanen Ethos auf: Die Hierarchie früherer ‚Moloch‘-Darstellungen wird – ähnlich wie bei zeitgenössischen Stadtbiographien, in denen versucht wird den städtischen Charakter zu definieren – durch einen Wahrnehmungswandel der Stadt als ‚normales‘ menschliches Wesen aufgebrochen.
Die verschiedenen Personifikationsformen der Stadt sind nicht nur ein narratives (und kognitives) Verfahren, um einen Zugriff auf das unüberschaubare Gebilde der Metropole zu erlangen. Sie erlauben uns auch, städtisches Erleben näher zu beleuchten. Einmal eröffnet die Stadt, vor allem in Gedichten, einen Raum für Ideen, Visionen und Utopien. In Sudha Jains Allegorie auf die Rosenstadt trügt der schöne Schein; alle Äußerlichkeiten entpuppen sich als falsche Importware, die Intellektuellen und Künstler der Stadt zeichnen sich in erster Linie durch ihr selbstbezogenes Gehabe aus.
Auch Sanjay Kundan legt in „Die Stadt der Visionen“ den Finger in die Wunde der Diskrepanz zwischen Realität und Traum. Das lyrische Ich beäugt skeptisch unrealistische Versprechungen und größenwahnsinnige Visionen politischer Planer. Gleichzeitig dient ihm die Stadt-Metapher an anderer Stelle dazu, die gemütliche private Lebenssphäre (ārām kā śahar) in Abgrenzung zum Arbeitsalltag auf einen Vorstellungsraum zu projizieren.
Zum anderen dient der Stadtkörper als narratives Mittel, um die Stadt in Gestalt einer Person oder eines Dämons, abzubilden. Sunita Jain erzeugt in ihrem „Delhi im Regen“-Zyklus durch die Vermenschlichung der Hauptstadt und deren Leidensfähigkeit eine große Nähe zwischen lyrischem Ich, dem Leser und der Stadt. Eine ähnliche Wirkung haben Harish Nawals satirische Glossen, die Delhis Charakter ergründen. Bewohner und Stadt sind hier untrennbar miteinander verbunden. Diese neue persönliche oder gar symbiotische Beziehung zur Metropole spiegelt sich auch in der sich wandelnden Wahrnehmung der Stadt als blutrünstiger Dämon wider: Während bei Bharati (1985) und Sudip (1995) Menschen – insbesondere Arbeitsmigranten – dem Moloch jederzeit zum Opfer fallen können, büßt er in Narayans Gedicht (2002) einen Teil seiner Übermacht ein: Der Stadtdämon fällt seinem eigenen Blutrausch zum Opfer.
Anhand personifizierter Stadtdarstellungen können wir eine Bandbreite ambivalenter Gefühle ablesen, die der Einzelne der Stadt gegenüber hegt. Es fällt auf, dass seit der Zeit um 2000 in unterschiedlichen Genres (Lyrik, Stadtbiographien und Memoiren, Glossen) besonders Delhis ‚Persönlichkeit‘ in den Mittelpunkt literarischen Schaffens gerückt wird, womit die Fremdheit der Metropole dem Wunsch nach Identifikation zu weichen scheint. Ein ähnliches Muster von Nähe und Distanz zwischen Stadt und Mensch lässt sich auch bei der Beschreibung von Schauplätzen beobachten.
2.3 Schauplätze
Vom Grad der Vertrautheit der literarischen Figur mit einer konkreten Stadt oder Urbanität allgemein hängt ab, was sie von ihr wahrnimmt. Ein erprobter Städter bewegt sich hauptsächlich in seinem gewohnten Umfeld, der Straße, dem Markt, seiner Nachbarschaft (mohallā). Dementsprechend konzentrieren sich die Beobachtungen eher auf das Alltägliche in einem begrenzten Teil der Stadt, häufig dem Wohnort. Im Gedicht „Zu den Märkten“ (bāzāroṃ kī taraf) von Kunwar Narayan geht der Erzähler ohne die Absicht etwas zu kaufen, eben nur zum Müßiggang, auf den Bazar.253 Bei Jitendra Bhatiyas Thriller „Der Augenzeuge“ (pratyakṣdar'śī) verweisen Toponyme, reale Ortsnamen wie Mominpur, Macchli Bazar, Iqbalpur oder Kalighat auf den geographischen Radius, innerhalb dessen sich die Handlung ereignet.254 In manchen Prosawerken, insbesondere in Romanen jüngeren Datums (v.a. ab 1990), meiden die einheimischen, oftmals älteren Protagonistinnen und Protagonisten das Städtische ihrer Umwelt, also den Verkehr, Lärm, Schmutz, die Menschenmassen und die Enge, indem sie die meiste Zeit des Tages im Haus oder in der Wohnung innerhalb einer gated community,255 verbringen und nur hinausgehen, um Einkäufe zu erledigen oder um in den ruhigen und kühleren Abendstunden im Park spazieren zu gehen, wie Krishna Sobtis (geb. 1925) betagte Hauptfiguren im Roman „Melodie der Zeit“ (samay-sar'gam).256
Ein Fremder hingegen wird andere Dinge sehen als jemand, der in der Stadt zu Hause ist. In Texten, die aus der Perspektive des Neuankömmlings erzählt sind, stechen einzelne Bestandteile der urbanen Topographie auffällig oft heraus. Zu prominenten Motiven zählen etwa Gebäude mit Wiedererkennungswert, also Wahrzeichen oder landmarks, die sich zumeist im Zentrum der Stadt befinden. In den Werken des sozialkritischen Realismus der 1970er und 80er Jahre (Kapitel 3.1) sind neben Hochhäusern auch qualmende Fabrikschlote Erkennungszeichen für große Städte.257 Die v.a. männlichen Autoren dieser Schule waren dem ungeschönten Beschreiben realer Verhältnisse und Schauplätze verpflichtet, um damit auf die Ausbeutung der Arbeiterklasse aufmerksam zu machen. Warum sich Schriftsteller mal für ein realistisches Setting und eine bestimmte Stadt entscheiden, mal den städtischen Schauplatz absichtlich anonym halten, hat Gründe, die sich nicht alleine aus dem Erfahrungshorizont der Figur erklären lassen.
2.3.1 Reale und fiktive Schauplätze
Ob die Handlung von Textstädten in erfundenen Räumen spielt oder ob Referenzen auf textexterne reale Schauplätze enthalten sind, läuft nicht zwangsläufig auf eine entweder-oder-Frage hinaus. Die Literaturwissenschaftler Matías Martínez und Michael Scheffel verweisen auf „unbestimmte reale Orte“, deren „‚realistischer‘ Charakter und spezifische Beschreibungen“ den Eindruck eines konkreten realen Ortes erwecken.258 Geetanjali Shrees Roman „Unsere Stadt in jenem Jahr“ spielt in einer anonymen Stadt mit einem solchen realistischen Charakter. „Unsere Stadt“ weist alle typischen materiellen und strukturellen Merkmale einer (nord)indischen Großstadt auf: Es gibt einen Bahnhof, eine Brücke, Gassen und Straßen, Viertel, Märkte und einen Glockenturm.259 Dass sich die Autorin einer eindeutigen namentlichen und damit geographischen Festlegung entzieht, ist sicherlich beabsichtigt, wenn die Gründe dafür auch vielschichtig sein können. Eine Erklärung könnte sein, dass die komplexe Konfliktsituation zwischen Hindus und Muslimen exemplarisch durchexerziert werden soll.260 Der Roman nimmt auf die gewaltsamen Unruhen (communal riots) Bezug, die nach der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya (Uttar Pradesh) durch fundamentalistische Hindus im Jahr 1992 in einigen nordindischen Städten ausbrachen. Der Streit um die Moschee, die der Überzeugung vieler Hindus nach auf dem Geburtsplatz des Gottes Rama errichtet wurde, war ein kritischer Schlüsselmoment in der Geschichte des – bis auf die Pogrome während der Teilung 1947 – weitgehend friedlichen Zusammenlebens von Hindus und Muslimen im säkularen Staat Indien. Danach kam es immer wieder zu schweren Ausschreitungen, wie 2002 in Ahmedabad (Gujarat), bei denen hunderte Menschen, darunter viele Muslime, ermordet wurden.
Shrees Roman thematisiert die soziale, religiöse und politische Entmischung einer Stadt in den 1990er Jahren, in der eine Brücke zum trennenden Element zwischen der muslimisch geprägten Altstadt und dem Universitätscampus wird und sinnbildlich für das Scheitern der säkularen Stadtkultur steht. Die Bruchlinie des Konflikts verläuft entlang stadttopographischer Grenzen: Eine Brücke verbindet die muslimisch geprägte Altstadt und sozialem Brennpunkt,261 mit dem Universitätscampus auf der anderen Seite. In der Altstadt, in der mehrheitlich Muslime leben und das von engen Gassen, Schmutz und hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist, sind Unruhen, communal riots, ausgebrochen. Diese verschärfen sich durch ein Hindu-Kloster, das sich direkt hinter dem an der Universität angrenzenden Park befindet, in dem seit neuestem hindunationalistische Propaganda in Form religiöser Lieder und Belehrungen aus Lautsprechern dröhnt und in Prozessionen sichtbar wird. Die Geographie der Stadt ändert sich durch die zunehmende räumliche und gefühlte Präsenz des Klosters.262 Sein wachsender Einfluss sedimentiert sich in der Infrastruktur: Vor dem Kloster entsteht z.B. eine nach der im Kloster verehrten Hindu-Göttin Jagadambe benannte Überführungsstraße (Flyover).263 Die Straße wird zum potentiell gewaltvollen Raum, der den Nährboden für religiöse Hetze und Gewalt bereitet. Geetanjali Shree zeichnet in die Stadtlandschaft das Portrait einer Gesellschaft, die von Umbruch, Ungleichheit und Gewalt zerrissen ist. Die Topographie wird zum Abbild für die Spannung zwischen Säkularismus und religiösem Fanatismus,264 die in den vergangenen Dekaden in Gewalt umgeschlagen ist. Dass die Brüche eines solchen Konflikts nicht nur durch die Öffentlichkeit gehen, sondern sich auch im Privaten vollziehen, schildert Shree anhand ihrer Hauptfiguren. Im Zentrum der Geschichte stehen die drei Freunde Sharad, Shruti und Hanif, die in ihrem akademischen, journalistischen und literarischen Wirken (Hanif und Sharad lehren an der Universität, Shruti ist Schriftstellerin) über die religiösen Zusammenstöße von Hindus und Moslems in ihrer Stadt berichten und aufklären wollen. Mit der wachsenden Gewalt und dem Scheitern ihres selbsterwählten Auftrags, die Stimme gegen Vorurteile und sozio-politische Missstände zu erheben, geraten sie selbst in den Sog vergifteter Gefühle. Ihr humorvoller und unbeschwerter Umgang miteinander schlägt bald in zynische Hilflosigkeit um. Es geht Shree weniger darum, einen historischen Konflikt anhand realer Ereignisse zu rekonstruieren, als vielmehr zu erzählen, wie die Risse des Konflikts in den öffentlichen und privaten Raum gleichermaßen hinein wirken.
In einigen Kurzgeschichten lassen eingestreute Straßennamen den lockeren Bezug zu einer realen Örtlichkeit erkennen, wobei sie nicht zentral für das Verständnis der Handlung sind, sondern eher als Hinweis auf die Authentizität des städtischen Schauplatzes zu verstehen sind. Erfolgreiche Krimi-Autoren wie Surendra Mohan Pathak (geb. 1940) pflegen einen exzessiven Umgang mit realen Ortsbezeichnungen, um das Setting so realistisch und das Geschehen so packend wie möglich zu machen.265 Dabei kommt es nicht so sehr auf die korrekte Wiedergabe der jeweiligen topographischen Zusammenhänge an als vielmehr auf die von Martínez und Scheffel beschriebenen kognitiven trigger oder Zeichen, die „das geographische und kulturelle Hintergrundwissen der Leser aufrufen, das die expliziten Rauminformationen des Textes ergänzt.‍“266 Ein hervorstechendes Beispiel für einen Roman, dessen Plot unauflöslich mit dem Stadtraum verwoben ist, ist „Umweg nach Kalkutta“ von Alka Saraogi. Der Protagonist Kishor Babu läuft die Straßen von Bada Bazar (baṛā bāzār) ab, jener Gegend von Nord-Kalkutta, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hat, und taucht damit in seine eigene Vergangenheit ein, die gleichzeitig mit der der bengalischen Metropole verwoben ist: „Kiśor vagabundiert durch die Schauplätze seines Lebens. Damit verbindet er die Gegenwart des ausgehenden Jahrtausends mit seiner eigenen und mit der Vergangenheit seiner Familie. Die Straßen und Plätze verlieren so ihre lediglich ortsangebende Funktion und gewinnen tiefere, meist abgründige Konnotationen.‍“267 Die Toponyme und detaillierten Wegbeschreibungen suggerieren dem Leser nicht nur, er begleite Kishor Babu auf dessen Streifzügen durch das ‚alte‘ und ‚neue‘ Kalkutta, sondern sie fungieren darüber hinaus als kognitive trigger, um die metaphorischen Schichten der Textstadt freizulegen.
2.3.2 Wahrzeichen und Erinnerungsorte
Der Connaught Place in Delhi, das Gateway of India in Mumbai und Park Street in Kalkutta zeichnen sich nicht nur durch ihre topographische Lage als zentrale Orte aus, sondern sind darüber hinaus auch mit einer zeichenhaften bzw. symbolischen Bedeutung versehen. Wahrzeichen oder Landmarken sind Orte mit einem hohen Wiedererkennungswert. Sie zählen zu den fünf Elementen, aus denen sich Kevin Lynch zufolge die kognitiven Stadtpläne (mental maps) zusammensetzen, mithilfe derer wir uns im urbanen Raum bewegen und orientieren. Zu Beginn von „Connaught Place“ (kanāṭ ples, 1999) von Jagadish Chaturvedi (1929-2015) werden die Eindrücke des jungen Jatin mittels erlebter Rede geschildert, als er am Bahnhof von Neu-Delhi ankommt und anschließend mit dem Scooter zu seiner Unterkunft gefahren wird, wo er sehr freundlich empfangen wird. Unterwegs staunt er über die imposanten Gebäude, die Kühe auf den Straßen, die breiten Boulevards und Kreuzungen.268 Solche Orte funktionieren als kognitive trigger, „ein geografisches und kulturelles Hintergrundwissen des Lesers aufrufen“.269 Aber auch für die Protagonisten selber bieten sie Orientierung und Halt in der Fremde.270
In den Textstädten überlappen sich die Orientierungsfunktion mit weiteren semiotischen Bedeutungen, die etwa einem Erinnerungsort zugeschrieben werden. Gewiss sind diese Bedeutungen unterschiedlich stark ausgeprägt, je nachdem, wie präsent die Orte in der literarischen Wahrnehmung und im kulturellen Gedächtnis verankert sind. Ein prominenter Fall ist das Dreigestirn aus Gateway of India, Tajmahal Hotel und Marine Drive, auch bekannt als Queen’s Necklace, das Mumbais kosmopolitisches Image und den Mythos von der Traumstadt speist: „Running along Mumbai’s arcing southwestern shoreline, Marine Drive calls to mind the visual drama of the city by the sea. This is where one can observe the imagination to create the city as a society of immense openness – open to the sea, exposed to influences from far and wide, a dream city of cosmopolitan desire.‍“271 Auch Nariman Point, Juhu und Chaupati Beach werden in Filmen und Erzählungen über Mumbai (Bombay) mit Erholung und Freizeit, Unterhaltung, Zeitvertreib und romantischen Treffen in Verbindung gebracht. Bei der visuellen und narrativen Präsenz dieser national bedeutenden Orte überrascht es, dass sie, wie das Gateway of India und der Connaught Place, zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Monumente der britischen Herrschaft in Indien errichtet worden waren. Nariman Point entstand sogar erst in den 1970er Jahren im Zuge von Landgewinnungsmaßnahmen.272 Gleichzeitig arbeiten sich einige Autoren am Klischee des ikonischen Wahrzeichens ab. Sie heben das inhärent Ambivalente dieses Sehnsuchtsorts heraus, indem sie es mit der Einsamkeit ihrer Charaktere oder den Schattenseiten der Stadt, wie Armut und Prostitution, kontrastieren.273 Doch bei dieser Art der Entmystifizierung muss es nicht bleiben. Im Gegenteil, sie kann auch zum Ausgangspunkt für eine Begegnung werden, wie Manoj Rupra (geb. 1963) sie in der Erzählung „Unstrument“ (sāz-nāsāz) schildert (Kapitel 3.4.2). Das paradoxe Gefühl von Einsamkeit, das sich für den Einzelnen angesichts des lebhaften Rauschens der Großstadt einstellt, löst sich mit dem Auftritt eines Saxophonisten auf:
An dem Abend damals lag ich auf der Kaimauer am Nariman Point, die sich über einige Kilometer erstreckt und Ozean wie Stadt ihre Grenzen spüren ließ. Außer mir saßen noch so ein paar Leute wie ich auf der Mauer. […] Von meiner neutralen Position aus sah ich den Monsunwolken dabei zu wie sie sich balgten und dachte bei mir, ach Mensch, wenn ich doch auch einen Freund hätte in dieser Stadt! Bevor ich nach Bombay gekommen war, hatte ich ein aktives Leben voller Freundschaften und Kontakte, während mich hier trotz der alles durchdringenden Nähe nichts wirklich berühren konnte. Als ich gerade versuchte, den großstädtischen Lebensstil mit meinem kleinstädtischen Leben zu vergleichen, hörte ich plötzlich ein Saxophon.274
Zentrale Orte wie Marine Drive haben eine Anker-Funktion, die dem – auch in existentieller Hinsicht – orientierungslosen Subjekt Halt geben sowie Gedanken und Erinnerungen stimulieren. Ein solcher Ort ist auch das berühmte Gateway of India, das noch zu Kolonialzeiten, zwischen 1911 und 1924, zur Erinnerung an den Besuch von King George V. im Jahr 1911, errichtet wurde. Es nimmt in den Geschichten häufig die Funktion eines Erinnerungsortes ein. In der Science Fiction-Dystopie „Bis zur nächsten Finsternis“ (ag'le aṁdhere tak) von Jitendra Bhatiya (geb. 1946) symbolisiert es das „alte“ Bombay, so wie der Hauptprotagonist es in Erinnerung hat, nachdem er aus einem mehrere Jahrzehnte andauernden Koma erwacht (Kapitel 3.3.2). Während das direkt dahinter befindliche Tajmahal Hotel zu einer Ruine verkommen ist, hat das Gateway of India Terror und Umweltzerstörung getrotzt:
Wir fuhren wieder mit der Rolltreppe hinauf und da, wo alles in ein angenehmes Licht getaucht war, kamen wir aus dem Tunnel hinaus ins Freie. Dazu kam, dass der Anblick dessen, was ich links von mir sah, mein Herz fast stillstehen ließ. Gar nicht weit vor mir ragte ein vertrautes Gebäude empor: Das Gateway of India. Keine Ahnung, was in diesem schwachen Moment in jener fremden Stadt in mich fuhr, als ich wie von Sinnen losrannte und das Symbol britischen Imperialismus, dieses leblose Ding aus rotem Backstein unter meinen Händen spürte und fürchterlich in Tränen ausbrach, weil mir so war, als nähmen mich Bhaskar oder Javed Ahmad oder Nirmala in den Arm.275
Eine ähnliche Überlappung von nationalem und persönlichem Erinnerungsort ist in Mridula Gargs (geb. 1938) „Gegen den Strich“ (vilom) zu beobachten.276 Die Hauptfigur, eine Frau mittleren Alters, kehrt nach Bombay zurück, wo sie vor vielen Jahren einmal gelebt hat. In ihrer Bestürzung, dass sie nichts wiedererkennt, begibt sie sich zum Gateway of India, dem mnemonischen Fels in der Brandung städtischer Veränderung, so hofft sie jedenfalls. Doch bis auf bittere Erinnerungen an ihren damaligen Liebhaber kann sie keine Verbindung zum Bombay ihrer Vergangenheit herstellen: „Vielleicht bin ich einfach am falschen Ort. Das Gateway of India war bisher nur Zeuge meines Verlusts, deshalb ist es wohl aus meinem Bewusstsein gestrichen.‍“277 Das Gateway of India ist in beiden Geschichten mehr als nur ein narrativer Anker, um die Vergangenheit der Protagonisten lebendig werden zu lassen. Es wird auch als nationaler Erinnerungsort zitiert und gleichzeitig produziert: „Wegen ihrer Breitenwirkung“, so Christoph Heyl, „kann die Belletristik so bei der Platzierung von Erinnerungsorten in der Stadt zu einem überaus wirkmächtigen Faktor werden“.278 Beide Beispiele verdeutlichen, dass ein ikonischer Ort wie das Gateway of India nicht alleine durch seine historische Bedeutung zu einem Wahrzeichen avanciert, sondern dass er in kulturelle Sinnprovenienzen eingebunden ist, die aus Erfahrungen und Ausdrucksweisen schöpfen, wie auch die Literatur sie erzeugt.
2.3.3 Zentrale urbane Lokalitäten
Abgesehen von zentralen Orten im engeren Sinne, also Wahrzeichen oder Landmarken, sind noch eine Reihe anderer bedeutsamer Lokalitäten zentral für die Hindi-Stadtliteratur, da mit ihnen bestimmte lebensweltliche Tätigkeiten, „Kollektivvorstellungen“,279 Erfahrungen und Werte verknüpft sind. Eine Lokalität (locality) ist Henrike Donner und Geert de Neve zufolge die „konkrete Manifestation räumlicher Konzepte, Erinnerungen und Praktiken, die soziale Beziehungen formen“ sowie ein „Ort […] individuellen Wirkens“.280 In den hier besprochenen Hindi-Texten zählen dazu Gasse, Straße und Bürgersteig, Haus, Innenhof und Dachterrasse, Bazar, Paan- und Chaiwala, Coffee House, Bar, sowie Bahnhof und Vorortzug, um nur die wichtigsten zu nennen. Auffällig ist, dass von diesen Schauplätzen nur Haus, Innenhof und Dachterrasse eindeutig der Sphäre des Privaten zuzuordnen sind, wobei selbst dort die Übergänge fließend sein können: Die Dachterrasse bildet etwa eine Brücke vom Privaten zum Öffentlichen, denn sie erlaubt dem Beobachter, visuell am städtischen Geschehen teilzunehmen, ohne mit der Masse in Berührung zu kommen.
Öffentlicher Raum (public space) ist – sowohl in Indien als auch in den Textstädten – von überlappenden Zonen von Privatem und Öffentlichem geprägt281 und schließt daher semi-private Räume wie die Gasse oder Straße mit ein. Das gilt vor allem dann, wenn entweder kein privater Wohnraum existiert, oder, und das ist die Regel, die Protagonistinnen und Protagonisten der Einsamkeit der eigenen (provisorischen) Unterkunft entfliehen wollen und Ablenkung oder Anschluss suchen.282 Zum anderen bietet die traditionelle Nachbarschaft (mohallā), wie sie in Altstädten oder in Vierteln mit einer hohen Minoritätsdichte zu finden ist, eine erweiterte Lebenssphäre, in der öffentlicher und privater Raum ineinander verschränkt sind.283 Erst jüngere Werke lassen eine stärkere Trennung von privat und öffentlich, und einer damit einhergehenden sozioräumlichen Abgrenzung erkennen.284 Auffällig ist, dass es sich dabei um Werke von Frauen handelt, deren Erfahrungsraum traditionell stärker auf das Häusliche beschränkt ist. Sicher wäre es lohnenswert, den Gründen für diese Entwicklung in einer gesonderten Untersuchung nachzugehen, doch im Folgenden sollen solche städtischen Lokalitäten betrachtet werden, die eine Übergangszone zwischen öffentlich und privat schaffen, und in deren literarischer Bearbeitung Vorstellungen des Lokalen und lokaler Erfahrung entwickelt werden. Die Gasse (galī), Straße (saṛak), die Kreuzung (caurāhā, cauk) und der Bazar (bāzār) konstituieren auf unterschiedlichen Skalen die räumliche Einheit des mohallā oder Viertels, in dem sich das alltägliche private wie öffentliche Leben größtenteils abspielt. Begreift man Skalen, wie Martina Löw, als relationales Konzept, kann dies hilfreich sein, um „das Lokale als Bezugssystem neben dem Nationalen und dem Globalen zu fassen […].‍“ Daraus folgt, dass „das Lokale in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung eine Maßeinheit zur Analyse des Denkens und Handelns ist, aber auch in seiner räumlichen Ausprägung als spezifizierbarer Ort gedacht wird. Dieser Ort ist jedoch nie ‚rein‘ lokal. Vielmehr ist es die Art des Zusammentreffens von Lokalem und Globalem, die Orte so einzigartig und distinkt werden lässt.‍“285 Mit Bezug auf andere Konzepte wie Glokalisierung286, das im Kern auf der Annahme beruht, dass auch Orte das Globale konstruieren, hebt Löw die Dialektik von Lokalem und Globalem hervor: Beide Prozesse verliefen parallel und simultan.287 So weit der Stand der neueren Stadtforschung. Beim Blick in die Hindi-Literatur wird klar, dass die Autorinnen und Autoren diesem Konzept durchaus widersprechende Ansichten davon entwickeln, in welchem Verhältnis das Lokale zum Globalen steht und umgekehrt. Besonders gut lässt sich das anhand von Beschreibungen der Gasse beobachten.
Die Gasse repräsentiert als kleinste Einheit (nach dem Haus) zwei Seiten der Medaille Tradition. Zum einen steht die dunkle, enge Gasse für Rückständigkeit, Kriminalität, Armut, Dreck und Überbevölkerung.288 Als Jitendra Bhatiyas „Augenzeuge“ auf eigene Faust versucht, den Anführer der Bande aufzuspüren, der in seinem Viertel auf offener Straße einen Mord begangen hat und nun ihn und seine Frau bedroht, gerät er immer tiefer in eine enge und stockdunkle Gasse hinein, während er ein Mitglied der Bande verfolgt: „Kaum dass ich mich durch das dichte Gewirr aus ärmlichen Hütten geschlagen hatte, gelangte ich auf der anderen Seite in einen Dschungel eng aneinander gedrängter Häuser. Hier stützte eine Mauer der alten Behausungen die andere und in den engen Wegen dazwischen herrschte tiefste Dunkelheit.‍“289 Auch die Gassen in Shrees „Unsere Stadt in jenem Jahr“ werden mehrfach als Nährboden für die brandstiftende Propaganda identifiziert, die schließlich in kommunalistische Gewalt umschlägt: „Die Stadt, vor der du dich fürchtest, existiert nicht. Die dunklen Gassen, die brüllenden Menschen, das ganze Labyrinth, nichts davon ist real.‍“290
Auf der anderen Seite ist die Gasse der Inbegriff eines traditionell klein­st‍ädtischen Lebens(stils), wie Nasira Sharma (geb. 1948) ihn in „Steingasse“ (patthar galī)291 oder Gyanprakash Vivek (geb. 1949) es in „Gasse Nr.13“ (galī nambar terah) beschreiben. Viveks Erzähler dokumentiert mit Sorge die Veränderungen, die in der Kleinstadt vor sich gehen, in die er gezogen ist:
Dort, an der Kreuzung in der Mitte der Gasse, da war früher der Chat Pakori Imbiss – dieser vollgeräucherte pechschwarze Laden! Seine Samosas waren gerade auch deshalb so gut, weil er sie immer bei niedriger Flamme frittierte. Heute ticken die Leute anders und auch der Charakter der Gasse ist ein anderer. Nicht nur die Gasse, die Geschäfte auch. […] Vielleicht wechseln ja gerade alle Gassen in der Stadt ihre Kleider.292
Gyanprakash Viveks Novelle „Gasse Nr. 13“ (1998) greift die populäre Vorstellung auf, das Globale sickere in die Ebene des Lokalen hinein, wo sie einen gesellschaftlichen Mikrokosmos verändere. Die Novelle wird aus der Perspektive Abhisheks erzählt, der seit kurzem in einer Kleinstadt nahe Delhi lebt. Er ist aus der Metropole weggezogen, weil die Mieten in der Kleinstadt günstiger sind und das Umfeld insgesamt eine höhere Lebensqualität verspricht. Abhishek berichtet, wie er allmählich der Stadt und ihren Bewohnern näher kommt, zunächst nur durch Geräusche, die er von seiner Wohnung aus wahrnimmt, später durch Begegnungen in der Gasse, der Straße und auf dem Markt. Die Stadt wird erst zu seiner Stadt, als er seine Nachbarn kennenlernt. Die Menschen, mit denen Abhishek Bekanntschaft schließt, spiegeln die Diversität der indischen Gesellschaft wider, wobei die Darstellung nicht frei von einer gewissen Schematik ist. Dazu zählen Kinder mit berufstätigen Eltern, ein literaturinteressierter Jugendlicher auf Arbeitssuche, ein Moslem, der dem Alkohol zuspricht, eine behinderte Frau mit einer tragischen Liebesgeschichte, eine kauzige Christin, die in einem kolonialzeitlichen Haus lebt, sowie skrupellose neureiche Geschäftsleute, die Amerika nacheifern. Bald erkennt Abhishek, dass die Gasse, in der er wohnt, selbst eine Stadt ist: „Diese Gasse ist eine Stadt, die Möglichkeit einer Stadt. […] Ja wirklich, die Gasse hier ist ein Gesicht, das Antlitz der ungleichen Niveaus in unserem Land.‍“293 Weiter heißt es: „Diese Gasse kommt mir vor wie ein lebendiges Dokument aus Gesichtern. Langsam lese ich in den Gesichtern wie in einem Buch. Allmählich frage ich mich, ob wir in der Gasse wohnen oder doch die Gasse in uns wohnt. Gassen der Zuversicht, die neue Richtungen einschlagen.‍“294
Doch diese Hoffnung endet, als die Kleinstadt sich modernisiert und ihr soziales Gefüge aus dem Gleichgewicht gerät. Allmählich verschwinden die kleinen, traditionellen Garküchen und Läden etwa des Paanwalas und Vaidyas, einem ayurvedischen Arzt, und damit auch Solidarität, Ehrlichkeit und niedrige Preise. In die ayurvedische Praxis zieht nun ein Maklerbüro ein. Die Gasse ist zum Markt geworden.295 Während Abhishek die Straße betrachtet, spricht ihn ein Schuhflicker an. Er erinnert sich an die alten Tage, als es noch ruhiger zuging und nicht alle durch die Gegend hasteten, als es noch mehr Bäume in der Stadt gab und das Haus der Christin Maria noch nicht ganz heruntergekommen war. Kumar macht jetzt Karriere in Delhi und vernachlässigt seine früheren Kontakte und familiären Pflichten. Abhishek bedauert, dass es nun, fünf Jahre nach seinem Umzug, weniger Grün gibt und manche alte Häuser verfallen, während ständig neue Geschäfte eröffnen. Als er beruflich nach Chandigarh umziehen muss, fällt ihm der Abschied dennoch schwer: „Vom Zug aus blickte ich der Stadt nach. Ich erinnerte mich an eine Stadt. Eine Stadt, in der eine Gasse war. Eine Gasse, in der ich das Fest menschlicher Beziehung gefeiert habe.‍“296
Vivek beschreibt das Ideal eines lokalen Gefüges, das sich über Beziehungen und traditionelle Hierarchien definiert, und das von schleichenden ökonomischen Einflüssen von außen gefährdet ist. Symptomatisch steht hierfür das Maklerbüro, das in die ehmemalige ayurvedische Praxis einzieht. Die Gasse – der Inbegriff des Lokalen – manifestiert sich als erstrebenswerte Form städtischen Zusammenlebens. Sie ist eine Lokalität, die über ihre geographische Bedeutung hinaus als Keimzelle traditionellen urbanen Zusammenlebens im weiteren Familienkreis (joint family) oder in engen Nachbarschaftsbanden verstanden wird. Gassen oder Nachbarschaften (mohallās) dient auch in anderen Geschichten als gesellschaftlicher Mikrokosmos, in dem die städtische Modernisierung immer auch vor dem Hintergrund gesehen wird, in welche Richtung sich die Nation entwickelt.297 Der Erzähler nimmt die Auswirkungen der wachsenden Urbanisierung und Kommerzialisierung als Bedrohung für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt und für die Diversität des Lokalen wahr, welches das Zentrum seiner Welt bildet.
Die Gasse steht für traditionelle Werte und gesellschaftliche „Einheit in Vielfalt“ – dem Wahlspruch für das unabhängige Indien – die zu zerbrechen drohen. In diesem Licht liest sich Viveks Geschichte wie eine Homogenitätserzählung, die sich durch „kulturkritische Selbstanklage und Idealisierung des ‚Einen‘, das in Fragmente zu zerfallen droht“, auszeichnet.298 Eine solche Darstellung steht dem stadtsoziologischen Konzept von der Dialektik des Lokalen und Globalen, die sich wechselseitig beeinflussen und hervorbringen, entgegen. Die lokale Lebenswelt (Gasse) ist bei Vivek eine authentische Sphäre, in die das Globale einbricht. Auch der moralisierende Gestus, in dem die Novelle erzählt wird, unterstreicht eine konservative Sichtweise auf die zunehmende Kommerzialisierung der städtischen Lebenswelt, wie sie in den Neunziger Jahren, der Entstehungszeit der Erzählung, gerade für die unteren Mittelschichten stark spürbar gewesen sein dürfte.
Mit einem ganz ähnlichen Thema – dem kulturellen und sozio-ökonomischen Wandel unter dem Eindruck des globalen Tourismus in der Provinzstadt Varanasi (Banaras) – beschäftigt sich ein anderes Buch, das wenige Jahre nach Viveks Novelle erschien: Kashinath Singhs „Mohalla Assi“ (Kapitel 4.2). Auch Singh (geb. 1937) erschließt die heilige Stadt am Ganges aus einer lokalen Perspektive.299 Im Gegensatz zu Vivek tut er dies aber auf eine satirische und erzählerisch sehr viel vielschichtigere Weise, bei der die simplifizierende Hierarchie von global und lokal permament durchbrochen und verdreht wird. Das Lokale wird nicht nur zum Empfänger globaler Einflüsse wie dem Tourismus, sondern produziert diese aktiv mit. In der selbstironischen Darstellung des Erzählers wird das Viertel Assi durch den Vergleich mit Paninis Grammatik (aṣṭhādhyāyī) zum Nabel der Welt erklärt, während der Stadt Banaras lediglich die untergeordnete Funktion eines Kommentars (bhāṣya) zukommt und der Rest der Welt, v.a. Amerika, gar zu dessen Subkommentar (ṭīkā) degradiert wird.300 Das Viertel wird durch diesen Vergleich nicht nur zum geographischen Mittelpunkt der Welt, sondern auch zur autoritativen Instanz für die Deutung der heiligen Stadt am Ganges. Ein Großteil der Handlung ist in und um einen Teeladen herum angesiedelt, der zum Gradmesser für das urbane Ethos wird. Heinz Werner Wessler resümiert:
Assī is the microscopical image of traditional Banāras as a whole, and Pappū’s tea shop is again Assī in a nutshell. […] Mastī [Joy of life, J.H.] is present in Kashinath Singh’s novel, but at the same time the world and its problems are very much alive in the talk among the costumers in the teashop. Their interactions are full of comments not only on local but also on national and international politics. ‚The experts may have explained globalization, liberalization, multinationalism – and many other kinds of -izations in their own way, but Lāṛherām has understood it in his own way.‘301
Auf der lokalen Ebene werden regionale, nationale und internationale Belange diskutiert und vor dem Hintergrund des florierenden Geschäfts mit Touristen entsteht ein eigenes, lokales Verständnis von westlich geprägten Konzepten wie das der Globalisierung. Die Frage, ob Singh mit seinem Roman nicht über ein urban village schreibt, ist daher mit Skepsis zu begegnen. Zwar lässt die große Bedeutung von Gemeinschaft vermuten, dass sich der Mohalla Assi aus einem Netz zwischenmenschlicher Beziehungen und Abhängigkeiten konstituiere,302 jedoch deckt obiges Zitat die street cleverness auf, mit der die Bewohner mit wirtschaftlichen und sozio-politischen Transformationen umzugehen verstehen, indem sie abstrakte Prozesse wie Globalisierung und Liberalisierung in ihrem eigenen, lokalen Verständnis interpretieren.
Singhs Roman macht deutlich, dass Orte des Konsums wie der Paan- und der Tee-Laden zu wichtigen öffentlichen Knotenpunkten des sozialen und politischen Lebens der Einheimischen gehören. Diese Orte sind integraler Bestandteil des urbanen Alltags.303 In Jitendra Bhatiyas „Deadline“ (samay-sīmānt, Kapitel 3.1) trifft Subhash, der Hauptprotagonist, beim abendlichen Herumlaufen am Paan-Laden seinen Bekannten Birju, mit dem er daraufhin durch die Nacht zieht: Beim Paan- und Chaiwala laufen zudem Informationen über Personen aus der Gegend zusammen.304 Er bietet Raum und Zeit für Konsum, Müßiggang und ausgedehnte Nachbarschaftspflege, was natürlich Klatsch und Tratsch mit einschließt. Mehr als das, die Teebude ist bei Singh ein politischer Ort, wo über politische Ereignisse (z.B. die Ram Janmbhumi-Kampagne, der die Zerstörung der Babri-Moschee 1992 folgte, die Mandal-Commission sowie regionale und nationale Wahlen) debattiert werden, und wo Wahlkämpfe ausgetragen werden.305
Was die Teebude für ein eher kleinbürgerliches Publikum ist, ist das Kaffeehaus für das großstädtische Milieu von Intellektuellen, Künstlern, Geschäftsleuten und Studenten. Jagadish Chaturvedi erzählt in „Connaught Place“ aus der Perspektive eines Neuankömmlings, der in den Coffee House-Zirkel eingeführt wird, wie Neu-Delhi in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit eine magnetische Wirkung auf junge Hindi-Literaten und -Kritiker ausübte.306 Der Roman steckt voller Anspielungen auf reale Persönlichkeiten der damaligen Zeit, darunter Shrikant Varma und Ravindra Kaliya,307 und auch die Widmung des Autors richtet sich an all jene, mit denen er „denkwürdige Abende“ im Tea House verbracht hat.308 Die Ortsbezeichnung „Connaught Place“ verweist daher nicht nur auf das geographische Zentrum Delhis; es steht auch für die Zeit der 1950er und 60er Jahre, in der Tee- und Kaffeehäuser die Hotspots der Literatenszene waren.309 Als bedeutende Versammlungsorte für örtliche Künstler und Intellektuelle stehen sie in der Tradition einer bengalischen Institution, dem sogenannten aḍḍā („Treffpunkt“ oder „Versammlungsort“). Der Begriff bezeichnet regelmäßig stattfindende Zusammenkünfte der respektablen Gesellschaft (bhadralok) im kolonialen Bengalen zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch wenn die aḍḍāvālas ganz bewusst den Vorbildern, nämlich Salons und Kaffeehäusern in Paris, London und Berlin nachfolgten, bildeten sich doch ganz eigene lokale Umgangs- und Kommunikationsformen aus, mit der Europa, Dipesh Chakrabarty zufolge, metaphorisch „provinzialisiert“ wurde.310
Ravikant Sharma skizziert in einem Aufsatz, wie das Coffee und Tea House in Delhi um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Magneten des öffentlichen Lebens wurde: „Writing about coffee (or tea) houses, in other words, is writing about a key public space that made literary and journalistic imaginary of a modern city possible.‍“311 Durch die Netzwerke, die sich rund um eine Tasse Chai oder Kaffee sponnen, entwickelten sich die Tee- und Kaffeehäuser im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu wichtigen Kreativzellen für die auf Hindi schreibenden Literaten, Journalisten, Karikaturisten und andere Bild- und Sprachkünstler, von denen einige autobiographische Erinnerungen an das Coffee House der ersten postkolonialen Jahrzehnte zeugen. Zum Beispiel zollen Nirmala Jain (geb. 1932) mit „Delhi, Stadt für Stadt“ (dillī śahar dar śahar) und Baldev Vanshi (geb. 1937) in „Delhi Tea House“ (dillī ṭī hāuz) dieser Zeit ihren Tribut.312 Vanshi, Herausgeber der umfangreichen Anthologie mit Essays und Memoiren, setzt die Geschichte des Delhi Tea House mit der Geschichte literarischer Aktivitäten in der Hauptstadt gleich. An einer Stelle beschreibt Vishnu Prabhakar lakonisch, wie die Anhänger der einzelnen literarischen Schulen (Nayī Kavitā, Nayī Kahānī, Akahānī etc.) zu je zwei, drei Leuten, peinlich getrennt voneinander, unterschiedliche Tische besetzten.313 Über derlei Lagerbildungen hinaus beschreiben Autoren wie Ravindra Kaliya das Delhi Tea House vor allem als einen geselligen Ort mit verbindender Wirkung: Die Besucher – Bürokraten, Intellektuelle, die politische Elite – versammelten sich hier am Feierabend,314 genossen die Geselligkeit und tauschten sich über Literatur, Politik und das aktuelle Weltgeschehen aus. Das Tea House bot einen Ort, wo sich auch Zugezogene, darunter auch viele Flüchtlinge nach der Teilung, zu Hause fühlen und sich an den Debatten der jungen Republik beteiligen konnten (wenngleich das Publikum vor allem aus Männern bestand).315
Gerade in jüngerer Zeit sind den Tee- und Kaffeehäusern literarische Denkmäler gesetzt worden, was wohl mit ihrem Verschwinden zu tun hat. Sharma reiht den Verlust dieser Institution in Delhi und anderen Städten in eine Entwicklung ein, bei der weniger rentable Geschäfte und mittellose Bürger seit den 1980er Jahren zugunsten städtischer Modernisierungs- und Prestigeprojekte wie der Asian Games (1982) und großer Ketten wie Barista verdrängt werden.316 In einer dichterischen Elegie auf die Institution des Coffee House widmet Rajkumar Kumbhaj (geb. 1947) die ersten drei Strophen ihrem einzigartigen Kosmos:
I
Hier gab es mal ein Coffee House
das in der Zeit zurückgeblieben ist, echohaft
dort, wo das Coffee House bis gestern stand
ist jetzt ein Schutthaufen
die Gedanken, die dort verschüttet sind, erblicken nie wieder Tageslicht
sie bilden das Fundament der Kultur
II
Im Coffee House gab es viele Ecken
in der einen Ecke saßen immer ein paar vom Typ Unternehmer
in der einen wurde getratscht, in der anderen gekumpelt
während in einer Ecke die weltgrößten Motzer saßen
residierte in einer anderen die vermeintliche High Society der Stadt
in einer Ecke Makler, Bauherren und Verteidiger
wiederum in einer anderen ein paar Mädchen
die mit ihren paar Freunden selige Stunden verbrachten
selbst als der Kaffee schon kalt war
ging die Unterhaltung aus Blicken weiter
Im Coffee House gab es viele Ecken
In einer Ecke saßen auch die Intellektuellen
die in ihre Kaffeetassen eine ganze Regenzeit zusammenweinten
und glücklich waren.
III
Dieses Coffee House von einst,
das beherbergte unzählige Meinungensverschiedenheiten
und in diesen unzähligen Meinungsverschiedenheiten
bestand doch immer Einigkeit darüber,
dass es immer Uneinigkeit geben müsse.
[…]317
Der Dichter, obwohl er die goldene Ära des Coffee House selbst nicht miterlebt hat, ehrt es als kulturelles Zentrum, wo die Städter im Sinne von Jürgen Habermas Handlungsraum eine demokratische Streitkultur pflegten und öffentliche Diskussionen anregten.318 Es war, wie Sharma es zusammenfasst,
a physical network of networks, the middle class intellectuals were capable of reaching out to and connecting with a wider national, South Asian and global world – in ways real and imaginary. The source of this creative energy was self-consciously aesthetic and political on the one hand and individualistic and collective on the other. Going there was not just pastime: as an adda it was a serious practice and site of intellectual exchange and critical pedagogy in the fields of journalism and literature.319
Dabei existiert das United Coffee House in Delhi nach wie vor. Heute ist es allerdings, im Unterschied zu den 1950er Jahren, als sich dort auch Menschen mit sehr wenig Geld in der Tasche versammelten, in erster Linie ein hochpreisiges Restaurant mit Nostalgie-Charme, das sich mittellose Künstler nicht leisten können. Uday Prakash dürfte daher in seiner Kürzestgeschichte „Hölle“ (narak) eher auf das Indian Coffee House auf der Baba Kharak Singh Road, etwas abseits von Connaught Place, meinen, auf dessen Dachterrasse zwei Schriftsteller über ihre Kollegen herziehen:
Das Coffee House befand sich auf dem Flachdach eines fünfstöckigen Gebäudes.
Sie saßen sich gegenüber, die Kaffeetassen vor sich auf dem Tisch.
„Er hat wieder einen Schrott zusammengeschrieben,“ sagte der eine, und sah den anderen an.
„Er kann nichts anderes schreiben als Schrott“, setzte der andere nach.
„Hast du gelesen, was er geschrieben hat?“, fragte der erste beiläufig.
„Nein. Du?“
„Ich lese keinen Schrott von schrottigen Leuten“, sagte der erste filmreif.320
Nach kurzem Überschlag kommen sie zu dem Schluss, dass eigentlich auch alle anderen durch die Bank weg miese Typen sind, denen man besser nicht über den Weg traut:
„Ja, echt du, in welcher Hölle sind wir da nur gelandet?“, sagte der erste noch deprimierter.
Sie sahen sich an. So wie Engel sich ansehen.
Dann lächelten sie sich an. So wie sich Engel in der Hölle anlächeln.321
Prakash nutzt in dieser bissigen Skizze das legendäre Coffe House als Kulisse für Lästereien unter Schriftstellern, womit der Mythos vom Ort kritischen Meinungsaustauschs, den Rajkumar Kumbhaj in seinem Gedicht heraufbeschwört, ausgehöhlt wird. Wäre diese Geschichte, die den Schriftsteller als größten Gegner seiner Zunftgenossen entlarvt, in Mumbai (Bombay) oder Kalkutta angesiedelt, hätten sich die zwei Dichter vielleicht in einer Bar getroffen. Neben local train, Gehweg und Unterwelt zählt Suraj Prakash die „Bierbar“ (bīyar bār) zu einem der zentralen Orte in Mumbai-Textstädten, an dem man Freud und Leid mit einem Glas Schnaps begeht.322 Tatsächlich scheinen Alkohol, Bars und Clubs ein integraler Bestandteil der urbanen Erfahrungswelt und eines geselligen, ausgelassenen Lebensstils vorwiegend in Mumbai (Bombay), mitunter auch Kalkutta, zu sein. Manoj Rupras Saxophonist ist Stammgast in einem Club, in Swadesh Bharatis „Stadtfreund“ (Kapitel 3.4.1) findet die Begegnung der zwei Hauptfiguren am Silvesterabend in einer Bar in Kalkuttas beliebter Ausgehmeile Park Street statt, in Bhatiyas „Deadline“ führt eine nächtliche Taxifahrt zu einem Etablissement, in dem Alkohol ausgeschenkt wird. Im Gegensatz zu Delhi323 wird Alkoholkonsum in Mumbai (und Kalkutta) einem institutionalisierten und gepflegten urbanen Lebensstil zugerechnet, ein Umstand, der auf die koloniale Geschichte und die Bedeutung der beiden jüngeren Städte als Handelszentren mit multi-ethnischer Bevölkerung zurückzuführen ist. Somit steht die Bar nicht zuletzt für den kosmopolitischen Stadtcharakter.
All diese literarischen Schauplätze – ob es sich nun um Wahrzeichen (landmarks) handelt, um reale oder fiktive Schauplätze, oder um zentrale Orte des städtischen Lebens – erschließen Stadtraum und urbane Erfahrung auf zwei Ebenen. Einmal werden stereotype Topoi durch die Einbeziehung realer und fiktionaler Lokalitäten um eine subjektive Wahrnehmungsperspektive erweitert. Landmarken und Wahrzeichen ermöglichen sowohl der Figur als auch dem Leser, sich in der fiktionalen Stadtlandschaft, der Textstadt, zu orientieren. Durch die Kontrastierung populärer Orte mit (inter)subjektivem Erleben – der einsame Neuling in Rupras „Unstrument“ sehnt sich in der Fremde nach einem Freund – brechen stereotype Bilder wie das des romantischen Freizeitmagneten Marine Drive auf. Gerade an beliebten Orten gleicht das Individuum die Verheißungen der Metropole mit seiner oft ernüchternden Lebenswirklichkeit ab. Durch ihre Figuren reflektieren die Autorinnen und Autoren die ikonische Bedeutung städtischer Wahrzeichen und besetzen sie mit eigenen, populären Klischee teils widersprechenden „Sinnprovenienzen“, d.h. Erlebnissen und Erzählungen, die das Stadtbild ausmachen. Auf einer sozialen Ebene geben zentrale Orte Aufschluss über lebensweltliche Erfahrungen und Praktiken, urbane Beziehungsgeflechte und den Umgang mit städtischem Wandel: An sozialen Knotenpunkten wie der Teebude pflegen die Bewohner den nachbarschaftlichen Austausch und führen rege politische Debatten, wie bei Kashinath Singh. Globale Entwicklungen werden im Zwiegespräch (und Widerstreit) mit lokalen Praktiken und Überzeugungen sichtbar. Literarische Topographien geben nicht nur Aufschluss über die Strukturierung der Textstadt durch bedeutende Lokalitäten, sondern auch über die sozio-ökonomische, historische und politische Bedeutung dieser Orte für ihre Bewohner angesichts globaler Einflüsse und eines Wandels auf allen Ebenen urbaner Lebenswelt, der als immer rapider erlebt wird (siehe auch Kapitel 4).
Um urbanes Leben aus einer individuellen Wahrnehmungsperspektive zu beschreiben, gehen Autorinnen und Autoren ganz nah an das erlebende Subjekt heran und geben dessen Gefühle und Gedanken wieder. Die Erzählperspektive ermöglicht es, Raumbilder über die Bewusstseinsvorgänge des Erzählers bzw. die Wahrnehmung der Charaktere herzustellen.
2.4 Figuren- und Erzählperspektiven
Die Position des Betrachters und die Blickwinkel und Sichtachsen, die damit verbunden sind, dienen als erzählerisches Mittel, um den Stadtraum in unterschiedlichen Ausschnitten durch die Figur oder/und den Erzähler zu erschließen. Michel de Certeau hat zwei Positionen unterschieden, von denen aus wir die Stadt wahrnehmen und betrachten. Die eine Position zeichnet sich durch ihre Fixierung im geometrischen Raum aus, das heißt, die Stadt wird von einer erhöhten Position aus betrachtet wie eine Karte (carte).324 Die andere Position ist dynamisch, denn sie entsteht durch die Gehbewegung am Boden (parcour) und beschreibt einen „relationalen Raum der Bewegung“.325 Anhand dieses bildhaften Vergleichs erläutert de Certeau den Unterschied zwischen dem ordnungssystembezogenen Ort (lieu) und dem durch Erfahrung konstituierten Raum (espace).326 Eine Panoramaaussicht auf die Stadt bietet sich von einem Turm oder, im südasiatischen Kulturraum viel naheliegender, von einem Flachdach aus. In „An der Kante“ (kagār par) greift Sara Rai den Landkartenvergleich auf:
Auf dem Dach pfiff der Wind. Er stellte sich an die Brüstung des Daches. Ihm war, als flöge sein Herz mit dem Wind. Bald ließ er den Blick weit schweifen wie ein Herrscher, der von den Höhen seiner Festung aus sein gesamtes Reich überblickte. Vor ihm lag wie eine aufgefaltete Karte Delhi. In der Mitte das quadratische Wirrwarr unzähliger kahler, kastenförmiger Häuser, in der Ferne ragten die berühmten Gebäude aus dem Smog: Das Ashok Hotel, India Gate und Rashtrapati Bhavan.327
Der Blick von oben schafft Distanz zur Stadt, die in ihrer starren Form wie eine Land- oder Postkarte erscheint. Visuelle Teilnahme bei gleichzeitiger Distanz bietet auch der Fensterblick in „Gasse Nr. 13“ oder der Blick über die Nachbarschaft (mohallā) hinüber zum Hafen von Khidirpur, im Südwesten vom Zentrum Kalkuttas gelegen, in Bhatiyas „Augenzeuge“.328 Der Blick aus dem Fenster oder von der Dachterrasse herunter in die Gasse oder Straße hat als point of view einen festen Platz in der Hindi-Literatur.329 Nirmal Verma (1929-2005) nutzte diesen Blickwinkel in „Der verlorene Strom“,330 um aus der Perspektive eines Schulmädchens das Treiben in einer kleinstädtischen Gasse zu beobachten und Geschichten rund um die Bewohner dieser Gasse zu erzählen. In einem Essay erörterte Verma im Zusammenhang mit der Genrefrage und der Art und Weise, wie und wo in Indien Geschichten entstehen und (weiter-)erzählt werden, die Bedeutung der Dachterrasse.331 Bei Rajendra Yadav (1929-2013) ist das Dach der Ort, an dem der Konflikt zwischen individuellen Ambitionen und sozialen Zwängen offen zutage tritt. Yadav erzählt in seinem Kurzroman „Der ganze Himmel“ (sārā ākāś) vom rebellischen Samar Thakur, der seine junge Braut, mit der er unfreiwillig verheiratet wurde, ignoriert.332 Die Dachterrasse ist bei Yadav und anderen jedenfalls ein Ort, an dem sich junge Erwachsene – das gilt auch für Mädchen und junge Frauen – der sozialen Kontrolle der Großfamilie entziehen können und sich frei fühlen können.333
Eine andere Möglichkeit, das städtische Setting von oben einzufangen, ist ein im Raum nicht klar positionierter allgegenwärtiger Erzähler wie im Gedicht „Ein Abend in Delhi“ (dillī meṃ ek śām) von Vidya Sharma (geb. 1941):
Der erste Abend im Kartik334
Die Kreuzung mit den Apotheken
Langsam senkt sich die Dunkelheit herab
und Menschen kehren von der Arbeit heim
überall Fahrzeuge und Gewusel.
Von Osten lugt der Mond herein
traurig-verschwommen – ein Funken Hoffnung – oder
ist es dieses Aufgekratzte, wenn einmal die Müdigkeit überwunden ist
verlegen lacht er runter
und heftet sich ans Himmelszelt
Unten auf der Erde sputen sich alle
schnell heim ins Nest,
kentern im Sprung, kletternd, taumelnd den Bus,
schleppen alles Gewicht bis zur Straße
haben sie es einmal rein geschafft
und sind in Gleichheit eingeschnürt
nehmen sie jeden Quadratzentimeter in Beschlag
wie Wasser, das den Boden überschwemmt.
Die Leute, die hier sitzen und stehen,
sind trotz aller Unterschiede
gleich.
Und dort oben
nervös von der Hektik
sieht der Mond beim Versuch zu lachen
noch gelber und trauriger aus
Alle sind müde und abgekämpft, wer guckt da schon
hoch in den Himmel?335
Eine extravagante Möglichkeit, um von oben einen Blick auf das große Ganze zu gewinnen, zeigt die Titelgeschichte von Rais Band „In der Wildnis“ (biyābān meṃ) auf. Eine Schriftstellerin, die unter einer Schreibblockade leidet, macht es sich zur Aufgabe, die stille und etwas zurückgebliebene Tochter ihrer Haushälterin aus der Reserve zu locken. Bei einem Spaziergang steigen die beiden heimlich in einen Bus, der ausrangiert am Straßenstand steht, und erleben ein Abenteuer der phantastischen Art. Als die Frau zum Spaß am Lenkrad dreht, hebt der Bus plötzlich ab:
Mehr noch überrascht mich, dass ich spüre, wie der Bus langsam von der Erde abhebt und höher und höher steigt. Mein Herz hüpft. Wir schauen hinunter, ein stilles Mädchen und eine stille Frau. Wir können die Straße sehen, die Schule, unser Haus, das ganze Viertel mit all den vielen Menschen, die dort leben. Wohl nie zuvor hatte ich einen besseren Blick auf das alles gehabt.336
Der magische Realismus dieser Passage verdeckt kaum die Tatsache, dass dynamische Blickwinkel auf die Stadt ein altbewährter Kniff aus der Trickkiste der Erzähltechniken sind. Denn viele Erzählungen, die im urbanen Umfeld angesiedelt sind, arbeiten mit verschiedenen Erzählmodi und -ebenen,337 die es ermöglichen, aus dem Hauptschauplatz herauszuzoomen um eine größere Einheit der Stadt in den Blick zu nehmen oder umgekehrt. Sara Rai macht sich diese Technik in „Labyrinth“ (bhūlbhulaiyāṁ) zunutze, um eingangs den größeren Kontext und Schauplatz, die Stadt Varanasi (Benares), vorzustellen, und anschließend in mehreren „Einstellungen“ immer weiter in die Stadt hineinzuzoomen:
Das hier ist Benares, die heilige Stadt Kashi, auf der Spitze von Shivas Dreizack, mit keiner alten Stadt der Welt vergleichbar. Seit Anbeginn der Zeit blüht hier der Handel mit Leben und Tod. Die Stadt Benares lebt, sie gewährt Toten und Sterbenden eine Zuflucht. Im Labyrinth der Gassen Menschenmassen. Dieser Ozean besteht aus Menschen, die nur noch dem Sterben entgegenleben. Wer in Benares stirbt, wird in den Himmel kommen, ins Paradies gelangen. Diese Überzeugung ist so alt wie die Wahrheit. Selbst ich habe nach all der Zeit hier begonnen daran zu glauben. So ist doch der Glaube die letzte Wahrheit.338
Rai zitiert hier die mytho-historische Bedeutung der heiligen Stadt am Ganges.339 Mark Twain behauptete, sie sei „älter als die Geschichte, älter als die Tradition, älter sogar als die Legende“340 und zitierte damit das Narrativ von der uralten, ewigen Stadt. Wenngleich Varanasi auf eine nachweislich 1500-jährige Geschichte zurückblickt, ist die heutige Stadt architektonisch und symbolisch v.a. eine Rekonstruktion des 18. Jahrhunderts.341 Der Legende nach schwebt sie im Äther und wird von Shivas Dreizack gestützt.342 Neben dem mythologischen Alter greift Rai im obigen Zitat einen weiteren Topos auf, der das Stadtbild von Varanasi prägt, und schon in Reiseberichten des frühen 19. Jahrhunderts auftaucht, wie Diana Eck mit Verweis auf Bischof Reginald Heber dokumentiert: das Gewirr der Gassen.343 Rais Erzählerin verengt das Blickfeld in einer kosmischen, dann irdischen Draufsicht graduell auf die Stadt Benaras, die aus einem Labyrinth von Gassen und Menschenmassen besteht. Auch im nächsten Absatz wird so verfahren: Nach der mythologischen Beschreibung als Stadt der Geister wird der Blick auf Tempelkuppeln, Minarette und Türme gelenkt. Dieser Einstellung folgen schließlich mehrere Details, die nur durch Skalierung erfasst werden können, wie die abgetretene Steintreppe des Wasserreservoirs:
Es ist die Stadt der Geister. Vor Jahrhunderten verstorbene Frauen breiten stumm ihr dichtes Haar über dem Himmel aus. Die Luft wird schwer vom Atmen der Schatten. In der Röte der untergehenden Sonne senken sich diese Schatten auf Tempelkuppeln, Minarette und Türme. Das Wasser im Bassin unterhalb der abgetretenen Steintreppe hat sich von Lehmfarben in Dunkelgrün verfärbt […].344
Noch ein weiteres Mal findet in der Einleitung ein solcher Wechsel der Ebenen statt, indem der Erzähler erneut aus dem physischen Stadtausschnitt herauszoomt und die Aufmerksamkeit der Leser auf die mythologische Bedeutung lenkt:
Dieses dichte Gewebe der Stadt: Wie eine Seite in einem Geschichtsbuch. Das ist die Handschrift der Zeit selbst. Das Leben der Menschen hier zieht in seinem ganz eigenen Trott darüber hinweg. Inmitten der Betriebsamkeit des Lebens, welches von einem ins nächste Jahrhundert reicht, hausen in den Nischen die Geister.345
Hier endet schließlich die einführende Passage zu Varanasi, in der die Schichten von Historie, Mythos und Erinnerung in die Palimpsest-Metapher vom Geschichtsbuch übertragen werden. Der eigentliche Schauplatz der Erzählung, ein zweihundert Jahre altes, halb verfallenes feudales Haus (havelī), wird näher herangeholt und als die nun vorherrschende narrative Skala ganz konkret in der Stadttopographie verankert: „Ich, Kulsum Bano, wohnhaft im Noor Manzil, 18/20 Ausanganj, hinter dem Kabir Chaura Hospital“.346 „Labyrinth“ erzählt die Geschichte von Kulsum Bano und ihrem Aufwachsen als Spross einer feudalen muslimischen Familie in eben diesem herrschaftlichen havelī. Der Großteil der Erzählung spielt sich daher auch innerhalb der Mauern des Hauses und dem dazugehörigen Innenhof ab; die urbane Umgebung wird fast vollständig ausgeblendet. Mit der Beschränkung des urbanen Schauplatzes auf das Innere des Hauses erreicht die Autorin eine stärkere Konzentration auf die introspektive Welt der Ich-Erzählerin.347 Gleichzeitig verstärkt die Einbettung in mytho-historische Stadtnarrative die Selbststilisierung der Hauptfigur Kulsum Bano zu einem menschgewordenen Benaras: als eine, die schon immer da gewesen, die so „ewig“ ist wie die Stadt selbst.
Was geschieht, wenn das Individuum die Mauern des geschützten Privatraums verlässt und sich ins Getummel von Gassen, Straßen und Plätzen stürzt? Welche narrativen Techniken werden angewandt, um urbane Erfahrung und Wahrnehmung zu beschreiben? Im ersten Teil des folgenden Unterkapitels wird es darum gehen, wie Gerüche, Geräusche und Empfindungen in der Hindi-Literatur zum Raumerleben beitragen. Im zweiten Teil stehen drei prominente literarische Figuren – Flaneur, Tramp, Spektator – im Mittelpunkt der Betrachtung, durch deren Körper sowohl die urbane Umwelt als auch die Erfahrungen der Protagonistinnen und Protagonisten gefiltert und vertextlicht werden.
2.4.1 Sensorisches Stadterleben
Nasira Sharma schildert in der Erzählung „Steingasse“ eine Rikscha-Fahrt, die die junge Farida durch die Gassen und Straßen der Nachbarschaft (vermutlich in Alt-Delhi) führt. In schneller Abfolge werden mittels erlebter Rede die sensorischen Eindrücke quasi in Echtzeit348 dokumentiert, die während der Fahrt auf Farida einprasseln. Durch ihre performative Intensität steht diese Passage in starkem Kontrast zur übrigen Erzählung, die hauptsächlich innerhalb des Hauses spielt und die Enge zum Ausdruck bringt, in der die junge Farida aufwächst:
Nachdem sie Saleha an der Ecke rausgelassen hatte, war Farida allein in der Rikscha. Als sie an dem Toddy-Lokal vorbeifuhren, wurde ihr mulmig zumute. Zerbrochene Tonbecher, der feuchte Geruch von Selbstgebranntem, Hunde, alle möglichen verkommenen Typen. Hätten sie Saleha nicht absetzen müssen, wären sie wohl andersherum gefahren. Kaum zu glauben, welch ein Betrieb in dieser Gasse herrschte! Da waren Pfannen, Schneider, Kornröster, ein Getreideladen, Wäscher, Esel, Häuser, Kinder, Tempel, Moscheen, vor ihr der Rikschafahrer, der in einem fort fluchte, Eis, Rahm, Barfi, Kulfi – Köstlichkeiten aus aller Welt und dann noch das Toddy-Lokal! Zu beiden Seiten des Lokals die vollgemüllten Rinnsteine. Diese offene, lärmige Gosse war schier zum Fürchten. […] Der Rikschawala, schon schweißüberströmt, trat jetzt fest in die Pedale; der heiße Gegenwind blies so stark, dass er kaum vom Fleck kam. Als sie sich dem Glockenturm näherten, sprang die Kette.349
Die vielen Beschreibungen erzeugen auf knappstem Textraum einen besonderen Sog; die Schnelligkeit, mit der Farida auf der Rikscha unterwegs ist, schlägt sich in der Rezeption nieder. Der „feuchte Geruch“ von Schnaps (eine Synästhesie), die lärmende Gasse, der heiße Wind – all diese Eindrücke lassen vor den Augen des Lesers einzeln und in ihrer Gesamtheit einen bunten und widersprüchlichen Sinnesraum entstehen. Gewiss, „[c]ities conceived of as sensory environments and sites of habitation generate their own distinctive smells and sounds. They are full of visual and tactile stimuli, each with their own range of symbolic meanings for the sentient, perceiving subject.‍“350 Nun könnte man provokativ fragen, ob denn visuelle, olfaktorische, haptische und akustische Eindrücke nicht eine conditio sine qua non menschlicher Welterfahrung sind und daher eine gesonderte Betrachtung erfordern. Aus zwei Gründen trägt eine Untersuchung sinnlicher Wahrnehmung in der Hindi-Stadtliteratur dazu bei, die narrative Konstruktion von Raum durch den Körper zu verstehen, durch die Sinneseindrücke aufgenommen und verarbeitet werden. Einmal tragen Gerüche, Geräusche usw. zu einem lebendigen Leseerlebnis bei; der Leser kann sich besser in die Umgebung der Textstadt einfühlen. Zum anderen erzeugen die Interaktionen zwischen dem „verkörperten Selbst“ und dem urbanen Raum351 Vorstellungen von Stadt: Sensorische Erfahrungen in der Textstadt strukturieren Topographie, Atmosphäre und Erinnerungsraum, unterscheiden sichere von gefährlichen Orten innerhalb der Stadt und erschließen Lebensräume auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen.
Geräusche und Gerüche
Wie lässt sich die Geräuschkulisse einer Megastadt in Worte fassen? Nehmen die Protagonistinnen und Protagonisten das allgegenwärtige Hintergrundrauschen der Metropole überhaupt wahr, und wenn, wie und von wo aus? In beinahe jedem der hier vorgestellten Texte sind vereinzelt Hinweise auf den Klangteppich der urbanen Umwelt eingestreut. Obwohl das Auge dem Ohr in der Wahrnehmung des Städtischen eindeutig überlegen ist, fällt doch auf, dass akustische Eindrücke insbesondere dann überwiegen, wenn das städtische Treiben auf ein Minimum reduziert ist, etwa nachts oder bei Tagesanbruch. Wenn die Stadt schläft, treten einzelne Stimmen und Klänge deutlicher hervor als tagsüber, wenn das Verkehrsrauschen, Hupen und Stimmengewirr einen gleichförmigen Geräuschteppich bilden.
Präzise Beobachtungen der urbanen Umwelt machten sich schon Autoren der Nayī Kahānī zunutze. Mohan Rakesh (1925-1972) zum Beispiel schildert in „Die schlafende Stadt“ (soyā huā śahar)352 – eine Kurzgeschichte aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre – die Geräuschkulisse auf der Straße, um zwielichtige Geschehnisse, die sich in den frühen Morgenstunden bis zum Einbruch der Dämmerung ereignen, in ihrer atmosphärischen Dichte abzubilden. Die Personifikation im Titel deutet darauf hin, dass der Organismus Stadt in der Nacht seine Aktivität einstellt. Wie viel Leben indes im schlafenden Stadtkörper steckt, verraten die Geräusche (ein Jeep nähert sich tuckernd, der Wind pfeift, ein Hund bellt, irgendwo klopft jemand an eine Tür etc.). Dadurch, dass die visuelle Wahrnehmung eingeschränkt ist, kommen die anderen Sinne, vor allem das Gehör, stärker zur Geltung. Rakesh gelingt es, die Perspektive vom Straßenrand konsequent beizubehalten und damit eine möglichst realistische Erzählsituation zu schaffen, die durch die düstere Grundatmosphäre beinahe an einen Film Noir erinnert.
Während Rakesh das Geschehen durch die wirklichkeitsgetreue Schilderung der Geräusche in einem eins-zu-eins-Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit wiedergibt, nutzen andere Literatinnen und Literaten – insbesondere seit den 1990er Jahren – Geräuschkulissen, um vergangene Stadtkultur oder Erinnerungen ihrer Protagonisten aufleben zu lassen. Alka Saraogi macht davon in den Rückblenden ihres Romans „Umweg nach Kalkutta“ Gebrauch, dessen Handlung passagenweise in der ehemaligen Hauptstadt Britisch-Indiens der 1940er Jahren angesiedelt ist:
Der Lärm der Kreuzung, das Klingeln der Riksha-Fahrer, vermischt mit dem Glockengeläut, dem Schlagen der Turmuhr, dem Blasen des Tritonshorns nach dem Gottesdienst und dem Ruf ‚Jay ho, jay ho‘ […] drang bis hinauf in das erste Stockwerk. Sonnabends stand ein Pandit mit einer eisernen Figur des Gottes Shani in einer Opferschale aus Messing vor dem Tempel, und sein Ruf ‚Shani Maharaj, Shani Maharaj‘ mischte sich in all das lärmende Durcheinander auf der Kreuzung.353
Eine andere Passage mit etwa demselben zeitlichen Hintergrund schildert, wie die Familie ein Picknick vor dem Victoria Memorials veranstaltet:
Es war großartig, auf dem Rasen vor dem Victoria Memorial zu sitzen und das Treiben auf der Chowringhee zu beobachten. Der Lärm, den Autos, Taxis, Busse, Straßenbahnen und Pferdefuhrwerke machten, hatte etwas Faszinierendes. Dazu die blinkenden Lichter am Abend, die süßen Klänge von Musik aus dem Bristol-Hotel, das Grammophon […].354
Dieses Beispiel zeigt, dass Erinnerungen mit Klängen verbunden sind und umgekehrt Klänge Erinnerungen auslösen: Auch in dem Gedicht „Lastwagen in der Nacht“ (rāt meṃ ṭrak) von Sanjay Kundan ruft das laute Vorbeifahren eines nächtlichen Lastwagenkonvois beim lyrischen Ich Erinnerungen an Zuhause wach. Der nächtliche Lärm zeugt vom Energiehunger der Stadt; die LKWs verbinden das Wirtschaftszentrum mit der Peripherie.
Mitten in der Nacht reißt mich mehrmals
das Dröhnen der Laster aus dem Schlaf
da fährt sie vorbei, eine Kolonne aus Trucks
streift die Stadt, wobei
es ein paar Mal so laut hupt
dass ich meine, mein Haus sei
ein anderer Laster,
der aus der Bahn gehupt werden muss
ungestüm wirken sie
knurren die Dunkelheit an, treiben sie an mit ihren Lichtern
um so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen.
Vielleicht ist ein Laster aus meiner Heimat dabei
der Kohle geladen hat und der Fahrer von dem,
der gerade losfährt zu irgendeiner Hütte
wiegt sich bestimmt zur Melodie
einer Bhojpuri-Kassette hin und her
Vielleicht ist auch ein Laster dabei
der aus dem tiefsten Süden kommt
und vielleicht bis in die äußerste Ecke
des nördlichsten Zipfel des Landes muss
wo die Berge beginnen
[…]
Immer wenn die Stadt so reglos daliegt
ist das Leben wie aufgeschoben
Die Betriebsamkeit der Welt geht weiter wie bisher
Bei jedem Dröhnen eines Lasters
gucke ich dann hoch
zur Decke
wie in den Himmel
und stelle mir vor, ich läge auf dem offenen Lasterdach
Irgendwann schlief ich immer ein
Und schreckte ich früh aus dem Schlaf hoch,
kommen mir die Laster in den Sinn
Die werden jetzt schon
über hundert Kilometer weiter sein.355
Wie Geräusche können auch Gerüche das erlebende Subjekt in Erinnerungswelten abtauchen lassen. Uday Prakash erzählt in der Skizze „Am Nachmittag“ (dopahar) von den Gerüchen auf dem sommerlichen Bazar:356
An Nachmittagen waren immer Honigmelonen gefragt, die jemand vom Bazar holen musste. Wann immer ich zu jener Jahreszeit auf den Bazar ging, roch ich vor allem die Wassermelonen heraus. Selbst wenn dort noch die Gerüche von Pferden, Stinkasant und anderen Gewürzen in der Luft lagen, neben Staub und dem Geruch von frisch mit Pfeilwurz gestärkten neuen Baumwollkleidern – an Sommernachmittagen hing über allem der Geruch von Honigmelonen. Es war, als befände sich der gesamte Bazar in einer riesigen Melone und wir alle spazierten auf einer Straße durch diese Luft hindurch. Es gab dort auch Obst, Gurken aller Art, Wassermelonen, Kulfi, Faluda und andere Dinge. […] Doch tatsächlich war es genau dieser Geruch, der mich, kaum dass ich mich dem Bazar näherte, wo die Ladenschilder und die Menschenmenge in Sichtweite kamen, mehr und mehr einhüllte. Meine Augen sahen all die Farben, den ganzen Trubel, meine Ohren vernahmen das körperlose Murmeln unzähliger fremder Menschen, die alle gleichzeitig sprachen, ununterbrochen wie im Mantra.357
Während der Trubel und die Klänge in der Erinnerung eigenartig fern und fremd bleiben, hat sich der Geruch der Honigmelonen im Gedächtnis festgesetzt. Bazar und Sommernachmittage sind für den Erzähler untrennbar mit diesem Duft verbunden. Dabei beschränkt sich die Erinnerung nicht nur auf den Geruch der Melonen. Vielmehr zieht dieser als eine Art trigger eine ganze Kette an sinnlichen Erinnerungen mit sich, die mit den Geräuschen des sommerlichen Bazars verbunden sind.
Neben ihrer Funktion, Stimmungen zu erzeugen und „Erinnerungsanker“ zu setzen, markieren Gerüche und Geräusche außerdem bestimmte Lokalitäten innerhalb der Stadt. Abdul Bismillah (geb. 1949) verknüpft im Titel seiner Erzählung „The Song of the Loom“ (jhīnī jhīnī bīnī cadariyā) das Klappern und Surren der Webstühle mit der Lebenswelt der muslimischen Weber von Banaras.358 Geetanjali Shrees „Unsere Stadt in jenem Jahr“ schildert die physische und akustische Expansion des Hindu-Klosters über die Grenzen des Campus-Geländes hinweg: „Der Lärm, der aus den Lautsprechern tönt, ist den ganzen Tag in der Universität zu hören. Mehrere Lehrkräfte unterrichten nur noch bei geschlossenen Fenstern.‍“359 Die Protagonistinnen und Protagonisten empfinden die aggressive Geräuschkulisse als Bedrohung im öffentlichen (säkularen) Raum.
Auch Gerüche können die Stadt oder urbane Lokalitäten kennzeichnen,360 allerdings ist die olfaktorische Wahrnehmung in der Hindi-Literatur stärker als die akustische mit sozial geprägten Vorstellungen von (Nicht)Zugehörigkeit und (Un)Reinheit verbunden. Wenn Autorinnen und Autoren sie beschreiben, dann handelt es sich oftmals um unangenehme, abstoßende oder tabuisierte Gerüche wie Urin,361 Müll oder Kloake.362 Dass Gerüche mehr Abscheu als Anziehung hervorrufen, illustrieren zwei Bombay-Kurzgeschichten von Jagad­amba P. Dixit (1934-2014) und Dhirendra Asthana (geb.1956). Obwohl wir es hier mit zwei Generationen von Schriftstellern zu tun haben, verbindet beide Geschichten ein sozialkritischer Impetus. Bei Dixit, der maoistischen Ideen nahestand und sich zeitweise als politischer Aktivist für die Rechte von Bauern und Adivasis einsetzte,363 konzentriert sich all die Not, Armut und Ungerechtigkeit, in der die am untersten Rand der Gesellschaft lebenden Protagonisten ihr Leben fristen, im üblen Gassengestank. Bei Asthana ruft der Geruch einer Prostituierten ambivalente Gefühle gegenüber Bombay hervor, wo die andere Seite sozialer Dynamiken in den sich auflösenden traditionellen Reinheitsregeln sichtbar wird.
Dixit nutzt in „Dreck und Leben“ (gaṃd'gī aur ziṃd'gī)364 Geruch als didaktisches Mittel, um den Leser mit allen Sinnen auf die sich zuspitzende Handlung vorzubereiten: „Wenn Sie diese Geschichte lesen, wird sich alles von Neuem abspielen. Ihre Nase nimmt einen seltsam fauligen Geruch wahr. Ihnen wird speiübel und Sie fühlen sich elend.‍“365 Die Erzählung handelt von Prostitution, Alkoholismus, Gewalt und Armut in elendsten Verhältnissen. Einer Frau, die von ihrem Mann in die Prostitution gezwungen und regelmäßig von ihm misshandelt wird, gelingt die Flucht mit ihrem deutlich jüngeren Liebhaber Mahmud. Bevor sie sich endgültig zur Flucht entschließt, geht sie aus Gewohnheit und Geldnot ein letztes Mal auf die Straße. Doch sie ist innerlich aufgewühlt und gesundheitlich so angeschlagen, dass sie sich auf einem Treppenaufgang in einer dunklen Gasse ausruht. Die wenigen Minuten, die sie dort verbringt, bilden den neuralgischen Punkt der Handlung: „Ringsherum stank es nach Dreck, Abfall und Essensresten. Trotzdem genoss sie die Dunkelheit. […] Wie sie so vor sich hindämmerte, kam sie zu einem Entschluss. Das konnte nicht alles gewesen sein. In ihr tobte ein Kampf.‍“366 Sie beschließt hier, gemeinsam mit Mahmud dem ganzen „Dreck“ (gaṃd'gī) zu entfliehen und ihr Leben (ziṃd'gī) zu retten. Die üblen Gerüche in der finsteren Gasse verweisen auf das soziale Elend, in dem sie ihr Dasein fristet. Dabei bleibt die sinnliche Wahrnehmung keine bloße Randerscheinung, die die ärmliche Gegend charakterisiert, sondern setzt bei der Hauptfigur Widerstände frei, die in dem Entschluss münden, einen Neuanfang zu wagen. Mit dieser ästhetischen Bedeutung des Gossengestanks schließt sich der Kreis zum Beginn der Geschichte, an dem der Erzähler den Leser in direkter Ansprache auf den üblen Geruch „einstimmt“.
Asthanas „Der Geruch jener Nacht“ (us rāt kī gaṃdh)367 aus dem Jahr 1994 beleuchtet die Schattenseiten Bombays und arbeitet sich über eine spannungsreiche Begegnung am ambivalenten Bild der „Stadt der Träume“ ab. Die Geschichte handelt von einem Ausflug zweier Männer, die einmal wieder richtig „einen drauf machen“ und der Enge und Einsamkeit ihrer winzigen Mietzimmer für eine Nacht entfliehen wollen. Auf der Suche nach Alkohol und Prostituierten fahren sie eine Weile mit dem Auto in der Stadt herum und landen schließlich am Strand von Juhu. Die Atmosphäre ist schummrig, zu dieser späten Stunde liegt eine „feuchte Dunkelheit“ (gīlā aṃdherā) über der Stadt. Der Titel bezieht sich auch auf den Geruch von Frauen, über den der Ich-Erzähler sagt: „Jede Frau hat ihren ganz eigenen Geschmack und Duft“.368 Während in diesem Zitat noch von „Duft“ (khuś'bū) die Rede ist, kippt die Wahrnehmung weiblichen Körpergeruchs kurz darauf ins Negative um, als eine in die Jahre gekommene Prostituierte verzweifelt ihre Dienste anbietet. Er ekelt er sich vor dem Geruch (gaṃdh) ihrer Hand, mit der sie ihn angefasst hat.
Wohl nicht zufällig gehen die Gedanken über den Geruch von Frauen mit Vorstellungen über Bombay als Objekt einer Hassliebe einher. Der Passage über den speziellen Geruch einer Frau geht eine Liebeserklärung an die Stadt voraus: „Wie intim das Leben selbst auf der Straße zugeht, dachte ich während ich mich so umsah. Ich war von Liebe zu dieser Stadt überwältigt. I love Bombay, murmelte ich gebetsartig vor mich hin und steckte mir eine Zigarette an. Die Luft war abgekühlt.‍“369 Nach der Begegnung mit der alten Prostituierten, die sich wenig später ereignet, drückt sich sein Ekel vor dieser Frau in harter Ablehnung gegenüber Bombay aus:
„Was ist los?“ Kamal war ihm nachgekommen.
„Ach nichts.‍“ antwortete ich matt, „Bring mich nach Hause. I… I hate this city. Diese ganze Armut hier.‍“370
Während der Protagonist seine extremen Gefühle auf Englisch ausdrückt, wird die Ambivalenz weiblicher Körpergerüche in dem weiten Bereich dazwischen durchweg in Hindi ausgelotet. In diesem Kontrast werden die zwei Seiten Bombays, Freiheit und Gefahr, wie sie dem Leser bereits in populären Stadtbildern (Kapitel 1) begegnet sind, in konkreten Situationen greifbar: Ein Mann sucht die Nähe zu Prostituierten und fühlt sich gleichzeitig abgestoßen von ihnen. Im Laufe des Abends kommt es zu mehreren Begegnungen mit Frauen, die alle auf der Straße ihre Dienste anbieten oder in Nachtclubs arbeiten. Geruch fungiert in der Geschichte als Geschlechtskodierung371 und als Marker für die Tabuzonen des großstädtischen Lebens in Asthanas Geschichte. Die ambivalente Haltung zu der sexuell freizügigen Stadt spiegelt sich zudem in der erotisch konnotierten Hassliebe des Protagonisten gegenüber Bombay („I love Bombay“ vs. „I hate this city“) wider.372 Der Sorge des Ich-Erzählers, die Gerüche der Frauen, mit denen er an diesem Abend, gewollt oder ungewollt, in Berührung gekommen ist, könnten für immer an ihm haften bleiben, liegt die Angst einer möglichen Verunreinigung und Ansteckungsgefahr zugrunde. Die Furcht vor der Berührung geht weit über das rein Körperliche hinaus, das durch die mehrfache Erwähnung der Handflächen (hathelī) als Geruchsträger bezeichnet wird. Es ist auch sozialer Natur. Beide Pole, Anziehung und Abstoßung, die durch die Verfügbarkeit von sexuellen Dienstleitungen auf der einen Seite und ihrem nivellierenden Einfluss auf soziale Beziehungen und Hierarchien auf der anderen gekennzeichnet sind, definieren sich auf der Grundlage geruchlicher und haptischer Sinneseindrücke. Im Konnex von Körper und Stadt bricht der Konflikt zwischen individueller Unabhängigkeit, die die Großstadt fern aller einengenden Bindungen gewährt, und traditionellen Normen von Reinheit und sozialer Segregation zutage.373 Das „Ideal der Kontaktvermeidung“374 und andere sozio-religiöse Gebote lassen sich in der Großstadt schwerlich einhalten. Asthanas Geschichte zeigt, dass die indische Metropole, wie die literarischen Figuren sie erleben, ein typisches modernes Phänomen ist. Denn gerade in der sozialen Vermischung treffen sozio-religiös fundierte Wertvorstellungen und Verhaltensnormen mit völlig andersartigen, diffusen Praktiken des Zusammenlebens zusammen. Auf einer funktionalen Ebene eröffnet die Hindi-Stadtliteratur einen Diskursraum, in dem sich Autorinnen und Autoren mit den sozialen und kulturellen Reibungen und Spannungen beschäftigen, mit denen sich das Individuum auf dem Weg in die postkoloniale Moderne (Kapitel 3.1) konfrontiert sieht.
Die Beispiele machen deutlich, dass mit der Beschreibung der olfaktorischen, haptischen und akustischen Umwelt unterschiedliche narrative Absichten verfolgt werden: Erstens kreieren Schriftstellerinnen und Schriftsteller damit Authentizität und Atmosphäre, zweitens stellen sie urbane Lokalitäten als spezielle Milieus innerhalb der Stadt oder als widersprüchliche Kontaktzonen dar und drittens nutzen sie Geräusche und Gerüche als trigger für Rückblenden. Auffällig ist die annähernde Abwesenheit von haptischem Erleben. Hier stellt sich die Frage, ob Berührungen tabuisiert oder stigmatisiert sind,375 oder ob die haptische Wahrnehmung schlicht ein schwach ausgeprägter Sinn ist, der hinter anderen Sinneseindrücke zurücksteht. Taktilität kommt meistens nur indirekt zur Sprache oder aus der distanzierten Beobachtungsposition der Erzählerfigur, etwa wenn die Enge in Bussen und Zügen beschrieben wird oder wenn es gar um negative Formen von Berührung geht, etwa eve-teasing, übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen, z.B. in Bhimsen Tyagis (geb. 1935) „Großstadt“ (mahānagar).376 Ein wiederkehrendes Motiv ist die Menschenmenge, die eine enorme Anziehungskraft auf das Individuum ausübt. Zugleich werden sich die Protagonisten des paradoxen Umstands bewusst, dass es trotz der vielen Menschen keine Nähe gibt.377
Enge und Gedränge
Wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit der Menschenmenge (bhīṛ) geht, sind Bahnhöfe, Züge und Busse prädestinierte Orte.378 Der Bahnhof ist allerdings mehr als ein dynamischer Ort vielfältiger Sinneseindrücke. Dass die Indian Railways heute ein nationales Prestigeobjekt sind,379 ist nicht selbstverständlich. Schließlich wurden seit ihrer Einführung in Britisch Indien im Jahr 1853 erbitterte ideologische Kämpfe um die Eisenbahn als Inbegriff imperialistischer Fortschrittsideologie ausgetragen. Mohandas K. Gandhi verteufelte die Eisenbahn bis in die 1940er Jahre hinein als eines der „evils of civilisation“,380 weil er in ihr die Hauptursache für die Ausbeutung und Verarmung Indiens sah. Gandhi zufolge trug die Eisenbahn zur Verbreitung von Hungersnöten bei, da die Bevölkerung ihr Getreide überregional verkaufen konnte. Der Mahatma äußerte neben wirtschaftlichen auch hygienische und religiöse Bedenken: Die Eisenbahn sei ein Überträger von Pestkeimen, da die natürliche Segregation wegfalle. Weiter zeigte sich Gandhi besorgt, dass Pilgerreisen ihre Beschwerlichkeit und die heiligen Orte ihre Besonderheit verlören, wenn nun jeder gemeine Kerl einfach so mit der Eisenbahn dort hinreisen könne. Vor der Einführung der Eisenbahn hatten nur echte Pilger die weite Reise auf sich genommen: „Good travels at a snail’s pace – it can, therefore, have little to do with the railways.‍“381
Doch Gandhi war bei weitem nicht der Erste und Einzige, der sich zur Eisenbahn und modernen Technik äußerte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts griffen Intellektuelle die Begeisterung der „höheren Kreise“ für moderne Wissenschaft und Technik auf, was der Eisenbahn keineswegs nur Kritik und Spott einbrachte, wie Prabhat Kumar erläutert. Dieser „Fremdkörper“ wurde mithilfe des traditionellen Stotras (Skt. Lobeshymne) sogar in das mythologische Register einverleibt.382 Die Beurteilung der Eisenbahn, so Kumar, oszillierte in den frühen Hindi-Satiren von Bharatendu Harishcandra (1850-1884) und Radhacharan Goswami (1858-1925) zwischen der Verteufelung als „unavoidable quasi-divine, techno-industrial, urban monster“ und überschwänglicher Dankbarkeit über dieses Geschenk der Kolonialherrschaft an Indien.383 Die ambivalente Wahrnehmung spiegelt sich auch in späteren literarischen Zeugnissen wider, in denen Erlebnisse mit dem Dampfross geschildert werden. Zu Beginn der 1930er schildert die Urdu-Schriftstellerin Rashid Jahan (1905-1952) in „Ausflug nach Delhi“ (dillī kī sair)384 die Eindrücke einer jungen Muslimin, die das unheimliche Gewühl und Gedränge am Bahnsteig als schrecklich und faszinierend zugleich erlebt.385 In der humorigen Kurzgeschichte „Selbstregierte Eisenbahn“ (svadeśī rel)386 aus dem Jahr 1930 entblößt Shaukat Thanwi (1904-1963) mit seiner Schilderung einer von Beginn bis Ende chaotisch verlaufenden Bahnreise die Aufgeblasenheit einiger Nationalisten und die Unordnung und Willkür, die die Swadeshi-Bewegung hervorbringt: Ticketpreise sind plötzlich Verhandlungssache, der Station Master stellt die Fahrkarte selbsthändig auf einem Fetzen Papier aus, kein Gepäckträger (kuli) ist mehr aufzutreiben, feste Abfahrtzeiten gelten nichts mehr und schließlich bummelt der Zug unerträglich langsam durch die Landschaft. Der Autor scheint der kolonialen Kontrolle mehr zu vertrauen als der patriotischen svadeśī-Bewegung, deren „Selbstherrschaft“ in den Augen des Erzählers nur Chaos stiftet.
In Geschichten über die Teilung Britisch-Indiens und die daraus resultierenden gewaltsamen Unruhen (communal riots) wird der Zug, ehemals Produkt und Werkzeug kolonialer Rationalität, in der indischen Populärkultur nach der Unabhängigkeit zum „body and […] specter“387 für die Gräueltaten zwischen Hindus und Moslems. Als bekanntes Beispiel zitiert die Anglistin Marian Aguiar den Roman „Train to Pakistan“ (1956) von Khushwant Singh, der 1998 verfilmt wurde. Hinzuzufügen gäbe es zahlreiche regionalsprachliche Texte, die den Zug in instabilen Zeiten zum unheilvollen Ort der Begegnung von Menschen unterschiedlicher sozio-religiöser Gemeinschaften machen. In „Amritsar!“ (amr̥tsar ā gayā!) von Bhisham Sahni (1915-2003) zum Beispiel wiederholen sich auf engstem Raum die Feindseligkeiten, die sich in der Welt ‚draußen‘ ereignen.388 Sampooran Singh Kalra, besser bekannt als Gulzar (geb. 1936), schildert in der tragischen Geschichte khauf, „Todesangst“, die sich auf die kommunalistischen Ausschreitungen in Bombay Anfang der 1990er Jahre bezieht. Auf beklemmende Art und Weise wird erzählt, wie ein Mann aus schierer Panik einen Unschuldigen tötet, bloß weil er den anderen für einen Hindu und damit als potentiellen „Feind“ hält.389
In der jüngeren Hindi-Literatur seit ca. 1970 ist der Bahnhof in erster Linie ein Bezugspunkt für den Fremden, so auch in Bhatiyas „Deadline“. Darin zieht es den Protagonisten bei seinen spätabendlichen Streifzügen auch zum Bahnhof. Einige Schriftsteller thematisieren das Pendlerleben und die damit verbundene Enge und das Gedränge. Bei Gyanprakash Vivek erscheint die Menge aus der Distanz als eine homogene Herde, die die Stadt zu Tagesbeginn und am Feierabend be- und entvölkert:
An jenem Abend war ich ziemlich kaputt. Der Zug hatte Verspätung. Ich langweilte mich. Also stellte ich mich unter die Neonröhre am Bahnsteig und starrte so eine Weile auf meinen Zwergenschatten. Dann begann ich die Menge zu beobachten, die kopflos vom Bahnsteig auf die Straße hastete. Das war dieselbe Menschenmenge, die gerade erst aus dem Zug gestiegen war. Menschentrauben machten mir Angst. Weil ich nicht Masse sein wollte, vielleicht deshalb. Die Menschenmenge auf dem Bahnsteig, die die Stadt bevölkerte, war kurze Zeit später wie weggefegt.390
In den Augen des Erzählers ist der Pendler ein ewig Getriebener zwischen Peripherie und Zentrum: „Der Pendler. Täglich auf der Flucht zwischen Vorort und Stadt. Ein Leben wie im Uhrwerk. […] Panik, in der Masse verloren zu gehen. Die Angst, von der Großstadt zermalmt zu werden.‍“391 Der Pendler erscheint als ein getriebenes Tier, das in der ständigen Angst lebt, vom Moloch verschluckt zu werden. Dieses Motiv der erdrückenden Masse ist ein Teil der dystopischen Stadtnarrative aus dem Blickwinkel des Fremden oder Neuankömmlings.392 Die körperlichen und mentalen Auswirkungen der Platznot und des Gefühls, ein Getriebener zu sein, werden mitunter detailliert beschrieben. Ähnliche Erfahrungen mit Enge und Gedränge können, besonders in Kombination mit großer Schwüle, klaustrophobische Beklemmungen hervorrufen, Gereiztheit und Aggressionen auslösen oder aber sexuelle Phantasien anregen.393
Ein weniger dystopisches, dafür umso lakonischeres Bild vom alltäglichen Kampf des Pendlers im überfüllten Schnellzug durch Delhi zeichnet Prakash Manu (geb. 1950) in „Eintagsodyssee“ (ek din kā saphar'nāmā), die hier etwas eingehender besprochen werden soll, um einen Eindruck vom lebendigen und originellen Umgang des Autors mit einem ganz alltäglichen Thema geben zu können. Überraschenderweise beginnt diese Kurzgeschichte damit, dass der Erzähler den Zug mit einem Zuhause gleichsetzt:
Fragten Sie mich nach dem Wort, das „Zug“ am nächsten kommt, lautete meine Antwort „Zuhause“.
Zuhause…? würden Sie stutzen. Klar, was sonst? Aber glauben Sie mir, ich sage das nicht, um Sie zu schocken.
Ich würde das sagen, weil ich davon überzeugt bin.
Meine Antwort wäre: Zuhause.394
Obwohl der Pendler, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, sich dessen völlig bewusst ist, dass gestoßen und geschubst wird, und obwohl er in jahrelanger Pendelei dutzende blaue Flecken davongetragen hat und auch das eine oder andere materielle Opfer zu beklagen hat, büßt der Zug für ihn doch nichts an Heimeligkeit (gharelūpan) ein.395 Der Grund: Er ist eine soziale Kontaktzone, auch im wortwörtlichen Sinne, denn im Zug findet Austausch über alltägliche Dinge statt und er ist ein Ort kreativen Leerlaufs.
Wie in Viveks Pendler-Beschreibung ist auch bei Manu die Menschenmenge (bhīṛ) ein gesichtsloser Pulk, der in den Zug hinein oder hinaus drängt. Der Einzelne wird ein willenloser Teil dieser organischen Masse. Innerhalb des Zuges jedoch beginnen sich die einzelnen Bestandteile aus der scheinbar gleichförmigen Masse herauszulösen. Der Beobachter beschreibt einzelne Personen, die ihn, wie sie so an der Stange baumeln, an Jesus und an ein Motiv in Kamleshwars „Ein Tod in Delhi“ (dillī meṃ ek maut)396 erinnern. Er lauscht ihren Gesprächen über Land, Politik, die eigenen Kinder, die Inflation, jüngste Zugunfälle und Prügeleien.397 Beim Zuhören und Zuschauen ergründet er die Psychologie des Pendlers: „Sollten Sie gerade mit dem Zug unterwegs sein, verbannen Sie sich für eine Weile in einen toten Winkel. Es wird Ihnen nicht so vorkommen, als stünden Sie in einer Ecke, sondern als hätte man Sie in ein Meer von Stimmen geworfen.‍“398 Ein paar Männer machen Witze und spielen nebenbei – im Stehen wohlgemerkt – Karten. Aus dem Waggon nebenan ist Kirtan-Gesang zu hören. Nun fällt sein Blick auf einen Mann, den weder sein Schnarchen und der laute Gesang, noch das heftige Schaukeln des Zuges aus dem Standschlaf reißen können. Doch kurz darauf passiert das Unvermeidliche: Er kippt um. Glücklicherweise ist ein junger Mann zur Stelle, der ihn auffängt. In Tughlakabad (südlich von Neu-Delhi) steigen junge Männer und Frauen zu, die einen der begehrten Jobs in Okhla, dem Industriegebiet im Südosten Delhis, ergattert haben. Er hört beiläufig, wie ein paar junge Männer, die etwas abseits in der offenen Zugtür stehen, über die werktätigen Frauen vom Leder ziehen:
„Diese verfluchten Weiber, stehen jeden Tag auf der Matte, alles nur, um sich selbst zum Affen machen zu lassen…“
„Ich raff’s nicht. Was sollen die schon arbeiten… beim Leben meiner Mutter!“
„Aji, na so haben die mal frei von den altmodischen Klamotten und dem Gequatsche daheim!“
„Wer hat ihnen denn erzählt, dass die zum Arbeiten kommen, Herr Cadrha? Da laufen im Büro noch ganz andere Sachen heiß als die Telefondrähte. Warum sollten die sich sonst so aufdonnern?! Haben Sie die da drüben gesehen? Ganz schön heißes Moped was! Hehehe…“399
Der Betrachter gerät über diese sexistischen Äußerungen in blinde Wut und will die Rüpel am liebsten anschreien: „Passt es euch etwa nicht, dass sie das Haus verlassen? Die eigenen Frauen legt ihr in Ketten und geht dann draußen auf Frauenjagd, schämt ihr euch nicht?“.400 Das verkneift er sich dann aber angesichts der Tatsache, dass die Männer in der Überzahl sind. Nun, da er einen Sitzplatz am Fenster ergattert hat, betrachtet er die vorbeiziehende Landschaft. Eine Baumreihe erinnert ihn an ein früheres Zuggespräch mit seinem Bekannten Bhargav. Damals war ihm eine abstruse Idee in den Sinn gekommen: Man sollte einen fliegenden Baum besitzen, der einen schnell und ohne das tägliche Gewühl zur Arbeit brächte. Im Vergleich zum Zug wäre es ein schöneres, grüneres Zuhause. Bhargav wendet ein, dass es aber auch ein grünes Blutbad gäbe, wenn die Bäume mit Flugzeugen zusammenstießen. Seine Baum-als-Verkehrsmittel-Phantasie endet abrupt, als der Zug Minto Bridge (neuer Name: Shivaji Bridge) erreicht, und sein Freund ihn daran erinnern muss, auszusteigen. Jene Zugfahrt liegt schon ein paar Jahre zurück, doch die Erinnerung an diesen schönen Zeitvertreib ist noch frisch und er resümiert, dass derlei time pass die einzige Waffe des Pendlers gegen die tödliche Langeweile sei. In Okhla leert sich der Zug. Kaum dass man sich’s versieht, stiebt die Menge in alle Himmelsrichtungen auseinander. An der Hazrat Nizamuddin Station (im südlichen Neu-Delhi) steigen zwei kleine Mädchen in dreckiger Kleidung zu, die scheinbar routiniert und völlig versunken auf dem Boden spielen. Bald erreicht der Zug den Bahnhof Minto Bridge im Zentrum, wo die Luft voller Gelächter und Gefluche ist, und er aussteigen muss: „Und heute Abend wieder dieselben Schienen, dasselbe Hauen und Stechen, eben dieses Zuhause.‍“401
Die Menschenmenge (bhīṛ) tritt in den Textstädten als organisches Ganzes auf, das sich hektisch und herdenartig bewegt. Diese Perspektive ergibt sich, wenn der Betrachter einen Standpunkt außerhalb der Menge einnimmt, wie anhand von Manus Erzählung nachvollzogen wurde. Sobald das Element der Hektik herausfällt, treten aus der anonymen Masse einzelne Individuen heraus. Die Menschenmenge verliert ihren bedrohlichen, unkontrollierbaren Charakter und entfaltet ihr Potenzial als Studienobjekt.402
Manus pendelnder Beobachter zeigt, dass das tägliche Zugfahren um das Jahr 2000 herum, so lästig es allen Beteiligten auch manchmal wird, ein integraler Bestandteil städtischen Lebens ist, und der Zug für viele Städter zum temporären Zuhause werden kann. Der Pendler ist unfreiwillig Teil der Masse und muss sich gleichzeitig gegen diese durchsetzen und abgrenzen, wenn es darum geht, sich angesichts der akuten Platznot zu behaupten. Ist ihm das gelungen, ist er zum Stillstand und Nichtstun verdammt, aus der Muße zur Beobachtung und Kreativität entstehen kann. Der Zug hat bei Manu das Potenzial, ähnlich dem Coffee oder Tea House, einen Debattenraum zu eröffnen, in dem man sich über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft austauscht. Er stellt eine Kontaktzone dar, die Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und sozialem Hintergrund – wenigstens räumlich – zusammenführt. Gandhis kulturpessimistische Bedenken gegenüber der Eisenbahn als ordnungszersetzende Erfindung verlieren in Manus Pendlerbericht jegliche Bedeutung. Anstatt den Zug als imperialistische Bedrohung bzw. ultimatives Zeichen des Fortschritts zu stilisieren, wie noch zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, beschreibt Manu den Zug als integralen Bestandteil des städtischen Alltags, ja, gar als eine Art Zuhause.
Manus „Eintagsodyssee“ hat gezeigt, dass sich Bahnhöfe und Züge nicht nur als narrative Aufhänger eignen, um die Dynamik der Menschenmenge zu studieren, sondern auch als Platzhalter für die indische Gesellschaft. „Eine kleine Bahnhofsstudie“ (rel've sṭeśan par ek saṃkṣipt nibaṃdh) von demselben Autor ist ein humoriges, stellenweise skurriles Soziogramm des Bahnsteigmilieus. Manu verbindet in einer modernen Spectator-Figur journalistische Techniken mit soziologischem Interesse.403 Der Spectator, passiver Teilnehmer eines Spektakels, ist neben dem Flaneur (Kapitel 2.4.2) eine prominente Figur der modernen Metropole. Die Literaturwissenschaftlerin Alison O’Bryan untersucht in ihrer Studie die unterschiedlichen Bedeutungen dieser Figur (und Erzählperspektive) bei europäischen Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Sie stellt fest, dass in früheren Texten vor allem die moralische Erziehung des Lesers im Vordergrund stand. Der Spectator vermittelte Idealvorstellungen von Geschmack, Höflichkeit und zwischenmenschlichen Umgangsformen und hielt der bürgerlichen Öffentlichkeit den Spiegel vor.404 Im 19. Jahrhundert kam eine andere Figur auf, der Flaneur, bei dem nun mehr als die städtischen Formen geselligen Beisammenseins individuelle Erfahrungen und die Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft thematisiert wurden.405
Manus „Bahnhofsstudie“ vermittelt – ähnlich wie europäische Spectator-Texte – Idealvorstellungen vom gesellschaftlichen Umgang und arbeitet sich gleichzeitig mit satirischen Mitteln an ihnen ab. Im Unterschied zu O’Bryans Beispielen früher Spectator-Literatur richtet sich Manus Aufmerksamkeit nicht auf bürgerlich-private Milieus. Seine Erzählungen stecken voller Alltagserlebnisse, die im Modus der internen Fokalisierung (Mitsicht) Gespräche und Ereignisse wiedergeben, die sich in Zügen, Taxis oder Bahnhöfen und damit in der städtischen Öffentlichkeit abspielen. Bereits der erste Satz seiner „Bahnhofsstudie“ macht deutlich, dass die Betrachtungen als mimetische Alltagsskizzen angelegt sind, in denen der Erzähler seine Beobachtungen in größere Zusammenhänge einbettet: „Könnte es einen besseren Einstieg in einen Essay geben, als dass Bahnhöfe weitläufig, chaotisch und laut sind, sich jedoch nicht vom Fleck bewegen, genau wie unser Land? […] Na besser nicht, sonst käme am Ende ein extrem verwickelter Bericht, der nicht enden will.‍“406
Manus Betrachter reflektiert seine Funktion als „Schreiberling“, indem er sich auf einen Autor namens Kamlakar Babu beruft, der alles in seinem Notizbuch festgehalten hat, was er mit seinem „Kamerablick“ wahrgenommen hat: „Kamlakar Babu hat gleich Stift und Notizbuch gezückt und die Augen, genau wie bei einer Filmkamera, mal geradeaus gerichtet, mal nach rechts und links…“407 Durch diese Reduktion des Erzählers auf eine mimetische Maschine distanziert er sich von der fiktionalen Natur seines Berichts (nibaṃdh) und erzeugt die Illusion einer „wahren Geschichte“ (‚as'lī‘ kissā, S. 124). Zum einen bewirkt der distanzlose Modus, dass „die Präsenz des Erzählers […] scheinbar bis auf Null reduziert“408 werden kann, und eine objektive Darstellungsweise erreicht wird. Diese mimetische Illusion wird dadurch verstärkt, dass eine annähernd „zeitliche Koinzidenz von Erzähltem und Erzählen“409 herrscht. Das Subjekt protokolliert das Geschehen Szene für Szene im Stil einer phänomenologischen Beschreibung im Präsens.410 Die homodiegetische Position des Erzählers erzeugt den Eindruck, der Erzähler sei am erzählten Geschehen als Beobachter beteiligt. Durch die direkte Ansprache des Lesers schlüpft auch der Adressat der Erzählrede in die Rolle einer Person, die wie selbstverständlich ein Teil der erzählten Welt und ihrer Figuren ist.411 Diese Technik verstärkt beim Leser den Eindruck, mitten im Geschehen zu stehen. Dabei ist die „Bahnhofsstudie“ viel mehr als nur ein mimetisches Abbild realer Situationen oder eine objektive Studie. Schließlich lässt der Spectator auch seine ganz subjektiven Ansichten z.B. über ‚typisch‘ weibliche und männliche Verhaltensweisen mit einfließen.
Wie bei einem Filmeinstieg in der Supertotale wird der Bahnhof zunächst von oben beschrieben: „Guckt man so von oben auf den Bahnhof, ist da ein einziges großes Gewusel, Rauschen und Rascheln. Man sieht Saris, Hosen, Anzüge, auch ein paar Kurtas und Dhotis. Es gibt Kinder, es gibt Große und es gibt Dicke. Alle Augen warten auf den Zug.‍“412 Was den Reisenden bei allen Unterschieden gemein ist, ist, dass sie sich bis zur Ankunft des Zuges die Zeit mit einem Schwatz vertreiben wollen: „Solange der Zug nicht kommt, hält man einen Plausch… (das, was in Indien am billigsten zu kriegen ist!)“413 Er erinnert sich an eine soziologische Studie, derzufolge selbst Menschen, die sich sonst nicht gerne unterhielten, im Bahnhof regelrecht aus sich heraus kämen. Er vermutet psychologische Ursachen dahinter, denn im Bahnhof fühle man sich innerlich „freier“ (jyādā ‚mukt‘).414 Nach dieser allgemeinen Einschätzung widmet er sich den selbstbewussten Frauen auf dem Bahnsteig, die ein Spiegel für die Emanzipation seien: „Will man sehen, wie weit es die Frauen in Indien gebracht haben, muss man sich im Bahnhof nur die Pendlerinnen angucken.‍“415 Der Beobachter zeigt sich in seinen Beschreibungen von diesen „neuen Frauen“ zugleich fasziniert und abgestoßen, etwa von ihren geschminkten Lippen und ihrem falschen Lachen. Er stellt fest: „Frauen lieben nur sich selbst und ihre Schönheit. Sie wollen einen Mann, der dauerhaft ihre Schönheit subventioniert.‍“416 Diese Abrechnung mit dem weiblichen Geschlecht gipfelt im Vorwurf, Frauen seien nur hinter reichen Männern her. Zwar bekommen auch Männer ihr Fett weg. Aber die Tatsache, dass viele von ihnen Zeitung lesen, veranlasst ihn dann doch wieder zu einem Vergleich mit dem Leseverhalten von Frauen. Letztere würden lieber reden als lesen: „Was Frauen so alles zusammenschnattern, können Männer in sieben Leben nicht reden.‍“417
Zwischendurch erinnert er sich an seine Mission: „Ich beobachte alles. Ohne Unterbrechung. Immerzu beobachten. (Nicht zu verwechseln mit einem Gestörten, der nur damit beschäftigt ist, andere zu begaffen!)“418 Es folgen amüsante Beobachtungen zu Hütchenspielern und einer beleibten Frau in zu engen Kleidern: „An allen Ecken und Enden quillt der Speck nur so hervor, dass man sich fragt, wie sich der festgezurrte Körper daraus bloß wieder befreien soll.‍“419 Immer wieder vergleicht er „typische“ weibliche und männliche Verhaltensweisen. Während dicke Frauen z.B. gerne als erstes eine Bank okkupierten, blieben die dünnen, geschwätzigen in Gruppen stehen und kicherten ständig. Frisch gebackene Ehemänner steckten ihre Nasen zusammen, dass man meinen könnte, sie hätten daheim nur wenig zu lachen. Dann gibt es noch in einer Ecke eine Gruppe schmuddeliger Männer, Frauen und Kinder mit allerhand Transportgut. Sie wirken beinahe so, als wären sie hier auf dem Bahnsteig zu Hause:
Sie hocken so geduldig auf dem Boden, als wären sie vor kurzem erst dort zur Welt gekommen! Kinder sitzen vergnügt auf Bündeln und Päckchen, dass man meint, der Bahnhof sei ihr Zuhause. Ein freches Balg rennt auf das Ende des Bahnsteigs zu… Oh, jetzt fällt es, und… bums, voll auf die Nase, aber obwohl es es so hingeledert hat, lacht es. Ein Mädchen, das im Schneidersitz auf dem Boden sitzt, hat so damit zu tun, ein trocknes Fladenbrot herunterzuwürgen, dass ihr schier die Augen rausfallen.420
Unser Betrachter beschreibt eine weitere Figur auf dem „Bahnhofs-Tableau“, einen heruntergekommenen Mann, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzt. Die Hose des Mannes ist genau an der Stelle zerrissen, wo sie besser ganz sein sollte. Leute steigen über ihn drüber und Fliegen scheitern beim Versuch, in seine Nasenlöcher hineinzufliegen. Zu allem Überfluss kommt dieser verlotterten Gestalt schwanzwedelnd ein Hund gefährlich nahe.421 Der Erzähler wundert sich, wie viele Jahrhunderte auf dem Bahnhof nebeneinander existierten und fragt sich, ob dem Mann nicht mal jemand klar machen sollte, dass das Land, nur er nicht, schon lange in der Postmoderne angekommen sei. Für diese steht eine Gruppe junger Berufsanfänger, die voller Erwartung auf das Kommende sind. Die Männer unterhalten sich üblicherweise über ihre glatzköpfigen Chefs („Warum sind deren Chefs eigentlich immer kahlköpfig?“)422, ihre Kollegen und den Arbeitsplatz, um sich zu profilieren. Je mehr der Bahnhofs-Betrachter ihren Gesprächen lauscht, desto fader erscheinen ihm im Vergleich dazu die Romane, die er gelesen hat. Diese Feststellung veranlasst ihn dazu, ein Appell an seine Schriftstellerkollegen zu richten: „Ich will die Nasen aller Schriftsteller dieser Welt mal hierauf stoßen, guckt her Freunde, hier spielt das Leben! Es sprudelt nur so hervor, während ihr noch in dem Sumpf feststeckt, in dem schon Dutzende vor euch vor sich hingedümpelt sind.‍“423 Er wirft ihnen vor, das „wahre Leben“, das sich überall um sie herum abspiele, nicht wahrzunehmen. Diese Gedanken enden abrupt, als er sich vor einem anhänglichen Typen verstecken muss, der ihn immer in ein Gespräch verwickeln will, seit er weiß, dass der andere ein Schriftsteller ist: „Wie soll ich ihm verklickern, was für ein besonderes Vergnügen es mir bereitet, einfach auf dem Bahnsteig rumzustehen und unbemerkt Leute zu studieren, und wenn der mich darin unterbricht, will ich ihn am liebsten auf die Gleise schmeißen… Kabumm, so würde ich ihn auf die Schienen schmettern.‍“424 Doch zum Glück kommt es nicht so weit, da er schnell in der Menge untertaucht: „Die Menge ist schon Schleier an sich.‍“425 Gleich darauf befindet er sich in einer stockfinsteren Ecke, in der es nach Urin riecht. Daneben befindet sich Bahnsteig sechs, wo einmal ein Jugendlicher, den er kannte, unter eine Lok geraten war. Er, Manoj, hatte Gedichte geschrieben. Da er sich von Freunden und Familie entfernt hatte, steht die Vermutung im Raum, dass er sich möglicherweise umgebracht hat. An dieser Stelle enden die Betrachtungen abrupt und damit auch die Geschichte.426
Die Bahnhofsstudie franst seltsam aus und wird mit einer Formel, die das Ende der Erzählung einläutet, etwas unmotiviert zum Abschluss gebracht. Die Gründe hierfür können vielfältig sein, angefangen bei der fehlenden editorischen Nachbearbeitung vonseiten des Verlags bis hin zu einer absichtsvollen Banalisierung des Schlusses, um dem Alltäglichen bis zuletzt konsequent Rechnung zu tragen. Fest steht, dass beide Kurzgeschichten von Manu um eine Perspektive herum angelegt sind, die es ermöglicht, Typen, Gruppen und soziales Verhalten als pars-pro-toto der Gesamtgesellschaft zu studieren. Unter dem Deckmantel des objektiven Beobachters unterzieht er diese einer moralischen Beurteilung, zum Beispiel über die emanzipierte moderne Frau: Auf der einen Seite empört sich der Erzähler in der „Eintagsodyssee“ über das unzivilisierte Verhalten einiger Männer und deren frauenfeindliche Witze, auf der anderen Seite sind seine spöttischen Kommentare zum Kommunikations- und Leseverhalten von Frauen in der „Bahnhofsstudie“ selbst nicht frei von männlichen Vorurteilen und chauvinistischem Überheblichkeitsdenken. Manus Spectator ist – legt man Simmels Studie über das großstädtische Geistesleben zugrunde – eine durch und durch moderne Figur, deren Gefühle gegenüber Urbanität und gesellschaftlichem Wandel äußerst widersprüchlich sind. Bei aller Satire spricht aus ihr ein traditionell-konservatives Ethos, das geschlechtsspezifisches Verhalten moralisch beurteilt, aber auch hinterfragt. Wohingegen der Spectator das gesellige Treiben in der Regel von einer festen Position aus beobachtet, durchmisst eine andere prominente literarische Figur die Stadt zu Fuß: Der Flaneur. Diese Art der Erkundung ist ein probates Mittel, den urbanen Raum körperlich und geistig zu durchdringen und sich der direkten Konfrontation mit dem städtischen Leben auszusetzen, das ständiger Veränderung unterworfen ist. Das Umherstreifen erfüllt einen empirischen Zweck. Der Gehvorgang und die Dinge, die dabei in den Blick geraten, fördern verschüttete Erinnerungen zutage und regen zur Reflexion über Modernisierung und Globalisierung an, deren Auswirkungen sich allerorten zeigen.
2.4.2 Der saṛak'māp: Die Genese eines indischen Flaneurs427
Für Bengalen weist Hans Harder in populären Geschichten und Satiren des 19. Jahrhunderts einen literarischen Typus nach, der in Gestalt eines Gottes oder Heiligen die moderne Stadt erkundet:
The blueprint for such texts and one of their possible sources is a popular narration that refers us back […] to the nak'śā tradition, namely Durgacharan Ray’s Deb'gaṇer martye āgaman, „arrival of the gods on earth“, of 1880. This mixture between a mock-purāṇa, a travelogue and a guide book uses narrative devices of mythological accounts and applies this frame to contemporary India: the Vedic gods Indra, Varuna, Brahma, Narayana etc. set out for a travel through various Indian cities.428
Göttliche Herabkünfte wundern sich auch im postkolonialen Indien noch über die großstädtischen Umtriebe, die sie „from a locus outside the bounds of the urban modern sphere“429 kritisch oder verblüfft beäugen, wie Harder anhand von Amritlal Nagars „Der Buddha in Delhi“ (tathāgat naī dillī meṃ), N.V. Satres „Indra in Bombay“ (bhag'vān indra bhārat meṃ) oder der populären Sheikh Chilli Geschichten illustriert. Er argumentiert, dass diese Figuren moderne urbane Phänomene aus der Perspektive eines Außenseiters mit traditionell geprägten Sehgewohnheiten bewerten: „To sum up, structurally speaking, all these texts are united in the perspective they construe to visualize modern urban phenomena or urbanity: invariably an outsider’s perspective that evokes ‘tradition’ as an internal looking glass.‍“430 Gerade diese Außenseiterperspektive, mit der jene göttlichen Herabkünfte die Stadt erkunden, macht sie zu Vorläufern des literarischen Flaneurs in der indischen Literatur.
Einen expliziten Hinweis auf die Existenz eines Stadtspaziergängers in der zeitgenössischen Hindi-Literatur liefert das non-lexikalische Kompositum saṛak'māp (oder saṛak'chāp), das jemanden bezeichnet, der die Straße abmisst bzw. abschreitet. Er begegnet uns z.B. in Alka Saraogis Roman „Umweg nach Kalkutta“ (kalikathā vāyā baīpās):
Nachmittags ging Kishor Babu nun täglich Punkt vier Uhr aus dem Haus und streifte stundenlang allein durch die Straßen. Vorher wäre es Kishor Babu nicht einmal in den Sinn gekommen, irgendwohin zu Fuß zu gehen, höchstens, um im Park am Victoria Memorial kurz Luft zu schnappen. Stets hatte er äußerst verächtlich auf die Fußgänger in den Straßen herabgeblickt. Die Verwandten und Freunde, die kein Auto besaßen, hatte Kishor Babu nicht einmal gegrüßt.431
Die Nähe zum cleveren Vagabunden und Landstreicher rückt ihn in die Nähe der amerikanischen Tramp-Figur, wie sie von Charly Chaplin verkörpert wurde.432 Obwohl es dem französischen Flaneur, abgeleitet von flâner („umherstreifen, umherschlendern“), semantisch am nächsten kommt, taucht dieser Begriff in den untersuchten Werken nur verstreut auf. Viel gebräuchlicher sind eine Reihe verbaler Ausdrücke, die Flanerie umschreiben:
ghūm'nā433
(herum-, umher-) laufen, -schlendern; (herum) wandern
(nir'uddeśya/bematlab) (saṛak par) (paidal) bhaṭak'nā/cal'nā434
(zu Fuß) (ziellos/grundlos) (durch die Straßen) laufen/ziehen
ṭahal'nā435
umherstreifen, sich herumtreiben; umherschlendern, flanieren; spazieren; bummeln
gardiś meṃ honā436
im Kreis laufen, ziellos herumlaufen
cakkar lagānā437
eine Runde drehen; (einen Ort) ablaufen; ziellos umherstreifen
Zielloses Herumstreifen ist eine Möglichkeit, die Straßen und Gassen einer Stadt nicht nur im engeren Sinne als Mittel der Orientierung und Navigation abzumessen, sondern sich auch im weiteren Sinne ein Bild von ihr zu machen. Nicht der soziale Typus des aristokratischen Müßiggängers steht hier im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern seine literaturgeschichtliche Funktion als „Projektionsfläche eines großstädtischen Lebensgefühls“438. Diese ist eng an eine narrative Technik gebunden, die Matthias Keidel als „flanierendes Denken“ bezeichnet. Durch die Augen des literarischen Flaneurs nimmt die Stadttopographie auf drei methodisch unterscheidbaren Ebenen Gestalt an: Auf einer technischen Ebene bietet der Stadtspaziergänger eine Perspektive, die den urbanen Raum für den Leser durch die Übertragung des dreidimensionalen physischen Raums in den zweidimensionalen Textraum visuell, akustisch, geruchlich oder sogar haptisch zugänglich macht. Doch bleibt es nicht bei einer reinen mimetischen Funktion. Der Flaneur schreibt sich auf einer semiotischen Ebene durch Pfade, Routen und Routinen selbst in die Stadt ein.439 Schon Walter Benjamin erkannte die produktiven Möglichkeiten der Flaneur-Figur, so Michael Opitz, „da [sie] die Kunst beherrscht, während des Flanierens eine Stadt entstehen zu lassen, die er in die bestehende projizieren kann.‍“440
Auf der Suche nach einem kulturwissenschaftlichen Raumkonzept ruft der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme in Erinnerung, dass Raum und Räumlichkeit erfahren werden müssen, um überhaupt begreifbar werden zu können: „Die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im Raum vollziehen […], erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen.‍“441 Kulturelle Topographien können als Einkerbungen (graphé) verstanden werden, die den Raum prägen und strukturieren, wobei Böhme auch Pfade, Routen und Routinen der Bewegung als Graphien des Raumes auffasst.442 Hier knüpft Böhme an Michel de Certeaus „Gehen in der Stadt“, einem Kapitel aus „Practice of Everyday Life“,443 an, in dem das Einschreiben in die Stadt, die er als Textgewebe auffasst, als Praxis „von unten“ beschrieben wird:444 Einerseits durchschreite der Fußgänger den Raum,445 indem er dem Schriftbild des städtischen Textes folge, andererseits schrieben sich die Fußgänger durch diese Bewegungspraxis gleichermaßen in ein Netz aus Schriften ein, die vielschichtige Geschichten bildeten.446 De Certeau argumentiert also, die metaphorische Stadt sei ein Produkt des Spaziergängers, das innerhalb der geplanten, also gebauten Stadt existiere.447 Der Bezug zur Literatur bietet sich nicht nur wegen dieser metaphorischen Lesart von Bewegung im urbanen Raum an. De Certeau macht deutlich, dass es eine gebaute, mit seinen Worten „geplante“ Stadt, gebe, die mit der „metaphorischen“ oder „herumwandernden“ Stadt durchzogen sei. Damit setzt er die metaphorische Stadt mit einem sozialen und kulturellen Raum gleich, der durch die menschliche Bewegungspraxis gestaltet wird. Hartmut Böhme führt de Certeaus theoretischen Grundgedanken vom Netz aus Schriften weiter aus, indem er den Begriff der kulturellen Topographie einführt und dessen verschiedene Bedeutungsebenen und Funktionen näher bestimmt. Ganz grundsätzlich beschrieben Topographien als räumliche Ordnungsverfahren einen semiotisch organisierten Raum. Allerdings repräsentierten sie Raum nicht nur, sondern „performierten“ ihn auch, was Topographien zu Darstellungen im doppelten Sinne machten. Topographien seien im Sinne von Praktiken im Raum auch Verortungen und Bahnungen, „die Richtungen codieren, über mögliche Bewegungen orientieren, Routen vorzeichnen, mögliche Ziele und Lagen bezeichnen, aber […] auch Narrative über Gefahren, Begegnungen, Ereignisse etc. enthalten können.‍“448 Michel de Certeau und Hartmut Böhme verstehen die alltägliche Praxis des Gehens als einen kulturellen Aspekt urbaner Topographie, wie er insbesondere in der mnemonischen Dimension von Flânerie in Walter Benjamins Passagenwerk zum Ausdruck kommt.449
Jüngere literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zum Flaneur machen deutlich, dass sich die Figur in erster Linie als konzeptuelles Instrument etabliert hat, mit dem sich urbaner Wandel und die damit verbundenen Auswirkungen auf den (post)modernen Zeitgeist analysieren lässt.450 Trotz unterschiedlicher methodischer Zugänge scheint doch Einigkeit über die Grundannahme zu herrschen: „[t]he flâneur observes and seeks the meaning of his modernity“.451 Keith Tester weist in einer prägnanten Typologie darauf hin, dass der Flaneur der frühen Moderne im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts eine Metamorphose durchlaufen hat:
Flânerie, the activity of strolling and looking which is carried out by the flâneur, is a recurring motif in the literature, sociology and art of urban, and most especially of the metropolitan, existence. Originally, the figure of the flâneur was tied to a specific time and place: Paris, the capital of the nineteenth century as it was conjured by Walter Benjamin in his analysis of Charles Baudelaire […]. Not least, the figure and the activity appear regularly in the attempts of social and cultural commentators to get some grip on the nature and implications of the conditions of modernity and post-modernity. The flâneur has walked into the pages of the commonplace. But despite this popularization, the precise meaning and significance of flânerie remains more than a little elusive.452
Während der Flaneur in der europäischen und amerikanischen Forschung als Untersuchungsgegenstand anscheinend nichts an Strahlkraft eingebüßt hat, ist der indische Flaneur nur am Rande erforscht worden.453
Wie können diese theoretischen Vorstellungen von Topographien als Routen und Wege, Verortungen und Bewegung nutzbar gemacht werden, um über die kulturelle Konstruktion von Räumlichkeit in der Hindi-Literatur nachzudenken? Die übergeordnete Frage versucht zu beantworten, wie die Stadt mittels Bewegung in den zweidimensionalen Textraum übertragen wird. Im ersten Abschnitt wird deshalb der Spaziergänger, die literarische Figur des Flaneur oder Tramp, im Mittelpunkt stehen, der sowohl durch sein Gehen Ausschnitte des Stadtraums erschließt und dem Leser erfahrbar macht.
Um den saṛak'māp überhaupt erst einmal ausfindig zu machen und in einen größeren zeitlichen Kontext zu stellen, bietet sich eine diachrone Herangehensweise an. Dafür gilt es zu klären, wie sich das Verhältnis von Individuum und Masse gestaltet: Wo und wie verortet sich der Spaziergänger in der gebauten und metaphorischen Stadt? Welches urbane Ethos spricht aus den Reflexionen, Erinnerungen und Betrachtungen dieser dem urbanen Umfeld entsprungenen Figur? An das „Einschreiben“ in den Raum sind zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen geknüpft. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, zeichnen sich im Zeitraum von ca. 1960 bis 2010 drei Paradigmenwechsel ab, in denen sich die späten 1980er und frühen 1990er Jahre als ideengeschichtlicher Wendepunkt in der Wahrnehmung der Stadt abzeichnet, der den endgültigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne einläutet. Während in Texten der frühen postkolonialen Ära in den 1950er und 60er Jahren das flanierende Subjekt – häufig selber ein Fremder in der Stadt – auf seinen Streifzügen durch die Stadt das Bad in der Menge sucht, setzt in den 1970er und 80er Jahren ein Entfremdungsprozess ein: Der saṛak'māp hadert mit der ihm oder ihr vertrauten Stadt. Um 2000 klafft eine große Lücke zwischen dem allgemeinen urbanen Ethos und der Wahrnehmung des Flaneurs oder Tramps, der als verrückter Einzelgänger normative Vorstellungen von Wachstum, Fortschritt und die Lage der Nation durch sein ‚anormales‘ Verhalten in Frage stellt.
Das Bad in der Menge: Der einsame Flaneur (ca. 1950-70)
Da die Kurzgeschichte als beliebtestes Genre der Autoren der Nayī Kahānī gilt,454 sollen hier exemplarisch zwei Beispiele vorgestellt werden, die ein Bild vom einsamen Neuankömmling in der im Entstehen begriffenen postkolonialen indischen Megastadt zeichnen. Mohan Rakeshs „Kaputte Schuhe“ (phaṭā huā jūtā) und Kamleshwars „Verlorener Kurs“ (khoī huī diśāeṁ) werden aus der Perspektive eines jungen Mannes erzählt, der reflektiert, wie es sich anfühlt allein unter Fremden zu sein. Dieses Gefühl entsteht aus einer paradoxen Situation heraus; streben die Protagonisten doch ins Zentrum von Bombay (Rakesh) respektive Delhi (Kamleshwar). In „Kaputte Schuhe“ (1957) hat Ray, die Hauptfigur, 30 Rupien bei einem Quizwettbewerb gewonnen, mit denen er sich nun einen kleinen Luxus leisten will, nämlich neue Schuhe.455 Nachdem er sich ausgiebig in Tagträumen ergangen hat, verlässt er am späten Nachmittag sein Zimmer, das tagsüber als Büro und Lagerraum für Operationsbesteck genutzt wird, und läuft ohne Eile in Richtung Stadtzentrum:
Ein paar Trams zuckelten im Schlepptau Richtung Colabadevi und an der Ecke zur Princess Street hielt just in dem Moment der Bus nach Flora Fountain. Während er noch guckte, war der Bus schon wieder losgefahren und obwohl er den Plan hatte nach Flora Fountain zu gehen, setzten sich seine Füße nicht in Bewegung. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, trat die fingernagelgroße Kippe aus und machte sich auf den Weg nach Crawford Market.456
Beim Gehen denkt er an Dinge, die bei früheren Spaziergängen seine Blicke auf sich gezogen haben:
Draußen fielen ihm wieder all die Sachen auf, die er mal für mal hatte kaufen wollen. In Whiteways hatte er eine wunderschöne Schreibtischlampe entdeckt, deren blasses Blau ihm so gut gefiel. […] Vor ein paar Tagen hatte er auf dem Bürgersteig in Flora Fountain einen jungen Mann mit einer schicken Krawatte gesehen. Unterwegs zogen alle möglichen Dinge seine Aufmerksamkeit in Bann.457
Am Schuhladen angekommen, geht Ray hinein und probiert ein Paar an, das er in der Auslage entdeckt hat. Doch der Gedanke, sein gesamtes Preisgeld mit einem Schlag los zu sein, hält ihn vom Kauf ab. So verlässt er am Ende das Geschäft, nur um weiter ziellos in der Gegend herumzulaufen:
Er drehte eine Runde über den Crawford Market und machte sich dann auf nach Boribander. An der Straßenbahn-Kreuzung beobachtete er eine Weile die wartenden Passagiere. […] Eine Bahn kam aus Flora Fountain und nahm gut die Hälfte der Leute mit. Ray entfernte sich von der Haltestelle und ging Richtung Flora Fountain. Als ihm auf Höhe Hornby Road eine Menschentraube ins Auge stach, mischte er sich intuitiv darunter.458
Die letzte Station seines kleinen Ausflugs führt ihn in ein nobles Restaurant, wo er von einer Anglo-Inderin angesprochen wird. Schnell überfordert ihn diese Situation und zudem fürchtet er, die Frau wolle einen Drink spendiert bekommen, also macht er sich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub. Auf dem Weg zurück zu seiner Wohnung geht er an all den Läden vorbei, in denen er auf dem Hinweg Dinge gesehen hat, die er gerne gekauft hätte. Nur die Auslage des Schuhladens würdigt er keines Blickes. Als er schon von weitem das Haus sieht, in dem er im vierten Stock wohnt, und die Garküche, wo er oft isst, fällt ihm ein, dass er noch offene Schulden für Essen, Zigaretten und Paan hat, die beglichen werden müssen.
Ray ist ein typischer Nayī Kahānī-Charakter: Ein wahrscheinlich gut ausgebildeter junger Mann, der in einfachen Verhältnissen lebt und sich mehr schlecht als recht in der Großstadt durchschlägt. Häufig gehören die Protagonisten (wie die Autoren selbst) der gebildeten Mittelschicht an und üben neben ihrem Brotberuf eine Schreibtätigkeit aus, etwa als Journalist oder Autor.459 Ähnlich wie in Europa, wo der Journalismus seit dem 18. Jahrhundert entscheidend zum Aufkommen und großen Erfolg des literarischen spectators und Flaneurs beigetragen hatte,460 stellte das Beobachten der urbanen Umwelt auch für indische Autoren ein essentielles Mittel der Beschreibung und literarischen Reflexion dar. Insbesondere die Menschenmenge,461 die auf Rakeshs Figur auch in anderen Werken462 eine anziehende Wirkung hat und zugleich seine Einsamkeit veranschaulicht, ist ein Schlüsselmotiv in der europäischen Literatur der Moderne.463 Ein prominentes Beispiel ist Baudelaires (1821-1867) Prosagedicht „Die Menge“ (1861):
Es ist nicht jedem gegeben, in der Menge zu baden: Die Menge zu genießen ist eine Kunst; und der allein kann auf Kosten der Menschheit in Lebenskraft schwelgen […]. Masse, Einsamkeit: für den tätigen und fruchtbaren Dichter gleichwertige und austauschbare Begriffe. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern versteht, versteht auch nicht in einer geschäftigen Menge allein zu sein. […] Dem einsamen und nachdenklichen Spaziergänger erwächst aus solcher allumfassenden Verbundenheit ein eigenartiger Rausch.464
Die Figur des einsamen Flaneurs, meist handelt es sich um einen Neuankömmling in der Metropole, begegnet uns auch in den folgenden zwei Jahrzehnten. In Jitendra Bhatiyas „Deadline“ gibt es eine Szene, in der der erfolglose Maler Abhitabh das ambivalente Gefühl von Entfremdung und persönlicher Freiheit inmitten fremder Menschen erlebt, als er in einem iranischen Lokal465 sitzt:
Manchmal fand ich Gefallen daran, inmitten all der Menschen und dem Trubel allein mit mir zu sein. Vielleicht wohnte ja diesem Alleinsein, abgeschnitten vom eigenen Selbstmitleid, alles mit den Augen eines Fremden zu betrachten, ein gewisser Trost inne, der dieses Immergleiche erträglich machte.466
So sinniert auch im zweiten Beispiel, Kamleshwars „Verlorener Kurs“ (1963), der Protagonist Chandar über das Verhältnis des Einzelnen zur Menge nach. Obwohl er im Connaught Central Park von vielen Leuten umgeben ist, fühlt er sich doch einsam und abgeschnitten, was sprachlich durch die Wörter Einsamkeit (tan'hāī), Stille (khāmośī), und Leere (sūnāpan) gekennzeichnet ist:
Und in dieser Flut aus Lärm und Tumult fühlte er sich mutterseelenallein. Was war ihm denn schon nach diesen drei Jahren geblieben, das ihn noch anrührte, das ihm Freude oder Schmerz bereitete? Da war nur mehr eine weite Wüste aus Einsamkeit in ihm, die Leere und Stille unbekannter Küsten und die tosende Brandung der Wellen, die die Stille nur noch unerträglicher werden ließ.467
Diese spezielle Art der Wahrnehmung der Menschenmenge erinnert an diverse Flaneur-Texte der europäischen Moderne, Baudelaires schon erwähntes Gedicht „Die Menge“, und in Hinblick auf das Café Edgar Allen Poes „The Man of the Crowd“ (1840). Walter Benjamin (1892-1940) bemerkt in seiner Studie „Über einige Motive bei Baudelaire“: „The masses in Baudelaire. They stretch before the flaneur as a veil: they are the newest drug for the solitary.‍“468
Konrad Meisig erinnert daran, dass viele indische Autoren mit Werken französischer und russischer Dichter wie E.A. Poe (1809-1848), Guy de Maupassant (1850-1893) oder Anton Tschechow (1860-1904) vertraut waren.469 Sicherlich ließen sich solche intertextuellen Bezüge nachweisen, wenn wir uns eingehender mit dem literarischen Werdegang und den Inspirationsquellen der einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftsteller auseinandersetzten. Allerdings wäre es verfehlt, auf den Zug aufzuspringen, Hindi-Autorinnen und Autoren wie Nirmal Verma oder Mridula Garg betrieben bloßes Nachahmen westlicher Sujets, wie der Literaturkritiker Jaidev es in „The Culture of Pastiche“ bemängelt.470 Stattdessen lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob es sich bei den geschilderten Erlebnissen des Individuums mit der Menschenmenge nicht vielmehr um universale Erfahrungen handelt, die mit den Vergesellschaftungspro­z‍essen der Moderne einhergehen, wie Georg Simmel (1858-1918) oder Max Weber (1864-1920), die Wegbereiter der Soziologie, sie beschreiben.
Aus welchen Gründen aber setzten sich Hindi-Schriftsteller der 1950er, 60er und 70er Jahren so intensiv mit der Erfahrung von Entfremdung und Einsamkeit auseinander?471 Die ersten drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit waren von einer massiven demographischen Urbanisierung geprägt, zum einen bedingt durch die Massenflucht hunderttausender Hindus und Sikhs aus dem Punjab und anderen Gebieten im ehemaligen West-Pakistan, die nach der Teilung Britisch Indiens, vor allem zwischen 1947 und 1951, nach Delhi geströmt waren.472 Zum anderen erwiesen und erweisen sich die urbanen Zentren in Südasien (im Vergleich zu industriell entwickelten Ländern Europas oder Nordamerikas) als noch stärkere Magneten für die Binnenwanderung.473 Doch sind nicht alleine wirtschaftliche Faktoren entscheidend für diese Sogwirkung, sondern, wie im Falle von Delhi und Bombay, auch ihre Bedeutung als kulturelle und intellektuelle Hubs für junge Künstler, Filmemacher und Journalisten.474 Aus diesem Grund dürften uns in der postkolonialen Hindi-Erzählung so viele Neuankömmlinge begegnen, die auf der Suche nach qualifizierten Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten in die Metropolen schwärmen. Dass die Protagonisten dort auch mit der Janusköpfigkeit der Moderne konfrontiert werden, drückt sich besonders in Fragen nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit aus, die sich inmitten einer atomisierten Gesellschaft stellen.475
Bei allen inneren Konflikten, die der fremdelnde saṛak'māp in den 1950er bis 1970er Jahren mit sich und seiner neuen Lebensumwelt austrägt, soll die Charakterisierung des einsamen Flaneurs bei Rakesh, Kamleshwar und Bhatiya nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich diese Individuen im Hinblick auf allgemeine Überzeugungen und Haltungen gegenüber der Stadt in der Mitte der städtischen Gesellschaft befinden. Selbst wenn die Menschenmenge beim einsamen Flaneur wie Chandar in „Verlorener Kurs“ Gefühle von „Angst, Widerwillen und Grauen“476 hervorrufen, will er doch ein Teil von ihr sein.
An den Rändern der vertrauten Stadt (um 1990)
Zu Beginn der 1990er Jahre zeichnet sich in der Art und Weise, wie der Flaneur oder saṛak'māp die Stadt durchläuft und in Augenschein nimmt, ein Paradigmenwechsel ab. Die Identifikation mit der scheinbar bekannten Stadt wird von den Protagonistinnen und Protagonisten hinterfragt. In den beiden folgenden Beispielen wird dieser Prozess entweder künstlich ins Rollen gebracht oder durch ein Wiedersehen angestoßen, bei dem das Wiedererkennen ausbleibt.
Mridula Gargs „Gegen den Strich“ und Jiten Thakurs (geb. 1953), „In der fremden Stadt“ (aj'nabī śahar meṃ) veranschaulichen, wie der Flaneur eine vermeintlich vertraute Stadt aus einer zeitlichen und/oder emotionalen Distanz erlebt. In Gargs Kurzgeschichte aus dem Jahr 1990 fährt die Ich-Erzählerin, eine Frau mittleren Alters, nach sechzehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Bombay, um dort an einer Konferenz teilzunehmen. Zu ihrer Bestürzung erkennt sie die Stadt, in der sie einst zwei Jahre lang gelebt hatte, nicht wieder:
Stimmt schon, es sind sechzehn Jahre ins Land gegangen, seit ich das letzte Mal in dieser Stadt war. Sechszehn Jahre sind eine lange Zeit, auch das ist mir klar. Aber von irgendwoher muss sie mir doch wenigstens ein bisschen bekannt vorkommen. Schließlich ist das hier nicht irgendein Provinznest, das ist Bombay, Indiens einzige Metropole, wie kann ich sie da komplett vergessen?477
Die Vertrautheit mit Bombay vergleicht sie mit einer Person, die man auch dann noch an ihren typischen Aussehensmerkmalen erkennt, wenn sie in die Jahre gekommen ist:
Sicher, ich war ganze sechszehn Jahre nicht mehr hier gewesen, aber es ist doch eine Stadt, die kann schließlich nicht vom Kind zum Jugendlichen heranwachsen, ohne dass man sie wiedererkennt. Wie sollte das Bekannte aus der Jugend völlig verloren gehen? Auch wenn eine Person alt geworden ist, erkennt man sie vielleicht nicht am ganzen Gesicht, so doch an ein paar Gesichtszügen wieder, die im Gedächtnis auftauchen. So ist es doch, wenn man alte, halb-vergessene Bekannte trifft. Ob Mensch oder Stadt, ob gealtert oder nicht… Aber Bombay?! Egal, von wo aus ich schaue, ich erkenne sie nicht wieder. Dieses Unnahbare an ihr ist so unendlich, so unzugänglich, dass es mich schon fast kalt lässt.478
Die Personifizierung Bombays bildet die Voraussetzung für das Gefühl verloren gegangener Nähe zur einst vertrauten Stadt. Bald beginnt sie, bekannte Orte wie ihre alte Wohnung aufzusuchen, um eine Verbindung zu ihrem früheren Leben herzustellen. Dass Pedder Road, die Straße, in der sie früher wohnte, heute D.B. Deshmukh Road heißt, quittiert sie mit Ablehnung, genau wie die anderen Umbenennungen. Am nächsten Tag macht sie sich nach der Konferenz zum India Gate auf, dem Wahrzeichen der Stadt. Während ihr Blick in die Ferne hinaus aufs Meer schweift, werden Erinnerungen an ihre Beziehung mit einem Mann wach, der sie eines Tages verlassen hatte. Sein Gesicht will ihr jedoch partout nicht in den Sinn kommen und so gibt sie Bombay die Schuld daran, sich an nichts erinnern zu können: „Was ist Bombay nur für eine Stadt, dass sie mir das Fundament meines Lebens stiehlt, mein Erinnerungsdepot ausraubt? Dreh ich jetzt völlig durch? Das können nur Momente von Verrücktheit sein, wie könnte uns sonst jemand unsere liebsten, innigsten Erinnerungen einfach wegnehmen?“479 Plötzlich merkt sie, dass alles, woran sie sich erinnert, mit ihrem früheren Liebhaber und seinem Verlust verbunden ist.
Am nächsten Tag verlässt sie die Konferenz und kauft sich eine Fahrkarte für den Vorortzug (local train) nach Malad. Während sie im Zug sitzt und hinausschaut, verliert die Stadt allmählich ihre Fremdheit: „Heute wird mir alles klar. Nach sechzehn Jahren, während ich alleine in diesem Vorortzug unterwegs bin und auf die Stadt hinausschaue, verliert sie langsam ihre Fremdheit. Jetzt, wo ich gehe, erkenne ich Bombay wieder.‍“480 Obwohl die Protagonistin die Stadt nicht nur zu Fuß erkundet, sondern auch im Zug,481 und ihr Flanieren oftmals einem bestimmten Plan folgt (sie sucht das India Gate bewusst auf und läuft dort nicht zufällig vorbei), erweist sich die Erzählung als ein gutes Beispiel für flanierendes Denken. Durch die Fortbewegung werden verloren geglaubte Erinnerungen ins Bewusstsein zurückgeholt, die wie fehlende Puzzleteile das bruchstückhafte Bild, das die Protagonistin von Bombay hat, zu einem Ganzen zusammenfügen.
Das zweite Beispiel, „In der fremden Stadt“ (parāye śahar meṃ) von Jiten Thakur erzeugt auf künstliche Art und Weise eine distanzierte Sicht auf die Stadt. Die Hauptfigur beschließt eines Tages, inspiriert durch eine Geschichte von Milan Kundera, die Stadt, in der er arbeitet, mit den Augen eines Fremden zu sehen.482 Damit ihm das Experiment gelingt, muss er es tunlichst vermeiden, Bekannten über den Weg zu laufen, und sein lokales Wissen preis zu geben, was ihm wie bei der Rikscha-Fahrt teuer zu stehen kommt, aber: „Woher soll ein Fremder auch wissen, ob es fünf oder sieben Rupien macht.‍“483 Durch das Abschreiten der scheinbar vertrauten Straßen entdeckt er Dinge, die er vorher nie beachtet hat, da er seine Blicke nie nach rechts und links schweifen ließ, sondern immer nur stur geradeaus gerichtet hatte:
Er trat aus dem Hotel nach draußen und probierte gleich aus, ob er die nunmehr fremde Stadt wiedererkennen würde. Und wirklich, für ihn war sie fremd. Da mochte er noch so oft durch diese Straßen gekommen sein – nie hatte er den gelben Wagen mit Puffreis am Straßenrand, die Schalen voller Sesam-Süßigkeiten, den Schuster, die bunten Paan-Stände und die Mini-Imbissbuden eines Blickes gewürdigt. Sonst war er, den Blick stur nach vorne, nix wie durch, mal im Bus mal auf dem Scooter unterwegs. Heute aber betrachtete er all diese Dinge und versuchte sie wiederzuerkennen.484
Später setzt er sich in die Kantine eines Kinos, bestellt Tee und beobachtet das Treiben draußen: „Der Junge hatte ihm die Tasse hingestellt. Er schenkte dem dampfenden Tee einen Blick und spähte dann aus dem Kantinenfenster nach unten. Dahinter waren das große Postgebäude, der Fahrradstand und ein nicht enden wollender Strom von Leuten.‍“485 Als er die Kantine verlässt und hinaus geht, denkt er darüber nach, wie es vor zwanzig Jahren in dieser Stadt zuging. Damals herrschte nicht dieses Gedränge und Gewühl (bhīṛ-bhaṛakkā) und man musste nicht ewig warten, um die Straße überqueren zu können. Diese Meinung teilt auch ein Paanwala, mit dem er ins Gespräch kommt. Und erst der Verkehr, beschwert sich der Verkäufer, „Man fragt sich, wie die Leute zu so viel Kohle kommen, dass heute jeder mit fahrbarem Untersatz unterwegs ist“.486 Der Eintags-Flaneur geht weiter seines Wegs und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Auch hier trägt das Konzept vom flanierenden Denken dazu bei, das ziellose Umherstreifen in der Stadt als kognitiven Akt zu verstehen, der die Wahrnehmung der vermeintlich bekannten Umgebung schärft, indem der Blickwinkel zweifach verändert wird: Zum einen geschieht dies dadurch, dass sich der Spaziergänger die Identität eines Fremden überstülpt und die Dinge mit dessen Augen betrachtet und zweitens dadurch, dass er ständig in Bewegung ist: „Inzwischen war es dunkel geworden, so lange schon streifte er umher. Auf den Straßen lagen verstreut Bündel von Licht. […] Seine Füße und sein Kopf waren vom vielen Herumlaufen und Denken müde geworden.‍“487 Auch hier setzt die Gehbewegung Erinnerungen frei, die, wie in „Gegen den Strich“, mit einer alten Liebe zu tun haben: „Auf der Straße waren kaum noch Leute unterwegs. Er lief ohne Eile los. Im Gehen betrachtete er die Gebäude um ihn herum, fast so, als suche er etwas im Widerhall der Erinnerung.‍“488 Die vagen Erinnerungen nehmen Kontur an, als er plötzlich vor einer Ruine steht, in der er sich mit der jungen Frau, in die er damals verliebt war, heimlich getroffen hatte. Vor seinem inneren Auge läuf ein Film mit den glücklichen Momenten ab, die sie zusammen verbracht haben. Dieser Erinnerungsstrom endet abrupt, als zwei Polizisten ihn festnehmen, da er auf einem privaten Grundstück vor einem ganz und gar nicht zerfallenen bungalow steht.
Beide Beispiele, Gargs „Gegen den Strich“ und Thakurs „In der fremden Stadt“ illustrieren, wie sich die Position, von der aus die urbane Umwelt wahrgenommen wird, um 1990 vom Zentrum zu den Rändern der (imaginierten) Stadt verschiebt. Zwar halten sich die Protagonistinnen und Protagonisten mitten in der physischen Stadt auf. Sie entfernen sich jedoch gedanklich von dem Konstrukt Stadt, der Gesamtheit von Ideen, Haltungen und Vorstellungen, aus denen sich das Bild der Metropole zusammensetzt. Der Flaneur betrachtet die Stadt aus der Distanz. Thakurs Protagonist verfremdet seine Wahrnehmung absichtlich, um einen frischen Blick auf die scheinbar bekannte Stadt zu erhalten und aktiviert damit seine Erinnerungen von vor zwanzig Jahren, die große Schnittmengen mit dieser Perspektive aufweisen. In „Gegen den Strich“ deckt sich das Bild des gegenwärtigen Bombays durch den zeitlichen und emotionalen Abstand nur bruchstückhaft mit dem der Erinnerung und kann erst durch die Fortbewegung wieder instand gesetzt werden.
In diesem Zusammenhang gilt es, auf ein Detail bei Garg hinzuweisen, das die Wahrnehmung der Stadt, hinsichtlich der Frage nach der Distanz, entscheidend prägt: Die Protagonistin denkt sich die Stadt als eine Einheit, ein Wesen, das mit menschlichen Zügen ausgestattet ist, etwa, wenn es darum geht, ob ein Mensch (oder eine Stadt) noch wiederzuerkennen ist, selbst wenn beide in der Zwischenzeit gealtert sind. Hier spricht die Personifikation dafür, dass um 1990 eine emotionale Beziehung zu einer bestimmten Stadt beinahe als gegeben vorausgesetzt wird oder zumindest als erstrebenswert gilt. Ein weiterer Augenmerk gilt dem Moment der Verrücktheit, die sich angesichts der Orientierungslosigkeit einstellt: „Was ist Bombay nur für eine Stadt, dass sie mir das Fundament meines Lebens stiehlt, mein Erinnerungslager ausraubt? Verlier ich jetzt endgültig den Verstand? Das können nur Momente von Verrücktheit sein, wie sonst könnte uns jemand unsere liebsten, innigsten Erinnerungen klauen?“489
Dieses Zitat kündigt bereits den dritten Paradigmenwechsel auf der Schwelle vom ausgehenden 20. zum 21. Jahrhundert an, die der saṛak'māp bei seiner Metamorphose vom einsamen zum verrückten (pāgal) Flaneur übertritt. Warum verrückt? Weil ein Irrer ziellos durch die Straßen der Stadt streift, oder weil das soziale Umfeld und die geltenden Normen eine solche Aktivität als sinnlos, wenn nicht gar als schwachsinnig abstempeln? Wie ist Verrücktheit im Kontext urbaner Erfahrung konnotiert? Und wie vollzieht sich der Wandel der Protagonisten zu heimatlosen Tramps, wenn auch nicht im physischen, so doch im geistigen Sinn? Im dritten Teil werden drei verrückte Stadtwanderer vorgestellt, die aus dem normativen Rahmen ausbrechen, der das Bild umgibt, das sich die Menschen von der Stadt machen. Von dieser distanzierten Position stellt der Flaneur konforme Überzeugungen und Vorstellungen von Modernisierung und Globalisierung in Frage.
Aussteiger: Der verrückte Tramp (um 2000)
Aus medizinischer Sicht sind die Krankheitsbilder, die mit Wahnsinn in Verbindung gebracht werden, in den hier untersuchten Texten eher unspezifisch. Es ist anzunehmen, dass die Autorinnen und Autoren nicht in erster Linie das Ziel verfolgen, bestimmte pathologische Symptome zu beschreiben. Vielmehr scheint Irrsinn als literarisches Mittel mit einer sozio-kulturellen Bedeutung aufgeladen zu sein, die sich eindeutigen Aussagen mitunter entzieht. In einer historischen Diskursanalyse betrachtet Michel Foucault Wahnsinn als gesellschaftliches Phänomen und untersucht, wie und wann Verrücktheit als Abweichung von der Norm, als Abwesenheit von Vernunft und sogar als „Nichts“ ohne gesellschaftlichen Wert aufgefasst wurde.490 Lillian Feder erinnert daran, dass fiktionaler Wahnsinn in der Literaturgeschichte, abgesehen von seinen medizinischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Implikationen, auch immer als Ausdrucksweise zum Einsatz gekommen ist:
The madman of literature is, to some extent, modeled on the actual one, but his differences from such a model are at least as important as are his resemblances to it: he is rooted in a mythical or literary tradition in which distortion is a generally accepted mode of expression; furthermore, the inherent aesthetic order by which his existence is limited also gives his madness intrinsic value and meaning. A mad literary character must thus be approached on his own terms, through the verbal, dramatic, and narrative symbols that convey the unconscious processes he portrays and reveals.491
Aus erzähltheoretischer Sicht werden in den Hindi-Texten zwei Möglichkeiten durchgespielt, um die Figur des verrückten saṛak'māp zu etablieren. Einmal kann er aus einer externen Betrachterperspektive beschrieben werden, wie in „Metropole“ (mahānagar) von Rajendra Dani (geb. 1953) und in Prakash Manus „Sokrates in meiner Stadt“ (suk'rāt mere śahar meṃ). In diesen Fällen geben äußerliche Merkmale den Flaneur als Irren zu erkennen: Er trägt zerlumpte Kleider, oder – steht es sehr ernst um seinen geistigen Zustand – gar keine und legt ein anormales Verhalten an den Tag. Ein wildes Erscheinungsbild und befremdliche Gewohnheiten wie böses Brutteln und dem Hinterherjagen von Autos kennzeichnen etwa den Verrückten in Prakash Manus „Sokrates in meiner Stadt“. Die zweite Möglichkeit – wie in „Umweg nach Kalkutta“ – ist, die Geschichte aus der Innenschau zu erzählen, unterstützt durch erlebte Rede, einer Technik der Gedankenwiedergabe. Obwohl Kishor Babus Frau, Kinder und wohl auch Ärzte sein Verhalten anormal finden, taucht der Leser durch die Innensicht in die Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten ein und gewinnt – hervorgerufen durch die Identifikation mit der Figur, die dieser Erzählmodus mit sich bringt – den Eindruck, Kishor Babu sei mehr bei Verstand als alle um ihn herum, obwohl oder gerade weil er sein Denken und Handeln vom Korsett gesellschaftlicher Konventionen und Normen frei macht.
Wie ist die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von außen und der von innen zu erklären? Und was sind die Gründe dafür, dass sich in der jüngsten Hindi-Literatur so viele verrückte Stadtstreuner tummeln? Steht der verrückte Flaneur exemplarisch für Individuen, die mit den Veränderungen der urbanen Realität nicht mehr Schritt halten können, wie ihn Dani in „Metropole“ anlegt? Oder stellt er mit seinem abweichenden Verhalten gesellschaftliche Normen in Frage und konstituiert damit ein kritisches Regulativ in der Tradition des Shakespeare’schen wise-fool, 492wie die Bezeichnung des Verrückten in „Sokrates in meiner Stadt“ bei Manu vermuten lässt?
Um die Funktionen und das Bedeutungsspektrum des verrückten saṛak'māp auszuleuchten, empfiehlt sich als Einstieg Saraogis Kalkutta-Roman „Umweg nach Kalkutta“ bzw. „KaliKatha via Bypass“ (kali-kathā vāyā bāipās), wie der Titel im Original und in der englischen Ausgabe lautet. Kishor Babu, aus dessen Perspektive der Roman größtenteils erzählt wird,493 beginnt, durch die Straßen und Gassen seiner Kindheit und Jugend zu streunen, nachdem er im Zuge einer Bypass-Operation versehentlich einen Stoß auf den Kopf abbekommen hat. Seitdem schmerzt Kishor die Stelle am Hinterkopf, die ihn an einen früheren Zusammenstoß erinnert, als er während des Unabhängigkeitskampfes unbeabsichtigt in eine Demonstration hineingeraten war, bei der er den Knüppel eines Ordnungswächters zu spüren bekommen hatte. Gleichsam öffnet dieser wiederholte Schlag auf den Hinterkopf „die verschlosssenen Empfindungsbahnen seines Herzens“.494 Dieser Vorfall ist der Auslöser für Kishor Babus Stadtgänge durch das Viertel Bada Bazar, die ihn in die Welt der Erinnerung führen: „Jetzt, wo Kishor Babu durch die Straßen streunte, weckte er die Geister der Vergangenheit, als die Familie noch in der engen, vollgestopften Gegend um Barabazar lebte, wo es vor Rikshas, Kutschen und Müll nur so wimmelte.‍“495
Der Roman verzahnt mehrere historische Ereignisse miteinander: Einmal geht es um die Geschichte Kalkuttas, der ersten Hauptstadt Britisch Indiens, die – nicht zuletzt angetrieben vom Reform- und Aufstiegsstreben der hochkastigen, gebildeten Schicht der bhadralok – im Unabhängigkeitskampf zu einem wichtigen Zentrum des Widerstands gegen die britische Kolonialherrschaft wurde.496 Zweitens wird die Migrationsgeschichte der Marwaris erzählt, einer ursprünglich aus Rajasthan stammenden Händlergemeinschaft, die mit den Briten kollaborierte und daher (und aufgrund des Rufs extrem geizig zu sein) nicht sonderlich beliebt war. Auf einer biographischen Ebene bindet der Mehrgenerationenroman im Stile indo-englischer Familiensagas497 Kishor Babus verschrobene Persönlichkeit in ein Netz familiärer Schicksale ein: Er handelt vom Aufstieg der Familiendynastie und von den Verlustängsten und verpassten Chancen im Leben der Hauptfigur. Alle drei Ebenen sind durch die „Kartographie der Erinnerung“ ineinander verschränkt: „Kiśor vagabundiert durch die Schauplätze seines Lebens. Damit verbindet er die Gegenwart des ausgehenden Jahrtausends mit seiner eigenen und mit der seiner Familie. Die Straßen und Plätze verlieren so ihre lediglich ortsangebende Funktion und gewinnen tiefere, meist abgründige Konnotationen.‍“498
Walter Benjamin zielt im „Passagenwerk“ und in seiner Rezension zu Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ immer wieder auf die mnemonische Dimension des Flanierens ab:
The street conducts the flâneur into a vanished time. For him, every street is precipitous. It leads downward – if not to the mythical Mothers, then into a past that can be all the more spellbinding because it is not his own, not private. Nevertheless, it always remains the time of a childhood. But why that of the life he has lived? In the asphalt over which he passes, his steps awaken a surprising resonance. The gaslight that streams down on the paving stones throws an equivocal light on this double ground.499
In Anlehnung an Benjamin fassen Howard Eiland und Michael Jennings die Erfahrungen des Flaneurs in der Stadt als historisches Palimpsest auf.500 So wie Kishor Babus Biographie in der Topographie Kalkuttas eingeschrieben ist, so ist auch die Geschichte seiner Marwari-Familie und die der bengalischen Metropole sowohl körperlich (Beule am Kopf) als auch seelisch (Erinnerungen) in Kishors Existenz gegenwärtig. Das Wandern durch die Gassen und Straßen seiner Kindheit und Jugend wird zur Therapie, durch die er vergangene Ereignisse aufarbeitet.501 Nimmt man Sigmund Freud zur Anregung, der in „Das Unbehagen in der Kultur“ die strukturelle Beziehung zwischen Seelen- und Stadtlandschaft als Metapher für das Unbewusste heranzog, findet der Seelengang auf den Pfaden der urbanen Topographie statt. Freuds Analogie zwischen Stadt und Psyche, die er später wieder verwarf,502 steht in der folgenden Passage von „Kalikatha“ vor Augen: „Nichts, was einmal auf der Welt geschehen ist, geht verloren. Wie könnte es auch verlorengehen, solange es uns gibt? Meist vergraben wir es irgendwo tief in uns unter den oberen Schichten wie in zerstörten alten Städten – all die Worte, die wir gehört haben, alles Glück und Leid, das wir erlebt haben […]“503 Flanierendes Denken bedeutet in „Umweg nach Kalkutta“ vor allem flanierendes Erinnern, oder, dem Literaturwissenschaftler Michael Opitz zufolge, „Memorieren im Schlendern“:
Die Straße erweist sich als Resonanzboden, die in dieser Bedeutung mehr als nur ein Verkehrsweg ist, den man benutzt. Durch den doppelten Boden, den Benjamin ihr zuschreibt, und das zweideutige Licht, das die Gaslaternen auf den Asphalt werfen, entsteht ein diffuser Raum, in dem sich Erinnerungen an das Einst mit dem Jetzt durchmischen. Der Flaneur beschreitet einen Weg, der in die Vergangenheit führt, wobei die Gegenwart von Straße und Häusern darüber entscheidet, welche vergessenen Räume sich ihm öffnen.504
Heiner Weidmann bemerkt, dass Flanerie – in Benjamins Verständnis – „a physically practiced reading, [and] remembering in the mode of absent-mindedness“ sei.505 Das Netz aus Schriften, ergo die vom Spaziergänger abgelaufene metaphorische Stadt, tritt in Form von Erinnerungen und Geschichten über Kishors früheres Leben an die Oberfläche. Das ist für Kishor Babus Familie ein Grund zur Beunruhigung, denn sein absonderliches Vergnügen erinnert sie an einen durchgeknallten Bettler (Fakir), der viele Jahre durch die Straßen von Kalkutta gestreift war, weswegen sie nun fürchten, dass das Familienoberhaupt dasselbe Schicksal ereilen könnte: „Nun hatte man den Salat: Die Bypass-Operation war erfolgreich verlaufen, doch der Kopf hatte Schaden genommen. Da mußte doch der ‚böse Blick‘ der Leute dahinter stecken! Wie ein Verrückter stromerte er da Tag und Nacht durch die Straßen.‍“506
Im Vergleich zu Saraogis Roman sind Schilderungen der Stadttopographie in den beiden Erzählungen „Großstadt“ und „Sokrates in meiner Stadt“ weniger ausgeprägt, da der Fokus weniger auf der Aktivität des Flanierens liegt, als auf den Entwicklungen oder Begegnungen in der Stadt, die ein Individuum in den Wahnsinn stürzen. Die Charakterisierung des Verrückten (pāgal), der rein äußerlich kaum von einem Bettler zu unterscheiden ist, folgt etablierten Mustern: Wenn er etwas am Leib trägt, dann Lumpen, er läuft anscheinend ziellos in der Gegend herum, redet wirres Zeug und tut verrückte Dinge wie Autos hinterherzujagen. Der Ich-Erzähler von „Sokrates in meiner Stadt“ erzählt von der Begegnung mit einem obdachlosen Fremden, der eines Tages in seiner Stadt aufgetaucht ist und sich unter einem Baum niedergelassen hat. Trotz der Hitze ist er in eine zerlumpte Decke eingehüllt. Er brummt Flüche vor sich hin und reagiert unwirsch, wenn jemand es wagt, in seine Nähe zu kommen.507 Nach einer Weile beginnt der Irre, in der Stadt Autos nachzurennen und sie mit Drohungen zu belegen. Dass Wahnsinn tendenziell ansteckend ist, kommt in allen drei Beispielen zur Sprache. Der Ich-Erzähler von Manus Erzählung wird am Ende selbst verrückt, nachdem der wahnsinnige Sokrates bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Kishor Babu hätte vor langer Zeit fast einmal einen umherstreunenden Bettelasketen (fakīr) angefahren, der mitten auf der Straße lief. Zu Kishors großer Verdutzung wies der beinahe unter die Räder geratene Fakir ihn in perfektem Englisch zurecht: „Do you think, you own this road?“,508 eine Anspielung auf den wise-fool.
Während der verrückte Vagabund gleich zu Beginn von „KaliKatha“ eingeführt wird, bildet die Begegnung mit einem Verrückten in Danis „Metropole“ den Höhepunkt einer Ereigniskette. Zu Beginn äußert der Ich-Erzähler Sorgen darüber, dass seine geliebte Heimatstadt mehr und mehr zu einer Groß- bzw. Megastadt (mahānagar) heranwächst, eine Entwicklung, die in seinen Augen dem Verlust von Empfindsamkeit (saṃvedan'śīl'tā) und Natürlichkeit (prakr̥ti) gleichkommt. Die Angst bricht sich in Albträumen Bahn, in denen es um Bargirls und um Sex mit einer nahen Verwandten geht. Die Andeutung eines Tabubruchs und die Kafkaeske Symbolik, die sich auch darin zeigt, dass am nächsten Morgen sein ganzes Zimmer voller Spinnenweben ist, verschärfen den sich andeutenden Kontrollverlust. Er sucht Rat bei einem Beamten der Stadtverwaltung, der ihn von den Vorteilen von Urbanisierung, Entwicklung und Fortschritt zu überzeugen versucht, etwa weil mehr Arbeitsplätze entstehen und überhaupt die Lebensqualität steige. Er rät ihm dringend, sich den Veränderungen anzupassen, um nicht unterzugehen.509
Doch erfolglos: Eines Morgens treibt ihn seine Paranoia und Verzweiflung hinaus auf die Straße, wo er seinem Nachbarn Ramesh begegnet. Der ist splitternackt und hat offensichtlich schon vor einiger Zeit den Verstand verloren. Doch als dieser ihn rennen sieht, will er wissen, ob er gerade Morgensport treibe: „Als Ramesh ihn rennen sah, winkte er und rief: ‚Hallo Herr Staatsrat! Gehen Sie heute Joggen? Wow, toll!‘“.510 Die unübliche Anrede als dīvān, erst recht in diesem Kontext, weckt die Assoziation an das typologisch verwandte Wort dīvānā, „wahnsinnig, verrückt“. Der Protagonist wundert sich für einen Moment, dass Rameshs Frage eigentlich gar nicht so verrückt ist, sondern auf einer logischen Schlussfolgerung beruht: Schließlich ist es früh am Morgen und er rennt die Straße runter. Er versucht, Ramesh nachzulaufen. Als er ihn fast eingeholt hat, stolpert er, fällt hin und verliert kurz das Bewusstsein. Erst dann dreht sich Ramesh um. Bestürzt sieht er, dass Rameshs Gesicht seinem eigenen gleicht. Diese Begegnung kündigt das dystopische Ende der Erzählung an: Nachdem er sich ein ganzes Jahr in seiner Wohnung verbunkert hat und den Kontakt mit der beunruhigenden Außenwelt, also der Megastadt, gemieden hat, tritt er eines Tages auf die offene Straße. Obwohl der Morgen schon angebrochen ist, herrscht draußen tiefe Finsternis und Totenstille:
Er fragte sich, warum es noch nicht hell war, obwohl längst der Morgen angebrochen war. Als er gen Himmel blickte, sah er dichte schwarze Wolken über sich hinwegziehen. Alles war nur in dämmriges Licht getaucht. Seine Glieder verkrampften sich. / Er war gerade mal zehn-zwanzig Meter die Gasse runtergelaufen, da flitzte vor ihm plötzlich ein junger Mann splitternackt quer durch die Gasse und war sogleich verschwunden. Bei dem schummrigen Licht konnte er nicht erkennen, wer es war. Dann leuchtete ein Blitz auf, begleitet von heftigem Donnern. Der Schreck fuhr ihm in die Knochen. Vom Kopf bis ins Herz durchzuckte ihn ein Schmerz. Er musste an den früheren Rat seines Freundes denken, aber er konnte sich selbst nicht schützen.511
Indem er die moderne Fortschritts- und Wachstumsideologie in Frage stellt, für welche die Megastadt steht, entfernt sich der verrückte saṛak'māp von den Überzeugungen und Haltungen der durchschnittlichen, ‚normalen‘ Städter. Seiner Ansicht nach dürften Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum nicht einfach als notwendige Folge von Urbanisierung und Globalisierung angesehen werden, sondern als existentielle Bedrohung für die Gesellschaft und das Individuum. In „Megastadt“ fürchtet der Hauptprotagonist, multinationale Konzerne und Großbanken könnten die Kontrolle über die städtische Gesellschaft gewinnen, was unter anderem zur Folge hätte, dass die Mieten aufgrund steigender Grundstückspreise in die Höhen schnellten.512 Auch Kishor Babu kritisiert das Konsumverhalten und den verwestlichten Lebensstil seiner Kinder und Schwiegerkinder, die Wohlstand und Freiheit darüber zu definieren scheinen, dass sie sich in den Shopping Malls mit Markenklamotten eindecken können.513
Somit tritt der verrückte Flaneur als ein ambivalenter Charakter auf den Plan, in dessen Wahnsinn sich zum einen der Anpassungsdruck widerspiegelt, den der permanente Wandel in der Großstadt mit sich bringt. Zum anderen wird mit dieser Figur ein Gegengewicht zum allgemein vorherrschenden urbanen Ethos etabliert. Gerd Bayer beobachtet einen ähnlichen semantischen Einsatz der Flaneur-Figur im zeitgenössischen amerikanischen Roman:
The madness of the characters that we encounter in so many postmodern (and anti-postmodern) narratives may thus simply be a comment on a growing epistemological uneasiness when it comes to the dominant ideologies of postmodernity. To opt out of the established way of thinking, to wander off and become a flâneur along the paths of thinking and logic normally banned, marks the moment of postmodern thinking falling on itself.514
Der verrückte Tramp, der durch die Straßen bummelt oder rennt, drückt das schwindende Zugehörigkeitsgefühl zur urbanen Gesellschaft und zu deren Werten und Praktiken aus. Ob die Ähnlichkeiten in der Typologie des Flaneurs der jüngeren Zeit auf die Rezeption anglo-amerikanischer Literatur durch indische Autorinnen und Autoren zurückzuführen ist, oder ob die Bedingungen postmoderner Gesellschaften sich in West wie in Ost so ähneln, dass Literaten mithilfe einer Anti-Figur etablierte Denkmuster zu hinterfragen begannen, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Ausgehend von Danis, Manus und Saraogis Charakteren kann der verrückte Tramp als kritisches Ventil verstanden werden, mit dem das postmoderne, post-liberale Fortschrittsnarrativ der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre auf den Prüfstand gestellt wird. Der verrückte saṛak'māp verlässt durch sein nicht-konformes Verhalten – ob freiwillig oder unfreiwillig sei dahingestellt – den Rahmen, der die urbanen Norm- und Ordnungsvorstellungen der breiten Bevölkerung, vor allem der Mittelschicht, umfasst. Durch seine Distanzierung zu diesen konformen Ideen von Stadt, Gesellschaft und Nation wird der verrückte Flaneur bzw. Tramp zu einem kritischen Regulativ, das den modernen Lebensstil vor der Folie früherer Ideale von Freiheit und Demokratie, wie sie im Unabhängigkeitskampf gefordert wurden, einer kritischen Revision unterzieht.
2.5 Zwischenfazit
Der kritisch-distanzierte Blick des verrückten saṛak'māps kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die literarischen Figuren (wie auch ihre Schöpfer) in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren, bildhaft gesprochen, mit der Stadt zusammengewachsen sind. Betrachtet man den größeren Zeitraum von 1970 bis 2010, so erzählen literarische Topographien von der sprachlichen, individuellen und sozio-kulturellen Aneignung des Stadtraums durchs Schreiben. Durch drei narrative Techniken wird diese Aneignung vollzogen: Erstens durch Personifikationen als Mittel von Bildlichkeit, zweitens mithilfe der Beschreibung von Schauplätzen und drittens durch die Erzählperspektive und -figur als Mittel der Bewusstseinsdarstellung. Von dieser Annäherung des Individuums (und Autors) an die Stadt zeugt zum Beispiel die Rede vom „Stadtcharakter“, die seit den 1990er Jahren vor allem in Memoiren, Glossen und Gedichten immer weiter Verbreitung findet, wie Harish Nawals Delhi-Satiren illustrieren. Während Sudha Jains verweiblichte „Rosenstadt“ von 1985 noch als abstrakte Allegorie dient, um eine künstliche Scheinwelt zu imaginieren, suchen spätere Körperdarstellungen eine engere Beziehung zwischen lyrischem Ich bzw. Erzähler und der Stadt. Das zeigt etwa der Delhi-Zyklus von Sunita Jain, in dem sie die Hauptstadt als leidensfähigen Menschen darstellt. Damit geht die Abkehr von der Dämonisierung der Stadt einher, die vermehrt in den 1970er und 80er Jahren der Entfremdung des Einzelnen im unbarmherzigen ‚Moloch‘ Rechnung trägt.
Auch Beschreibungen von zentralen Orten geben Aufschluss über die Beziehung des Einzelnen zur Stadt. Wahrzeichen (landmarks) wie das Gateway of India oder Marine Drive in Mumbai (Bombay) prägen nicht nur das Stadtbild, sondern sie sind für die Hauptfiguren Orientierungsanker. Insbesondere gilt das für den Zugezogenen, der sich nach etwas Bekanntem in der Fremde sehnt und deshalb gerade solche ikonischen Orte aufsucht. Es sind zugleich Orte, an denen das Subjekt populäre Vorstellungen von Mumbai (Bombay) als Stadt der Träume und unbegrenzten Möglichkeiten mit eigenen Erfahrungen abgleicht. An zentralen Orten verdichten sich aus Sicht von „alteingesessenen“ Städtern alltagsweltliche Erfahrungen und ein lokales Verständnis globaler Prozesse. Kashinath Singh wählt in „Mohalla Assi“ eine Teebude als Herzkammer eines Viertels, wo die (männlichen) Stammgäste nicht nur über die jüngsten Vorfälle in der Nachbarschaft reden, sondern Meinungen über Regionalpolitik und die globalen Auswirkungen des Tourismus austauschen. Mit lokalen Topoi und einer satirischen Erzählweise, die einen reizvollen Kontrast zwischen elitärer und ordinärer Stadtkultur entstehen lässt, bricht der Autor stereotype Redeweisen über Varanasi, v.a. die der heiligen Stadt der Hindus, auf und erzählt vom Leben abseits des berühmten Assi Ghat (Kapitel 4.2).
Die Erzählperspektive ist ein dritter Weg der narrativen Aneignung von Stadtraum. Sie strukturiert Wahrnehmung und Erfahrung und gibt Aufschluss über sozialräumliche Ordnungen, Werthierarchien und Kontaktzonen. Sie wird z.B. über sensorische Wahrnehmungen gesteuert, die den Schauplatz oder die Atmosphäre einer Erzählung für den Leser erlebbar machen. Gerüche und Geräusche beschreiben neben sozialen Räumen auch das konfliktreiche Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher sozialer Stellung und Herkunft in der Metropole, wie in Asthanas „Der Geruch von jener Nacht“. In der Geschichte bricht der Protagonist durch den Kontakt zu einer Prostituierten mit traditionellen Reinheitsvorschriften und ist gleichzeitig angewidert von der bloßen Berührung ihrer Hände. Die permanente Übertretung sozialer, kasten- und geschlechtsspezifischer Grenzen im öffentlichen Raum, und ganz besonders an belebten Orten wie dem Bahnhof oder dem Zug, wird in vielen Texten als ein zwiespältiges Erlebnis geschildert. Aus Sicht des Migranten erscheint die Menschenmasse oft überwältigend und bedrohlich. Prakash Manus Delhi-Geschichten machen aber auch deutlich, wie sehr sich der Einzelne Anfang der 2000er Jahre an Orten des Transits zu Hause fühlen kann, und Tempo und Gedränge als Normalität wahrgenommen werden: Züge und Bahnhöfe sind wichtige soziale Kontaktzonen. Wie auch bei personifizierten Stadtdarstellungen der 1990er und 2000er Jahre zeugen Manus fiktionale Reportagen davon, dass sich das Individuum stärker mit dem urbanen Lebensstil identifiziert als in den Vorgängerjahrzehnten. Ein umgekehrter Prozess lässt sich bei der Entwicklung der Flaneur-Perspektive im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachvollziehen: In der Nayī Kahānī der 1950er und 60er Jahre entdeckt der Flaneur, wie bei Rakesh, die Großstadt für sich und fühlt sich zur Menge, zum Warenangebot und zu den Verheißungen der Metropole hingezogen. In den Folgejahren reflektiert der Stadtwanderer sein Alleinsein und im Laufe der 1990er und 2000er Jahre beschreitet der „verrückte Flaneur“ eigen(willig)e Wege. Aus der Distanz eines kritischen Beobachters stellt er das Fortschrittsdenken der Städter in Frage. Der vermeintliche Außenseiter ist dennoch fest in der Stadt verankert, denn mit seinen Reflexionen und Erinnerungen schreibt er sich in das ein, was Michel de Certau die „metaphorische Stadt“ genannt hat. Das bedeutet, dass sich auf einer inhaltlichen Ebene die Figuren mit ihren Beobachtungen und Deutungen in die Textstadt „einschreiben“. Auf einer ästhetischen Ebene eignen sich die Autorinnen und Autoren selbst die Stadt an, indem sie zum Beispiel die Geschichte der Stadt als Geschichte ihrer Figur erzählen. Alka Saraogi etwa nutzt das flanierende Denken, um die Geschichte der Stadt und die des Individuums, Kishor Babu, in einen Strang zusammenzuführen.
Betrachtet man literarische Stadttexte im Kontext anderer geistesgeschichtlicher Diskurse, lässt sich die Relevanz der Hindi-Stadtliteratur über ihre semiotische Funktion als Darstellungsmedium bewerten, in dem der Stadtraum erschlossen und begreiflich gemacht wird. Mit der Erzählperspektive des verrückten Flaneurs oder Tramps hat sich bereits angedeutet, dass Hindi-Stadtliteratur auch eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion zukommt: Sie bietet einen kritischen Diskursraum für gesellschaftliche und nationale Selbstbefragungsprozesse.
Während im ersten und zweiten Kapitel die narrative Text- und Stadt(raum)produktion im Mittelpunkt der Betrachtung standen, werden in den Kapiteln drei und vier Raum- und Ordnungsvorstellungen in ihrer zeitlichen Dimension und historischen Entwicklung untersucht werden.
3. Urbane Utopien zwischen nationalem Einheitsideal und postkolonialer Kritik (1970-2000)
3.1 Gescheiterte Moderne? Hindi-Stadtliteratur als kritischer Diskursraum
Der Enthusiasmus der jungen indischen Republik war nach Nehrus Tod 1964 einer ersten großen Ernüchterung gewichen, die Mitte der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreichte: Der blutige Unabhängigkeitskrieg in Ost-Pakistan, der 1971 zur Gründung Bangladeschs führte, die 1967 aufkommende maoistische Naxaliten-Bewegung und die Ausrufung des nationalen Notstands durch Indira Gandhi am 25. Juni 1975 erschütterten die noch junge Demokratie in ihren Grundfesten und führten zu einem Verlust von Stabilität. Diese politischen Krisen wurden von einer zunehmenden ökonomischen Unsicherheit begleitet. Ausgelöst durch Ernteausfälle und Engpässe bei der Nahrungsmittelverteilung machte sie sich bald auch in einer steigenden Inflationsrate bemerkbar. Nicht zuletzt verschärfte die weltweite Energiekrise von 1973 die Lage, denn Indien war von Erdölimporten abhängig, die in Dollar abgerechnet wurden. Die wirtschaftliche Krise wirkte sich auch auf den Arbeitsmarkt aus: Tausende junge Männer, die in Erwartung guter Berufschancen in der Industrie eine Ingenieursausbildung ergriffen hatten, konnten keine ihrer Qualifikation angemessene Beschäftigung finden.515
Die Krisen in Politik und Wirtschaft trafen auf eine Literaturszene, die sich aus eigenen, künstlerischen Gründen im Umbruch befand. Neben den globalen Trends zu einer experimentellen Literatur im Zeichen der Beatbewegung, der Hippies und 68er, die konventionelle Erzählweisen genauso ablehnten wie die Autorität der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen, ergab sich der Impuls zu einer Erneuerung der indischen Literatur vor allem aus einer Hinwendung zu politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen. Die selbstgewählte Politisierung vieler Autorinnen und Autoren in den 1970er Jahren, die unter dem (in der Hindi-Literaturwissenschaft etablierten) Label der „Post-60er“-Generation firmieren, markierte einen wichtigen Übergang von der Individualpsychologie der Nayī Kahānī, zur Gesellschaftspsychologie eines sozialkritischen Realismus, dem etwa die Vertreter der Janvādī Kahānī, „Demokratischen Erzählung“,516 folgten. Während Nayī Kahānī-Autoren wie Nirmal Verma und Mohan Rakesh mit Erzähltechniken der (westlichen) Moderne experimentiert und individuelle Wahrnehmungsperspektiven gewählt hatten,517 suchten die Janvādīs mit ihrer Gesellschaftskritik nun wieder nach Möglichkeiten, kollektive Perspektiven auszudrücken. Sie stellten sich damit einerseits in die einheimische Tradition des sozialen Realismus, wie er von Premchand und dem Progressive Writers’ Movement in einer früheren, kolonialen Phase der künstlerisch-ästhetischen Moderne zwischen 1920 und 1940518 propagiert worden war. Andererseits zeigten sie sich als begeisterte Adepten des globalen Revolutionsgroßvaters Herbert Marcuse (1898-1979). Und mit der „Kritischen Theorie“ nahmen auch die indischen „68er“ eine eher distanzierte Haltung zur traditionellen marxistischen Theorie ein, während sie mit ähnlicher Inbrunst wie in Paris, Mailand oder Berkley den theoretischen Eros der Studentenrevolte zelebrierten. Für sie sollte Theorie, so Volker Knirsch „nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit beschreiben, sondern auch als utopische Praxis einen Beitrag zur Veränderung der Wirklichkeit leisten.‍“519
Unter dem Einfluss der Neuen Linken (nav nām) begannen Schriftsteller wie Kashinath Singh (geb. 1936), für den die Begegnung mit dem russischen Realismus nach eigener Aussage ein Erweckungserlebnis gewesen war,520 politisch auf dem Land zu arbeiten. Dort schrieben sie Kurzgeschichten über – aus klassisch marxistischer Sicht – randständige Gruppen wie die indischen Ureinwohner (ādivāsīs), Landarbeiter und Klein-Bauern, die „als Klassenliteratur den proletarischen Emanzipationsprozess fördern soll[t]en“.521 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die Stadt in vielen Geschichten dieser Autoren die Ignoranz der herrschenden Klasse verkörpert.522 Ein Beispiel ist die Kurzgeschichte „Eigene Welt“ (ap'nī duniyā, o.J.) von Dhirendra Asthana, der über ein ehemaliges Flüchtlingslager (Ramnagar Colony) in der Nähe von Delhi schreibt. Resignation, Abstumpfung und fehlende Zukunftsperspektiven prägen den Ton der Unterhaltung einer Gruppe von Bewohnern der Siedlung, die in der nahen Textilfabrik arbeiten oder arbeitslos sind. Ein Schriftsteller namens Vikram gesellt sich dazu und versucht die Hoffnungslosen mit dem Aufruf zur Revolution (krānti) aufzurütteln. Er wirft den städtischen Intellektuellen und der Mittelklasse vor, scheinheilig und „mental in Rente“ gegangen zu sein523 und ruft dazu auf, gegen das mechanische Leben in den Großstädten (mahānag'roṃ kī yāntrik jind'gī)524 aufzubegehren.525
Die ablehnende Haltung gegenüber dem urbanen „Maschinenleben“ und die im Titel der Kurzgeschichte von Asthana gestellte Frage nach dem Eigenen (ap'nī duniyā) führen in einen Ideenraum, in dem urbane Erfahrungen der postkolonialen Moderne in Auseinandersetzung mit den überkommenen Gesellschaftsutopien der Unabhängigkeitsbewegung literarisch bearbeitet wurden. Postkoloniale Moderne bedeutet hier zweierlei. Einmal bezieht sie sich auf eine Phase des künstlerischen Aufbruchs der 1950er und 60er Jahre, die mit der gewonnenen politischen Freiheit auch einen „Hunger“ indischer Künstler und Literaten auf neue ästhetische Formen bereithielt: Die Nayī Kahānī-Autoren suchten nach einer modernen Formensprache, die individuelles Erleben abzubilden vermochte. Die Bombay Bohemians um den Dichter Arun Kolatkar entwickelten in den 1960er Jahren zum Beispiel einen eigenen, den amerikanischen Beat-Poeten nahestehenden Jargon, der Maler Gulammohammed Sheikh nannte sich und seine Freunde „hungry souls“526 und in Bengalen formierte sich zur selben Zeit die avantgardistische Hungry Generation, die mit obszöner Sprache experimentierte.527 Zum anderen bezeichnet „postkoloniale Moderne“ die Zeit nach der historischen Zäsur der Unabhängigkeit 1947. Neben den offiziellen Großprojekten dieser Modernisierung, die – wie die Planstadt Chandigarh oder das Stahlwerk von Rourkela – auf Reißbrettern entstanden oder von Bürokraten in den Fünf-Jahres-Plänen (1950-55) von Premierminister Nehru vermerkt wurden, gab es also eine zweite, ästhetische Moderne nach der Unabhängigkeit. Doch sie war von Anfang an weniger planbar als der offiziöse Diskurs der politischen Eliten.
In den Hindi-Werken der Dekaden nach 1960 begann der Kontrast zwischen den politischen Modernisierungsprojekten von oben und äthetischen Projekten von unten daher auch, ein Eigenleben zu führen. Die Autorinnen und Autoren des sozialkritischen Realismus der 1970er, 80er und 90er Jahre schufen einen kritischen Diskursraum, indem sie die postkoloniale Modernisierung der Fünfjahrespläne mit Sprachbildern wie der Maschinenstadt oder dem Großstadtdschungel in Frage stellten.528 Dass dieser kritische Diskursraum Anknüpfungspunkte in die Zeit vor 1947 suchte, legen Bezüge zu Gesellschaftsvisionen und Modernisierungsmodellen nahe, wie sie die drei wichtigsten Gründerväter der indischen Nation, Mohandas K. Gandhi (1869-1948), Jawaharlal Nehru (1889-1964) und Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956), in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entworfen hatten. Die eine Seite markierte Gandhis Anti-Stadt-Propaganda, die von einer tief sitzenden Furcht vor der korrumpierenden und spaltenden Wirkung der Industrialisierung und Mechanisierung geprägt war, weshalb das Dorf auch eine so zentrale Rolle in Gandhis Vision von einem unabhängigen Indien spielte. Auf der anderen Seite verorteten Nehru und Ambedkar die Zukunft eines modernen Staates in den Städten, wo Industrialisierung (Nehru) und Bildung (Ambedkar) den sozialen und ökonomischen Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten ermöglichen sollten.
Diese drei Modernisierungsentwürfe, allen voran Gandhis Anti-Stadt-Propaganda, die im Kern nach einer Alternative zum industrialisierten (westlichen) Kapitalismus suchte, verloren nach der Unabhängigkeit nichts von ihrer Strahlkraft. Im Gegenteil, eine junge Generation von Schriftstellern, die um das Jahr 1947 geboren worden war, fragte nach, was aus den Modernisierungsversprechen der Vorväter geworden war. Die enttäuschten Erwartungen an die postkoloniale Moderne, die aus der wirtschaftlichen und politischen Krise resultierten, verlangten nach einer kritischen Revision der Gründerideale, insbesondere im Hinblick darauf, wie die Gegenwart gestaltet werden sollte.
Mit der Frage nach dem „Eigenen“, in Abgrenzung zum Fremden oder Anderen, schlugen die Autorinnen und Autoren des sozialkritischen Realismus eine Brücke zwischen den Gesellschaftsentwürfen aus den Jahren vor und nach der Unabhängigkeit und zu den Deutungsmustern des postkolonialen Diskurses der 1980er Jahre. Selbst wenn die meisten Werke der Hindi-Stadtliteratur keine gesellschaftsprägende Wirkung entfalten mochten, so gewährleisteten sie doch eine gewisse Kontinuität in Debatten um die Zukunft und Identität der indischen Gesellschaft und Nation. Versteht man die Hindi-Stadtliteratur als kritischen Diskursraum, in dem Erfahrungen mit Urbanität, Gesellschaft und Individualisierung reflektiert werden, ergeben sich zwei Deutungsebenen: Erstens lässt sich Hindi-Stadtliteratur als Geschichte der Individualisierung im postkolonialen Indien lesen, die durch die Loslösung des Einzelnen aus dem engen Familienverband und der dörflichen oder kleinstädtischen Sozialordnung mit enormen gesellschaftlichen und psychologischen Umwälzungen einhergeht. In der Hindi-Literatur äußern sich diese Migrationserfahrungen in einer Reihe sozialkritischer Erzählungen mit konservativem Tenor, die aus der Perspektive des Fremden vom individuellen Scheitern und von geplatzten Träumen in der atomisierten Stadtgesellschaft erzählen. Zweitens verdeutlicht eine geistesgeschichtliche Lesart von Hindi-Stadtliteratur, dass Autorinnen und Autoren ältere Visionen und Utopien von der indischen Gesellschaft und Nation wiederaufnehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen, etwa an Nehrus nationalem Leitbild von unity in diversity. Rajendra Awasthi imaginiert in den 1970er Jahren als Heilmittel für „Die kranke Stadt“ eine Art Hippie-Kommune, in der durch freie Liebe und Freundschaft ein harmonisches Gleichgewicht von individueller Selbstverwirklichung und gemeinschaftlichem Zusammenhalt herrscht. Zwei Jahrzehnte später, Anfang der 1990er Jahre, zeichnet Jitendra Bhatiya ein dystopisches Horrorszenario von Mumbai (Bombay) in „Bis zur nächsten Finsternis“. Dort flüchtet eine Gruppe vor der allgegenwärtigen technischen Überwachung und dem globalen Krieg in den Untergrund, wo sie die Erinnerung an die alte „heile Welt“ bewahrt und gemeinschaftliche Werte pflegt. Die Suche nach dem Eigenen angesichts fremder Einflüsse ist ein wiederkehrender Topos in der Hindi-Stadtliteratur und spiegelt die tiefsitzende Angst vor individueller Entfremdung und kultureller Überfremdung wider.
3.2 Im Dschungel der Großstadt: Zivilisationskritische Erzählungen
Auffallend bei einer großen Zahl „konventioneller“ Erzählungen, insbesondere bei Kurzgeschichten aus den 1970er bis 90er Jahren, ist ihr ausgeprägt stadt- bzw. zivilisationskritisches Ethos. In den meisten Werken, vor allem Kurzgeschichten dieser Zeit, bleibt der Fremde, der seinen Platz in der anonymen Stadtgesellschaft oft vergeblich sucht, die wohl verbreitetste Figur, in der individuelle Migrationserlebnisse mit gesellschaftskritischen Fragen verwoben werden. Besonders in Erzählungen der 1970er und 80er Jahren sind Einsamkeit und Entfremdung die vordergründigen Gefühle urbaner Erfahrung.529 Bereits die Nayī Kahānī-Autoren der 1950er Jahre hatten das Gefühl des Alleinseins psychologisch ausgeleuchtet, jedoch stilisierten sie dieses, wie in Mohan Rakeshs „Die kaputten Schuhe“ (Kapitel 2.4.2), als Ausdruck einer neu gewonnenen Selbstständigkeit. In den Jahrzehnten danach zeigte sich die hässliche Fratze der Einsamkeit in Form von gesellschaftlicher Verrohung, dem Gefühl des Abgehängtseins,530 Armut,531 der (gefühlten) Zunahme allgemeiner Gefahren und Stress,532 unsittlichem Verhalten533, Gewalt534 und Kontrollverlust.535 In Bhimsen Tyagis Kurzgeschichte „Großstadt“ schlägt sich das zivilisationskritische Ethos bereits im programmatisch gewählten Titel nieder.536 Sie dokumentiert die Wandlung eines Mannes vom braven Büroangestellten zum verdorbenen Großstädter. Anfangs noch um korrektes Arbeiten und Auftreten bemüht, achtet er bald weder auf sein Äußeres, noch auf Pünktlichkeit. Was ihn noch zu Beginn seiner Zeit in der Großstadt schockiert hat, etwa wenn ein Mann im Gedränge des Busses eine Frau belästigt hat, wird für ihn zur Normalität. Nach einer Weile gewöhnt er sich selbst das Rauchen und den Umgang mit Prostituierten an. In seinem Heimatdorf, dem er ab und an einen Besuch abstattet, fühlt er sich längst nicht mehr heimisch.
Der Blick auf die Stadt und das Städtische fällt in dieser und vielen anderen Erzählungen des sozialkritischen Realismus, die oftmals aus der Perspektive des Migranten erzählt werden, pessimistisch aus. Die Geschichten handeln vom Scheitern des Einzelnen an den kaum zu bewältigenden Herausforderungen oder den schlechten Ausgangsbedingungen in der Großstadt, in die sie anfangs (als Zugezogene, meist auf Arbeitssuche) nicht selten große Hoffnungen gesetzt haben.
Das gilt insbesondere für Prosawerke, die in Mumbai (Bombay) angesiedelt sind. Ihr Ruf als Stadt der Träume, in der jeder es schaffen kann, wird häufig in Frage gestellt, wenn nicht gar kompromisslos zerlegt. Ein Beispiel ist Jitendra Bhatiyas Kurzroman „Deadline“ (samay-sīmānt)537 aus dem Jahr 1977, der hier aufgrund seiner exemplarischen Bedeutung etwas ausführlicher wiedergegeben wird. Er erzählt vom Scheitern des College-Absolventen Subhash Khanna, der nach Bombay geht, um seinen Traum vom Künstlerdasein zu verwirklichen. Seit den zehn Jahren, die er in Bombay lebt, hält er sich mehr schlecht als recht mit dem Malen von Filmplakaten über Wasser. Die Handlung setzt ein, als er eine Postkarte erhält, mit der sein Onkel ihn über den Tod der Mutter informiert. Die erzählte Zeit beschränkt sich zu einem Großteil auf diesen einen Tag und auf zahlreiche Rückblenden, in denen er über sein Leben in Bombay nachdenkt, von dem weder die Mutter noch der Onkel viel gewusst haben. Weil er sein Nachtlager im Lokal Annapurna Lunch Home nicht vor halb zwölf abends aufsuchen darf, muss er sich bis dahin die Zeit vertreiben und läuft ziellos umher.538 Subhash denkt über das merkwürdige Paradox des Großstadtlebens nach, über sein kleines stilles Leben in dieser großen, menschenüberfüllten Stadt.539 Er sinnt darüber nach, wie wenig Ahnung seine Mutter und der Onkel vom harten Leben in der Stadt haben, in der der Einzelne in der Menge wie ein Roboter funktionieren muss, um zu überleben, und man sich im Alltag nach verlässlichen Beziehungen sehnt.
In einer Rückblende in die Schulzeit erfährt der Leser, dass die Mutter nach dem Tod des gewalttätigen und alkoholkranken Vaters alles daran gesetzt hat, dem Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen und ihn in seinem Interesse an der Kunst zu unterstützen.540 Nach dem College nimmt er in der Nachbarstadt das Studium in der Art School auf. Diese Zeit ist Subhash in bester Erinnerung, da sie ihm viel Freiheit und Entfaltungsspielraum bot. Gleichzeitig setzt mit dem sozialen Aufstieg eine schleichende Entfremdung von den Menschen im Heimatort ein. Als sich das Studium dem Ende zuneigt, wird die Frage nach dem Brotverdienst immer drängender. Subhash will keinesfalls die Lehrerlaufbahn einschlagen, sondern sein Glück als freiberuflicher Künstler versuchen. Anfangs klappt das noch ganz gut, als er in der Stadt in einem Kunstgewerbe-Geschäft (Emporium) Miniaturmalereien an Touristen verkauft. Mit seiner eigenen Kunst hat er jedoch keinen Erfolg. Als er entscheidet, sein Glück in Bombay zu versuchen, beneiden ihn seine Kommilitonen darum, denn die Metropole bedeutet für sie die Eintrittskarte zum Glück. Subhash ist überzeugt, dass dort allein das Talent zähle, um es zu etwas zu bringen: „Bombay, das ist die Stadt der Künstler, wo Kreativität noch hochgehalten wird und ein Kunstschaffender allemal über die Runden kommt.‍“541 Im Rückblick erkennt Subhash, dass von den großen Hoffnungen und Investitionen nichts geblieben ist. Auf der Busfahrt zum Bahnhof, von wo aus er in die Heimatstadt in Rajasthan aufbricht, betrachtet er die vorbeiziehenden Gebäude, Arbeitersiedlungen, das Meer, doch es gibt nichts, was seinen Anteil an dieser Stadt vermuten ließe:
Diese kalte Stadt da hat mich nie zu ihrem Verbündeten gemacht; im Gegenteil, mich hat immer mehr das Gefühl beschlichen, dass sie mir mit den Jahren eher alles geraubt hat. Dieses Gefühl hat eine bleierne Müdigkeit hervorgebracht, eine erstickende und unheilvolle Müdigkeit, die auch die kalte Luft in den klimatisierten Büros der Werbeagenturen nicht zu vertreiben vermochte.542
Während des nächtlichen Zwischenhalts in Savai Madhopur in Rajasthan erkennt ihn ein ehemaliger Mitstudent wieder, der mit Frau und Kind nach Jaipur reist. Der klagt über sein unfreies, da verantwortungsbeladenes Leben, und will gespannt wissen, was Subhash treibt und wo er lebt. Als er erfährt, dass Subhash in Bombay lebt, ist sein ehemaliger College-Kollege mächtig beeindruckt: „Für ihn war schon der Name Bombay pure Magie.‍“543 Die Assoziationen des Freundes rekurrieren sich aus den bekannten Klischees: Film-Shootings auf den Straßen, Filmstars und Glamour. Als der Bekannte ihn nach seiner Tätigkeit fragt, sagt er nur, dass er als freischaffender Künstler arbeite; es gebe immer irgendeinen kleinen Auftrag. Über die Schwierigkeiten verliert er kein Wort: „Ich dachte die ganze Zeit nur, oh ja, im Vergleich zu deinem langweiligen Leben ist es so dermaßen aufregend, sich für jedes Stück Brot abstrampeln zu müssen.‍“544 Bald darauf erreichen sie den Bahnhof von Jaipur. Als er schließlich vor seinem verwaisten Elternhaus steht, erfährt er, dass seine Mutter als Putzkraft arbeiten und unter erbärmlichen Zuständen leben musste, was ihm die Illusion seines Bombay-Traums umso schmerzlicher vor Augen führt. Bhatiyas Erzählung illustriert, wie trügerisch (māyāvī) Bombays Versprechen von der Erfüllung individueller Träume ist. Subhashs Schicksal demonstriert, wie krachend der Einzelne in der vermeintlichen Traumstadt scheitern kann.
Wenn in den hier vorgestellten Beispielen Frauen ihr Glück in der Metropole wagen, läuft es nicht selten darauf hinaus, dass sie von Männern (sexuell) ausgenutzt werden oder gar in der Prostitution enden.545 Dieser Extremfall tritt in der Kurzgeschichte „Selbst wenn du Lata Mangeshkar wärst“546 (1996) von Vibha Rani (geb. 1959) nicht ein, wenn auch der sexualisierte, ausbeutende Umgang mit Frauen in der Filmindustrie offengelegt wird. Eine junge Bankangestellte namens Lajvanti träumt davon, Sängerin zu werden, und macht sich deshalb aus ihrer Heimat Bihar auf den weiten Weg nach Bombay. Sie eifert der bescheidenen und in ihrem Auftreten wenig glamourösen Sängerin Lata Mangeshkar nach, die es trotzdem zur berühmtesten Bollywood-Sängerin gebracht hat. Allerdings stoßen der schlichte Baumwollsari und die reservierte Art von Lajvanti bei den Produzenten nicht auf Gegenliebe, die weniger an ihrem musikalischen Talent als an nackter Haut interessiert sind. Schnell wird klar, dass für sie als wichtigstes Kriterium für eine Bewerberin nicht deren Gesangstalent im Vordergrund steht, sondern vielmehr ihre Bereitschaft, sich „entgegenkommend“ zu zeigen:
„Sir, wie schätzen sie meine Chancen ein?
„Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Ein Hit ist für mich mit links gemacht. Produzier einen Song mit mir, und du wirst über Nacht zum Star. Aber dafür wirst du dich hier schon anpassen müssen.‍“
„Wie meinen Sie?“
„Ich meine, komm, lass es es uns irgendwo gemütlich machen und in aller Ruhe drüber reden...‍“547
Lajvanti bleibt ihren Idealen treu. Ihr geht es ums Singen und sonst nichts. Indem sie an ihren moralischen Standards festhält, sich aber gleichzeitig einen urbanen Lebensstil aneignet, reift sie von einer naiven Landpomeranze zur selbstbewussten jungen Frau heran, die sich den Herausforderungen der Großstadt stellt. Der Wandel zeichnet sich in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild (uplifting) ab: Lajvanti kleidet sich modisch und trägt die Haare offen, jedoch nicht irgendwelchen Musikproduzenten, sondern sich selbst zuliebe. Die Geschichte trägt ein emanzipatorisches Moment in sich. Obwohl die Heldin den unmoralischen Angeboten der Produzenten trotzt, entwickelt sie sich doch zu einer eigenständigen, mutigen Frau.
Metropolen wie Mumbai (Bombay) sind bevorzugte Schauplätze, um emanzipierte Frauenfiguren vorzustellen, die durchaus bewusst ihre eigene Sexualität jenseits traditioneller Paarbeziehungen ausleben, wie in Mridula Gargs Kalkutta-Erzählung „Hindernis“ (rukāvaṭ) aus dem Jahr 1977, in dem die Protagonistin sich mit ihrem Liebhaber in einem Hotel trifft und ihn über seine früheren Beziehungen ausfragt, was sie am Ende an der Beständigkeit dieses Seitensprungs zweifeln lässt.548 Als Garg 1979 in ihrem Roman „Die gefleckte Kobra“ (cittakobrā) über die sexuellen Sehnsüchte einer verheirateten Frau schrieb, die ihren Ehemann als bloßes Objekt zur eigenen Lustbefriedigung betrachtet, löste allein schon die Schilderung selbstbestimmter Weiblichkeit einen Skandal aus.549
Feministische Perspektiven in der Hindi-Stadtliteratur, wie die von Garg, stellen für die hier untersuchten Werke der 1970er, 80er und 90er Jahre eher eine Ausnahme dar. Es gibt zwar vereinzelt Beispiele für romantische Begegnungen in der Großstadt wie in Suraj Prakashs „Währte dieser Zauber doch nur ewig“ (yah jādū nahīṃ ṭūṭ'nā cāhie),550 in der ein zufälliges Telefonat einen unschuldigen Flirt zwischen dem Protagonisten und einer ihm unbekannten Frau zur Folge hat. Doch solche romantischen Geschichten scheinen eher in populären Genres wie der Laghupremkathā, einer Form kurzer Liebesromanzen, verbreitet zu sein, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten herausgebildet haben.
Im Rahmen dieser Arbeit lassen sich deshalb nur vorsichtige Aussagen treffen. Wenn (oftmals männliche) Autoren den Umgang der Geschlechter und Sexualität thematisieren, dann meist, um die Fragilität von Liebesbeziehungen und Liebesheiraten aufzuzeigen.551 Exemplarisch sei hier die 1988 publizierte Kurzgeschichte „Ein Wald aus Ziegelstein“ (īṃṭoṃ kā jaṃgal) von Tejendra Sharma (geb. 1952) genannt, in der ein junges Paar nach seiner Liebesheirat der geistigen Enge der Kleinstadt und den damit verbundenen Konventionen entfliehen will und seine ganze Hoffnung auf Bombay setzt: „In Großstädten wie Bombay erhalten schon Träume alleine den Menschen am Leben.‍“552 Obwohl beide aus guten Verhältnissen kommen und er außerdem ein Jobangebot bei einer Fluggesellschaft bekommen hat, gestaltet sich die Suche nach einer eigenen Wohnung als extrem schwierig. Bald wird klar, dass der Wohnungsmarkt von Halsabschneidern und Spekulanten beherrscht wird. Die beiden beschließen trotzdem, sich ein Haus bauen zu lassen. Jedoch erleben sie viele Rückschläge; anstatt das Haus fertig zu bauen, wirtschaftet sich der Bauherr mit dem Geld der Auftraggeber in die eigene Tasche.553 Die Geschichte endet damit, dass die Firma das Haus nach drei Jahren, in denen die Grundstückspreise heftig gestiegen sind, gewinnbringend weiterverkauft. Der Titel der Geschichte bezieht sich auf den Großstadtdschungel mit seinen Hochhäusern, wohl aber auch auf die wild wuchernde Korruption in Bombays Baugewerbe in den späten 1980er und 90er Jahren.
Der Stadtdschungel ist ein weit verbreiteter Topos, der auch außerhalb der literarischen Repräsentationsebene, etwa in populärwissenschaftlichen oder journalistischen Texten, herangezogen wird, um das Undurchdringliche, Wuchernde und Komplexe der sozialräumlichen Ordnung Megastadt in eine Metapher zu kleiden.554 Mitunter wird der Stadtdschungel mit der „Chaosmoderne“ in Beziehung gesetzt.555 Die Autorinnen und Autoren bedienen sich dabei eines literarischen Topos, der dem deutschen Leser aus der expressionistischen Literatur der 1910er und 20er Jahre vertraut ist. Bertold Brechts Drama „Im Dickicht der Städte“ (1923) etwa spielt in Chicago und handelt vom unerbittlichen Kampf zweier Männer. Das Dickicht nimmt in dem Stück eine wortwörtliche und eine metaphorische Bedeutung ein. Unter anderem steht es für die Verstrickung der Familien in der Chicagoer Unterwelt. Neben universalen Entfremdungserfahrungen dürfte auch Brechts große Beliebtheit unter linken Kulturschaffenden und Intellektuellen erklären, warum vor allem die Schriftsteller der 1970er und 80er Jahre diese Metapher aufgriffen.
Das Motiv des Großstadtdschungels ist in Hindi-Texten mit einer ganz ähnlichen Bedeutung aufgeladen wie die Personifikation der Stadt als Dämon (Kapitel 2.2.3). Wie auch die Verkörperung der Stadt als menschenfressendes Ungeheuer liegt der Vorstellung von der städtischen Wildnis das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Angst vor dem Unkontrollierbaren zugrunde, die sich angesichts von Kriminalität, Gewalt oder dem alltäglichen Überlebenskampf aufdrängt.556 Der Dschungel557 kann in einer metaphorischen Dimension, ganz ähnlich wie im deutschen Expressionismus, auch die undurchdringliche Gesteinsmasse bezeichnen, „die den Menschen erdrückt“.558 Schon im Raj Kapoor-Klassiker Shree 420 (1955) warnt ein Bettler den gerade in Bombay eingetroffenen Raj vor der unbarmherzigen patthar kā śahar, der Stadt aus Stein. Kälte, fehlende Moral und unüberbrückbare Schranken sind auch die Merkmale der literarischen Stadt aus Stein. Der 1971 veröffentlichte Roman „Die Stadt aus Stein“ (patth'roṃ kā śahar) von Suresh Singh (geb. 1940) nimmt das Motiv auf und beschreibt die aushöhlende Wirkung modernistischer sozio-kultureller Entwicklungen auf das Leben einer Familie in Delhi.559 In Tejendra Sharmas Erzählung „Wald aus Ziegelstein“ (īṃṭoṃ kā jaṃgal) heißt es: „Die ganze Stadt ist von riesigen Hochhäusern eingekesselt – von einem Wald aus Ziegelstein.‍“560
Die Angst vor dem drohenden Kontrollverlust äußert sich ganz drastisch in der Kurzgeschichte „Die wild gewordene Stadt“ (jaṅgal hotā śahar) von Mithileshwar (geb. 1948). Darin steigert sich die Hauptfigur Singh Babu in die paranoide Angst hinein, bald Opfer einer Gewalttat zu werden. Die Geschichte beginnt damit, dass sich Singh Babu über den täglichen Mord und Totschlag, über den in der Zeitung berichtet wird, erschüttert zeigt. Ihn treibt die Frage um, was einen Menschen zum Mörder macht. Als er seine Kollegen im College fragt, ob sie schon die Zeitung gelesen hätten, reagieren zunächst alle beunruhigt, weil sie fürchten, persönlich betroffen zu sein. Alle brechen in Gelächter aus, als Singh Babu ‚lediglich‘ die Mordtaten erwähnt, denn das sei schließlich normal. Ebenso reagieren die Studenten in seiner Vorlesung. Singh Babu kann die Gleichgültigkeit und Abstumpfung gegenüber solcher Gewalt im Land kaum fassen: „Unterwegs dachte er immerzu, dass ein Mensch heute nicht besser dran war als ein Rettich. War einem danach, schnitt man ihn eben in Stücke. Weder verschwendete man davor groß einen Gedanken daran, noch tat es einem hinterher irgendwie leid.‍“561 Bald legt er ein paranoides Verhalten an den Tag und vermutet hinter jeder fremden Person, die hinter ihm herläuft, einen kaltblütigen Mörder. Er fürchtet etwa, dass ein Schüler, dem seine mahnenden Worte nicht gefallen haben, ihn von hinten erdolchen könnte. Auch packt ihn die Angst, dass erneut Unruhen zwischen Hindus und Muslimen ausbrechen könnten. In seinen Gedanken vergleicht er die Stadt mit unzivilisierter Wildnis.
In Singh Babus Kopf hallte nach, was die Leute sagten: Du bist hier nicht auf dem Dorf, sondern in der Stadt. Und das soll städtische Kultur sein? Ist das nicht viel mehr das Gesetz der Wildnis, wo alle anderen Tiere das Weite suchen, sobald der Löwe eines von ihnen reißt. […] Danach kam es ihm so vor, als laufe er durch einen Dschungel voller Bestien.562
Die Geschichte endet damit, dass Singh Babu in Ohnmacht fällt und als psychisch krank eingestuft wird. Ein ähnlicher Tier-Mensch-Vergleich taucht in der modernen Fabelerzählung „Der andere Dschungel“ (dūs'rā jaṃgal) von Yogendra Dave (o.A.) auf, in dem ein Geiervater und sein Sohn in der Stadt Zeugen eines Blutbads werden. Der junge Geier fragt daraufhin den Vater: „What, then, is the difference between the jungle and the town? There, animals kill each other, here, the people have slaughtered each other.‍“563 Beide Erzählungen beziehen sich offenbar auf die communal riots, die Anfang der 1990er Jahre Bombay und andere indische Großstädte erschütterten. Ein weiteres Beispiel, in dem Wildnis als Abwesenheit von Menschlichkeit und Zivilisation vorkommt, ist das das ausgestorbene Stadtzentrum in der Science-Fiction „Bis zur nächsten Finsternis“ von Jitendra Bhatiya (Kapitel 3.3.2), das als „unbekanntes Niemandsland“ (aj'nabī biyābān) und „fremde Wildnis“ (aj'nabī jaṃgal) bezeichnet wird.564 In dieser Verwendung deutet sich an, dass die Grenze zur Seelenlandschaft fließend ist, und dass Wildnis im weiteren Verständnis auch als Metapher für Gefühlszustände wie Verlassenheit, Ohnmacht oder Aussichtslosigkeit dient.
Diese Beispiele machen klar, dass der Großstadtdschungel und die Stadt aus Stein dystopische Momente von Stadterleben abbilden. Beide Motive überführen die Diskrepanz zwischen Individuum und Stadt in krasse Metaphern, die erstens die erdrückende Beklommenheit und Orientierungslosigkeit inmitten des Stadtdschungels veranschaulichen und zweitens der Stadt ordnungszersetzende, unkontrollierbare Kräfte zuschreiben, die den Menschen verrohen lassen, weswegen er kaum besser dasteht als ein gemeines Tier oder Wurzelgemüse.
Die Attribute des Gegensatzpaares Stadt (Kultur) und Wildnis (Natur) können allerdings eine paradoxe Umkehrung erfahren.565 Wildnis und Natur können nämlich auch die vermeintliche Zivilisiertheit der Stadt in Frage stellen, wie es zum Beispiel in Sara Rais nach einer wuchernden Kletterpflanze benannten Kurzgeschichte „Amarvallari“ von 2005 geschieht. Dort wird ein verlassenes Grundstück inmitten der Stadt zum Zufluchtsort für Außenseiter, die in der Gesellschaft keinen Platz haben (siehe auch Kapitel 4.3.1). Die „unsterbliche Ranke“, so die wörtliche Übersetzung von Amarvallari, leistet in ihrer wilden Wüchsigkeit Widerstand gegen die fortschreitende Stadtverdichtung.566
Wenn die hier vorgestellten Texte auch keine orts- oder zeitversetzte Alternative aufzeigen, zielt die in ihnen formulierte Sozialkritik darauf ab, die Negativseite von Urbanität aufzuzeigen. Der Traumstadt Mumbai (Bombay) kommt dabei eine herausragende Stellung zu, da dort persönliche Erwartungen häufig an der Realität zerschellen. Im Vergleich zu diesen – in erzähltheoretischer Hinsicht recht konventionell gestrickten – sozialkritischen Geschichten stellen Utopien Fragen nach den „institutionellen Bedingungen des menschlichen Daseins und Glücks, nach den Gerechtigkeitsprinzipien seiner Ordnung und nach der Rationalität seiner Umsetzung“.567 Damit gehen Utopien über die reine Kritik des status quo hinaus und entwerfen alternative Vorstellungen vom Zusammenleben in der (Stadt)Gesellschaft.
3.3 (Alb)Traum Bombay: Utopische Erzählungen
Dieses Unterkapitel verfolgt das Ziel, literarische Utopien als Teil sozio-politischer Denktraditionen zu lesen und sie als Fortführungen der Modernisierungsdiskurse und Gesellschaftsutopien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Literarische Utopien können deshalb als Quellen der geistesgeschichtlichen Moderne in Südasien herangezogen werden, die jedoch, im Unterschied zu anderen Texten, auf ein imaginäres System der Weltdeutung zurückgreifen: „As historians tried to explain the city through conceptual systems, writers of literature relied on imaginative systems.‍“568 Vorstellungen von einer erdachten bzw. idealen Stadt(-gesellschaft) können Aufschluss über die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation geben: „Quite often, the imagined society is the opposite of the real one, a kind of inverted image of it.‍“569 Bei der Vielzahl von Definitionen und Forschungsansätzen570 herrscht doch weitgehend Konsens darüber, dass sich Utopien durch ihren Realitätsbezug auszeichnen, sich an Krisen entzünden und insofern ein Instrument zur Kritik an den bestehenden Verhältnissen bilden.571 Dabei erschöpfen sich Utopien nicht in ihrer zeitkritischen Funktion, sondern beinhalten nicht selten auch innovative Ideen und konstruktive Gegenbilder.572
Wie kaum ein anderes Genre bezieht sich die literarische Utopie auf bestehende Bilder und Vorstellungen von einer Stadt. Durch sie lassen sich populäre Narrative wie das der Traumstadt (Kapitel 1) besonders wirkungsvoll überhöhen oder aushebeln. Es ist daher wohl kein Zufall, dass Bombay ein beliebter Schauplatz für visionäre oder gar utopische Ideen vom städtischen Zusammenleben ist.
Egal ob die Stadt Schauplatz einer Utopie oder Dystopie ist: Sie dient als Blaupause für Visionen von einer geschützten inneren Sphäre, in der Menschen in Abgrenzung zum (meist bedrohlichen) Außen eine authentische, gute Lebensweise erproben oder bewahren können. Blicken wir in die jüngere Hindi-Stadtliteratur, so sind idealtypische Utopien eher eine Randerscheinung.573 Allerdings gibt es ein utopisches Sujet, das sich wie ein roter Faden durch die jüngere Hindi-Literatur zieht: Die Einheit individueller Freiheit und der Sicherheit gemeinschaftlicher Beziehungen. Im folgenden werden zwei Beispiele aus den 1970er und 1990er Jahren vorgestellt, die unterschiedliche Ideen präsentieren, wie ein ideales gesellschaftliches Zusammenleben in der inneren Sphäre aussehen kann.
3.3.1 Eine Hippie-Kommune in Bombay: „Die kranke Stadt“ von Rajendra Awasthi (1973)
Anders als der Titel es erwarten lassen würde, huldigt der aus Jabalpur (Madhya Pradesh) stammende Rajendra Awasthi in „Die kranke Stadt“ (bīmār śahar) einem freiheitlichen Lebensideal, das an die globale Hippie-Kultur der 1960er anknüpft. Die Charaktere des Romans betrachten Emanzipation und freie Liebe als geeignete Werkzeuge, um alte Strukturen aufzubrechen. Der Name der Hauptfigur, die starke Betonung von Subjektivität und Individualismus sowie die revolutionären Ideen von freier Liebe und einem gesellschaftlichen Umbruch geben Anlass zu der Vermutung, dass Agyeyas Roman „Shekhar“ (śekhar, ek jīvanī) aus den 1940er Jahren Pate stand.574 Im Gegensatz zu Agyeyas Roman, in dem die existentialistische Sinnsuche eines Freiheitskämpfers in der Retrospektive geschildert wird, zeichnet sich Awasthis Buch durch eine Nähe zur Sozialromantik aus. Diese ist bereits in einem seiner früheren Romane angelegt. In „Dschungelblumen“ (jaṃgal ke phūl) überträgt Awasthi seine Utopie auf die Kultur der indischen Ureinwohner (ādīvāsī) fernab der modernen Zivilisation;575 wenige Jahre später dann auf eine Wohngemeinschaft in Bombay.
„Die kranke Stadt“, deren Stoff auch in einem Theaterstück verarbeitet wurde,576 ist in einer Pension namens Bunchi Terrace in Bombay angesiedelt. Der Roman bietet einen alternativen Entwurf zur traditionellen Vorstellung von Familie, Ehe und Gesellschaft. Streng genommen handelt es sich um eine Heterotopie, da die Vision von einem anderen Ort vermittelt wird, der für eine Werteordnung steht, die sich wie eine Insel von der sie umgebenden Umwelt und deren Sozialgefüge abhebt. Michel Foucault definiert Heterotopien als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.‍“577 Das Ideal von einer durch Nächstenliebe, Respekt und Toleranz getragenen Gemeinschaft578 wird mit gesellschaftlichen Werten – zuvorderst der Wunsch nach einem selbst­be­s‍timmten Leben in einer kultivierten Umgebung – verschweißt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Vorstellungen von individueller Selbstentfaltung und freier Liebe in einem Roman aufgegriffen werden, der in Bombay spielt. Auf dem Buchrücken wird das Bild der weltoffenen, liberalen und modernen Stadt zitiert:
Im Wettlauf um die Moderne hatte Bombay immer schon die Nase vorn. Nirgends ist der Umgang zwischen den Geschlechtern so liberal wie hier. Die Stadt bietet sowohl den Intellektuellen eine Bühne, als auch Platz für die Sperenzchen der einfachen Leute. Der Romancier Rajendra Awasthi hat das ganz richtig als „kranke Stadt“ bezeichnet und in diesem vielbeachteten Roman Mumbais verborgene Wahrheiten offengelegt.579
Einige Zitate aus dem Buch deuten darauf hin, dass sich der Titel auf den Ist-Zustand der Gesellschaft bezieht, in dem der Einzelne ein großes Gefühl der Leere verspürt. Zwischenmenschliche Beziehungen, vor allem die zwischen Mann und Frau, werden als Heilmittel für die vereinsamten Großstädter angesehen: „Überhaupt, wie sehr ist der Mensch in Städten wie Bombay zu einer Maschine degeneriert? Jeder dreht er sich nur um sich selbst. Was kann diese Einsamkeit heilen?“580 Das Maschinen-Motiv, das bei Asthana und anderen Autoren des sozialkritischen Realismus die Entfremdung des Einzelnen im unbarmherzigen Uhrwerk der Stadt betont, dient in „Die kranke Stadt“ als Ausgangspunkt für eine utopische Idee von völlig neuen Formen des Zusammenlebens. Bombay wird zum Labor für dieses gesellschaftliche Experiment, in dem das Individuum die Ketten von Konventionen und Traditionen abstreift und zu einem mündigen Bürger reifen soll. In der Pension wird die Utopie von der Vereinigung individueller Freiheit und gemeinschaftlichen Zusammenhalts Wirklichkeit.
Individualismus wird vor diesem Hintergrund als Medaille mit zwei Seiten betrachtet. Einerseits ist er die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben in der Großstadt, andererseits führt er zur Vereinzelung. Zu Beginn der Erzählung denkt Shekhar über die Zweiteilung des Individuums in privat und öffentlich nach, und immer wieder taucht der Vergleich mit Masken (nakāb'poś) auf, mit denen sich Menschen verstellen.581 Diese Schilderung veranschaulicht genau jenen Zustand, den Georg Simmel in „Die Großstädte und das Geistesleben“ als Blasiertheit bezeichnet.582 Simmel erläutert in einer Analogiekette, wie sich das Individuum unter dem Einfluss permanenter Reizüberflutung und Arbeitsteilung, der dafür notwendigen Spezialisierung und dem wachsenden Konkurrenzdruck anderen Menschen gegenüber emotional abschottet. Einerseits diene das dazu, sich vor dem Überangebot von Kontakten, Angeboten und Reizen zu schützen, andererseits aber auch möglichst wenige Schwächen der eigenen Persönlichkeit nach außen zu kehren, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
Das Maskenmotiv ist ein Hinweis darauf, dass sich in kapitalistischen Gesellschaften ähnliche Wahrnehmungsmuster ausbilden. Jedoch unterscheidet sich Simmels klare binäre Gegenüberstellung von Großstadtleben (Gesellschaft) und Landleben (Gemeinschaft) von Awasthis Versuch, diese beiden Lebensweisen in Einklang zu bringen: „Das hier ist nichts anderes als eine kleine Familie – jeder ist für sich da und gleichzeitig sind alle miteinander verbunden. Alle sind für alle und für niemanden da.‍“583
Das Prinzip vom „Ich im Wir“ spiegelt sich auch in der multiperspektivischen Erzählweise wider. Der Roman wird abwechselnd aus unterschiedlichen Blickwinkeln der einzelnen Bewohner oder ihnen nahestehenden Personen erzählt, teils in Tagebucheinträgen oder Briefen, meistens aber in Form von mündlicher Erzählung.584 Die Hausherrin, Miss Gorawala, ist eine alleinstehende ältere Dame, die als mitfühlend und hilfsbereit beschrieben wird. Obwohl sie sich jedem noch so verlausten Hund annimmt, duldet die Anti-Traditionalistin allerdings keinerlei Toleranz gegenüber der „Institution Ehe“ (vivāh saṃsthān, S. 117), weshalb sie keine verheirateten Paare als Mieter aufnimmt: „Solange du dich nicht in diesen dreckigen Sumpf von Ehe reinziehen lässt, kannst du hier sehr gerne wohnen.‍“ Miss Gorawala war die Geliebte eines reichen Geschäftsmannes; ihre drei erwachsenen Töchter führen alle ein ausgesprochen emanzipiertes Leben. Unter der Hausherrin versammelt sich eine Gruppe von vier Untermietern völlig unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft: Die College-Lehrerin Prof. Acharya, die junge Kamala Ayyar aus Südindien, die wegen eines Filmangebots nach Bombay gezogen ist und nun an der Rezeption eines Hotels arbeitet, sowie die ehemalige Prostituierte Manjari, die aus einem Dorf in Madhya Pradesh stammt. Die Hauptperson ist der freischaffende Journalist Shekhar, der einen promiskuitiven Lebensstil pflegt und die anderen, sogar die angepasste Hindi-Professorin, davon überzeugt, dass die Ehe das Ende jeder Liebe ist.585 Shekhar spricht von seiner Religion bzw. Lebensaufgabe (dharm): „Ich habe nicht nur eine Freundin, zu mir kommen viele Frauen. Ich liebe sie alle. Denn zu lieben ist meine Religion.‍“586 Die illustre Wohngemeinschaft verkörpert eine Gesellschaft, die nicht aus einer bloßen Hülle verkrusteter Konventionen und sinnentleerter Traditionen besteht, sondern die vom Geist der Nächstenliebe und Selbstverwirklichung getragen wird. Shekhar glaubt, dass die alte Gesellschaft erst vollständig zusammenbrechen muss, bevor eine neue entstehen kann: „Diese Klasse (varg) wird eine neue Gesellschaft hervorbringen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Hände dieser neuen Klasse stärker sein werden, weshalb die Gesellschaft, die durch sie geformt wird, die alte ganz vertilgen wird.‍“587 Und: „In Wirklichkeit erwarten wir alle eine neue Gesellschaft. Sie ist nicht mehr fern, denn ihre Grundfeste sind erschüttert worden.‍“588
Die Figurenkonstellation bietet einen deutlichen Hinweis auf die radikale Erneuerung durch alle Gesellschaftsschichten hindurch, unabhängig von der sozialen oder regionalen Herkunft. Einen zentralen Strang der Erzählung bildet Manjaris Lebensgeschichte: Jung verwitwet wird sie gegen ihren Willen zur Kurtisane ausgebildet. Bald darauf wird sie die Geliebte von Niranjan Singh, der mit ihr gemeinsam dem Dorf und der damit verbundenen sozialen Kontrolle und Isolation entflieht. Sie leben kurze Zeit in Delhi, bis Niranjan sich gezwungen sieht, seinen familiären und geschäftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Manjari nimmt er mit ins Dorf, wo sie, nachdem eine Gruppe Männer sie überfallen und missbraucht hat, eine Zeit lang als Zweitfrau im Haus von Niranjans Familie lebt. Weil diese Konstellation – wenig verwunderlich – bei Niranjans Frau und der Dorfgemeinschaft auf Ablehnung stößt, begleitet Niranjan seine Geliebte nach Bombay, wo sie einen Neuanfang versucht. Die anderen Bewohner der Pension schätzen an Manjari ihren bodenständigen und ehrlichen (saral) Charakter und bewundern ihre Wandlung vom armen, benachteiligten Dorfmädchen hin zum gebildeten Stadtmenschen. Manjari lernt Englisch und gründet eine Schule. An der urbanen Gesellschaft schätzt sie, dass jeder sich frei entfalten kann, ohne unter der ständigen Beobachtung anderer zu stehen: „Mein Leben hat sich in der kurzen Zeit so sehr verändert! Hier gibt es keine bösen Blicke wie im Dorf. Hier ist jeder ganz mit sich selbst beschäftigt. Man lugt nicht einfach so bei anderen Leuten ins Fenster. […] Wir sind so verbunden, dabei ist gar nichts weiter passiert.‍“589
Die Anonymität der Großstadt ermöglicht es dem Einzelnen überhaupt erst, sich zu emanzipieren,590 fernab der dörflichen Zwänge (soziale Kontrolle, die Stigmatisierung Andersartiger und fehlende Bildungs- und Aufstiegschancen, Doppelmoral), die im Roman kritisiert werden.591 Bildung und ihr Nährboden, der urbane Lebensstil, werden mehrfach als Schlüssel zum Erfolg genannt: „Lass jetzt alles hinter dir! Versuch, in Bombay zur Bombayitin zu werden. Lern nach Lust und Laune! Bildung wird dir ein neues Leben schenken!“592 Die Emanzipation und Selbstentfaltung Manjaris steht symptomatisch für den Wandel der Gesellschaft durch den Einzelnen: „Es ist gerade so wichtig, dass sich eine Person ändert, weil doch eine Gruppe von Menschen eine Gesellschaft bildet.‍“593 Paradoxerweise bildet das ‚Ehrliche‘ und ‚Echte‘ des Dorfes, das sich im bodenständigen und grundehrlichen Charakter Manjaris manifestiert,594 einen Gegenpol zum städtischen Werteverfall, der sich zum Beispiel im Fremdgehen und Alkoholkonsum äußert. So kritisiert Manjari, die ehemalige Prostituierte, den Lebensstil der Tochter von Miss Gorawala, Satya, weil die in Clubs geht, Alkohol trinkt und mit anderen Männern tanzt, weil sie ihre Ehe frustrierend findet. Manjari ist der Meinung, dieser ganze Party-Lifestyle entspreche nicht „unsere[r] indische[n] Kultur“ und würde sicherlich nicht zum Seelenfrieden beitragen.595 Obwohl also die Stadt, nicht das Dorf, der Ort für Shekhars radikale Gesellschaftsreform ist, führt der Autor mit der weiblichen Hauptfigur Manjari durch die Hintertür die positiven Seiten der traditionell-dörflichen Lebensweise wieder ein. Somit vereint die weibliche Hauptfigur idealtypisch die Vorzüge von urbaner Selbstentfaltung (Gesellschaft) und traditioneller Werte (Gemeinschaft).
Der Autor schreibt sich mit seiner Heterotopie in die Hippie- und Beatnik-Subkultur ein, die mit Allen Ginsberg aus New York oder San Francisco nach Indien kam. Gewiss lässt sich dieses kulturelle Phänomen nicht als reine Bewegung von West nach Ost lesen, ruft man sich in Erinnerung, welche Bedeutung Indien für die spirituelle und geistige „Erweckung“ westlicher Künstler und Intellektueller wie eben Allen Ginsberg hatte, der zwischen 1961 und 1963 Delhi, Kalkutta, Varanasi und Bombay bereiste und seine Erlebnisse und Gedanken (unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen) in seinem „Indischen Tagebuch“ festhielt.596 Im Austausch mit Ginsberg und anderen Gleichgesinnten war in Bombay und anderen Städten vor allem in Dichterzirkeln eine lokale Popkultur aufgekeimt.597 Die „Bombay Beatniks“ um Arun Kolatkar, Dilip Chitre und Arvind Krishna Mehrotra machten sich das American English zu eigen und entwickelten es weiter, etwa um mittelalterliche bhakti-Lyrik zu adaptieren.598 Inwieweit der in den 1960er und 70er Jahren boomende Hippie-Tourismus in Indien Hindi-Schriftsteller wie Rajendra Awasthi in ihrem Schaffen inspiriert haben könnte, muss hier unbeantwortet bleiben.599 Sicher ist, dass sein Roman am Ende einer Zeit entstand, in der Künstler Bombays kreative Potenz weckten, ja den Grundstein für den Mythos Bombay legten, der uns heute noch in populären Vorstellungen von der Stadt der Träume begegnet. Die 1960er Jahre waren der Höhepunkt eines individualistischen Lebensgefühls. Awasthi spinnt diesen Individualismus weiter, indem er ihn als Basis für eine moderne Vorzeigegesellschaft imaginiert, die als eine Art nationaler Mikrokosmos nach Nehrus Ideal von unity in diversity funktioniert. Dieser Traum vereint mehrere Ideenströme: Die Anti-Establishment-Rhetorik und der Glaube an freie Liebe, ein ausgeprägter Körperkult sowie eine freiheitlich geprägte Gemeinschaftlichkeit knüpft an den zeitgenössischen Hippie-Kult der 1960er Jahre an. Zweitens greift Awasthi eine sozialistische Fortschrittsideologie auf, die mit liberal-humanistischem Gedankengut gepaart ist und auf die sich z.B. Nehru und Ambedkar beriefen. Sie wird v.a. in der Figur der Manjari greifbar. Die ehemalige Prostituierte und Analphabetin vom Land vollzieht in Bombay eine Metamorphose zum kultivierten Stadtmenschen, der seine Erfüllung wiederum in der Vermittlung von Wissen findet. Auch der Wunsch nach sozialer Gleichheit ist ein Merkmal der zukünftigen Gesellschaft, wie Shekhar sie sich erträumt.600 Drittens fließen traditionelle Vorstellungen und Denkschulen wie der des Advaita-Vedanta ein, die viele Sozialreformer, auch Gandhi, durch die Lektüre der Upanishaden nachhaltig geprägt hat, und umgekehrt ihre Rezeption und Kanonisierung als zentrale hinduistische „Schrift“ angekurbelt hat.601 Die Lehre des Advaita, des Nicht-Dualismus, beinhaltet im Kern, dass brahman (das Absolute, die „Weltseele“) und ātman (die individuelle Seele) identisch sind. Um dies zu erkennen und individuelle Erlösung zu erlangen, gilt es, den Schleier des Unwissens (māyā) zu zerreißen, der beide Bereiche voneinander trennt. Diese Hoffnung auf Erkenntnis (durch die Überwindung von Unwissen) kommt in dem etwas kryptischen Zitat zum Ausdruck, in dem Shekhar auf den Tag hofft, der den Schleier der Unwissenheit zerreißen und alle aus ihrem ignoranten Dasein in der kranken Stadt befreien wird.602 Die Hoffnung auf einen völligen Systemzusammenbruch, der der Erneuerung der Gesellschaft vorausgehen muss, vereint in sich Sozialismus und Mythologie: Das goldene Zeitalter der Zukunft wird freie Menschen hervorbringen. Awasthi nimmt die – teils gegensätzlichen – Gesellschaftsentwürfe der Gründerväter Indiens auf und verwebt sie zu einer sozialromantischen Utopie: Nehrus sozialistisch angehauchte Fortschrittsideologie, die Indiens Zukunft in den urbanen (Wirtschafts)zentren verortete, Ambedkars Überzeugung, dass Bildung und Urbanität soziale Schranken und das Kastendenken durchbrechen könnten und Gandhis Vision von der autarken und gerechten Dorfnation. In der inneren Sphäre der Wohngemeinschaft herrscht ein harmonisches Gleichgewicht gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Werte: eine familienähnliche Bindung bei gleichzeitiger individueller Freiheit und Selbstentfaltung.
3.3.2 Orwells „1984“ in Hindi: „Bis zur nächsten Finsternis“ von Jitendra Bhatiya (1998)
„Bis zur nächsten Finsternis“ (ag'le aṁdhere tak) von Jitendra Bhatiya ist ein Beispiel für eine futuristisch-dystopische Erzählung in Hindi, in der Mumbai im Jahr 2097 zum Schauplatz eines Krieges zwischen zwei globalen Supermächten wird. Eine Gruppe Widerständler versucht im Geheimen, die Erinnerung an eine bessere, menschlichere Vergangenheit wach zu halten. Es handelt sich um eine Zeitutopie,603 in der sich Technik- und Kapitalismuskritik in einem Schreckensszenario zuspitzen, in dem der ökologische Kollaps und die Selbstvernichtung der Menschheit durch einen globalen Krieg kurz bevorsteht. Verschiedene Elemente wie die totalitäre Überwachung, der globale Krieg zwischen zwei Supermächten und die Untergrundorganisation weisen Bezüge zu George Orwells „1984“ (1949) auf.604 Auch im Text selbst wird auf „1984“ und „Animal Farm“ (1945) verwiesen.605 Während Orwell (1903-1950) jedoch einen sozialistischen Überwachungsstaat imaginiert, handelt es sich bei den Mächtigen in „Bis zur nächsten Finsternis“ um die Ausgeburten des kapitalistischen Systems und des Informationszeitalters: Multinationale Konzerne haben die Welt unter sich aufgeteilt und die technische Überwachung dank künstlicher Intelligenz perfektioniert. Während bei Orwell drei Supermächte – Ozeanien, Eurasien und Ostasien – nach dem dritten Weltkrieg um die Vorherrschaft auf der Erde kämpfen, hat sich die Zahl bei Bhatiya auf zwei verfeindete Lager, Ostler (pūrv'vāle) und Westler (paścim'vāle), reduziert, die aus multinationalen Konzernen hervorgegangen sind. Genau wie bei Orwell gleichen sich die Mächte in ihrer totalitären Herrschaftsstruktur wie einem Ei dem anderen, dennoch führen sie gegeneinander Krieg.606 Die Gedankenpolizei ist bei Bhatiya durch ein hochentwickeltes, überall präsentes computerisiertes Überwachungssystem ersetzt worden. Einen schnauzbärtigen Führer nach historischem Vorbild – bei Orwell stand aller Wahrscheinlichkeit nach Stalin Pate – gibt es allerdings nicht mehr. Der Krieg hat sich mittlerweile bis zu einem Grad verselbstständigt, bei dem keiner der beiden Kontrahenten den Anführer des anderen mehr kennt.
Die Erzählung beginnt damit, dass der Ich-Erzähler, Ravikumar, in einem Krankenhauszimmer aufwacht. Sein Kopf ist über einen Helm mit einem Computer verkabelt, der ihn darüber informiert, wo er sich befindet, und selbst auf seine Gedanken reagiert. Er erfährt, dass er seit einem Anschlag am 7. Januar 1993 im Koma liege, an den er sich nur dunkel erinnern kann. Heute, am 12. April 2097, teilt der Computer mit, befinde er sich auf der Neurologie des D.I.‍M. Krankenhaus in Alibagh. Nach dem ersten Schrecken versucht er sich gegen die übergriffige Maschine zu wehren, indem er seine Gedanken kontrolliert und sie mit ein paar Schimpfwörtern wie Vollidiot (ullū kā paṭṭhā) oder Hurensohn (harām'zādā) verwirrt: „Ihre Frage war undeutlich. Bitte denken Sie noch einmal.‍“607 Schließlich befreit sich der Patient von den Kabeln und flieht aus dem Krankenhaus. Kaum ist er draußen, fängt das ganze Klinikgebäude plötzlich Feuer. Prompt tauchen Jets auf, die den Brand in Sekundenschnelle löschen.608 Eine Lautsprecherdurchsage teilt mit, dass es sich um einen Angriff der Ostler gehandelt habe, und sich jeder mit einer Atemmaske vor dem gefährlichen Gas schützen solle. Trotz der unerträglichen Hitze geht er weiter Richtung Stadtzentrum. Kurz darauf hält ein über dem Boden schwebendes Auto an und ein Mann, der einen Helm und einen Ganzkörperschutz (nakāb) trägt, brüllt: „Willst du hier etwa krepieren? Wo ist deine Atemmaske?“609 Als der Autofahrer erfährt, dass der Fußgänger aus dem D.I.M kommt, fährt er panisch weg.
Bald entdeckt Ravikumar einen Tunnel, in den eine Art Rolltreppe hinabführt,610 auf der er einen älteren Mann anspricht. Dieser fragt ihn, ob er zu den Ostlern oder zu den Westlern gehöre. Da Ravikumar mit dieser Frage nichts anzufangen weiß, erzählt er von seiner Flucht aus der Klinik. Der Alte erklärt ihm, dass sich Ostler und Westler im Krieg befänden und gerade die finale Schlacht ausfochten. Bombay (baṃbaī) war drei Jahre, nachdem er ins Koma gefallen war, in Mumbai (muṃbaī) umbenannt worden. Im Jahr 2063 sei ein langwährender Streit um den Namen der Stadt ausgebrochen: Die Ostler nannten sie mohanbaī, wohingegen die Westler von māhimbe sprachen.611 Als er ahnungslos fragt, was denn dann aus dem ganzen Land, Indien, geworden sei, entgegnet der Alte lachend, dass es keine Länder mehr gäbe und nur noch Mond und Mars separate Bezirke seien, für die man einen Pass brauche.612 Ravikumar will wissen, wie er zu seiner Wohnung in Shivaji Park käme. Der Alte sagt, dass das Stadtzentrum nur noch aus Büros und Laboren zur Züchtung künstlicher Intelligenz anhand von Menschen bestehe, und dass dort schon längst niemand mehr lebe.613 Dennoch willigt er ein, Ravikumar zu begleiten und gewährt ihm mit seinem Ausweis Zugang. Auf dem Weg ins Zentrum passieren die beiden maschinelle Kontrollen. Der Zug, in dem sie sitzen, wird ferngesteuert, außerdem gibt es interessante technische Gadgets für die Fahrt. Mithilfe des Gedächtniserfrischers (memory freshener), einer Brille mit dunklen Gläsern und Kopfhörern, begibt sich der Träger in einen Rosengarten, der alle Sinne anregt und die Müdigkeit vertreibt. Doch das ist nicht die einzige Funktion des Kopfhörers, so der Alte: „Mit diesen Kopfhörern kann man das vorzüglichste Essen genießen, sein Lieblingsspiel spielen, ja sogar Sex mit dem Wunschmann oder der Traumfrau haben, wie es beliebt.‍“614 Das Kinderkriegen sei allerdings nur einem Teil der Frauen vorbehalten.
Später erklärt er Ravikumar, wie es zu der Spaltung gekommen war. Nach dem Zusammenschluss aller Länder im Jahr 2027 hätten die großen multinationalen Konzerne kleinere Firmen und Institutionen geschluckt, bis am Ende nur noch zwei große Organisationen übrig geblieben seien. Diese hätten alle politische Macht an sich gerissen und die Religionsgemeinschaften unter sich aufgeteilt: Zu den westlichen zählten Christen, Juden, Muslime und Nihilisten (vināś'vādī); zu den östlichen gehörten Hindus, Jainas, Buddhisten, Sen, Mandarin [sic!] und Sikhs.615 Am fünfzehnten Geburtstag müsse man sich für eine der beiden Gruppen entscheiden und sich registrieren lassen. Als der Neue seinen Begleiter fragt, welcher Gruppe er angehöre, vertraut ihm dieser an, dass er beide Lager verachte und keiner der beiden Gruppen angehöre.
Als sie hinausgehen, weist der Alte ihn an, eine Schutzmaske zu tragen, und klärt ihn darüber auf, dass aufgrund der zerstörten Ozonschicht das UV-Licht so ungehindert in die Atmosphäre eindringen könne, dass sie nach kurzer Zeit blind mache.616 Plötzlich taucht in der Ferne ein bekanntes Gebäude auf, das Gateway of India, das die Zeiten überdauert hat und bei Ravikumar Erinnerungen an seine Frau Nirmala wachruft. Doch das verfallene Tajmahal Hotel und die sengende Hitze katapultieren ihn zurück in die Gegenwart. Der Alte bietet ihm an, ihn zu begleiten. Nach einem Hirn-Scan, der ausschließt, dass Ravikumar ein Spion ist,617 laufen beide durch ein Labyrinth von Gassen in Colaba. Allerdings kann er keinen einzigen Laden entdecken, die Stadt wirkt leer und wüst (aj'nabī jaṃgal).618 Nach mehreren Sicherheitsschleusen gelangen sie über einen stockfinsteren Tunnel in einen schummrig beleuchteten Saal, in dem eine Gruppe andächtig den Raga Yaman Kalyan summt. Der Alte heißt ihn willkommen in der „Welt der Freunde des Untergrunds“ (zamīn ke dostoṃ kī duniyā).619
Die Mitglieder der Untergrundgruppe, darunter Parminder Singh Mozart, begrüßen ihn euphorisch: „Es bedeutet uns sehr viel, dass du dich unserem Kampf anschließt.‍“620 Eine ältere Frau erklärt ihm, dass sie den Weg in den Untergrund gewählt hätten, um für das Leben zu kämpfen statt Selbstmord zu begehen, wie es die Vögel getan hätten. Mit Verweis auf Nietzsches Nihilismus (nakār'vād) fügt sie hinzu, dass viele Menschen resigniert hätten. Eine hochbetagte Engländerin antwortet dem Neuling auf die Frage nach dem Sinn und Ziel der Vereinigung: „Uns treibt an, inmitten dieses sinnlosen mechanischen Lebens am Leben zu bleiben. Wir wollen nicht sterben.‍“621 Deshalb hat die Gruppe auch damit begonnen, die Ozonschicht zu reparieren.
An den Gebetssaal (prārth'nāgr̥ha) schließt das Kunstmuseum an.622 Parminder Singh betont, dass die Ausstellungsstücke keine Farce (dhokā) seien, wie sie der memory freshener hervorbringe, sondern reale Dinge, darunter ein Nudelholz und eine Zange für Fladenbrot, Filme mit Sharukh Khan und anderen Filmstars aus den 1990ern, sowie eine Flasche Benzin. Auch alte Ölgemälde und Bilder von berühmten Persönlichkeiten wie Jesus, Charlie Chaplin, Guru Nanak, Gandhi und William Shakespeare sind ausgestellt. Zu den Portraits von George Orwell und Karl Marx erklärt Cynthia: „Marx steht für unseren Kampf, aber im Ringen ums Überleben ist uns auch Orwell wichtig, weil er vor 150 Jahren in ‚1984‘ und ‚Animal Farm‘ dieses Szenario vorhergesagt hat.‍“623 Parminder Singh ergänzt: „Die Maschinen, die wir erschaffen haben, beherrschen uns jetzt.‍“624
Die beiden gehen durch eine weitere Tür und fahren weiter hinab, bis sie auf einen großen Platz (maidān) gelangen, wo die Luft frisch und das duftende Gras von Tau benetzt ist.625 Dort warten bereits viele Menschen auf eine Ansprache des neuen Mitstreiters. Der Alte appelliert zunächst an alle, sich zu berühren, um die „erste Welt der Berührung“ wieder zum Leben zu erwecken.626 Nach dieser haptischen Einstimmung hält Ravikumar eine Rede. Er erzählt von alltäglichen Begebenheiten und unscheinbaren Dingen, von Zuhause, seiner Arbeit, der Imbissbude um die Ecke, den Gerüchen am Colaba Causeway, dem Schrei der Pfauen. Alle Leute hören ihm gebannt zu, einige weinen oder jammern. Plötzlich sind am Himmel Sirenen und Flieger zu hören. Durch Lautsprecher kommt die Durchsage: „Nummer 141993 Ravikumar, wir haben dich entdeckt. Wir wussten, dass du uns am Ende zu diesem Versteck führen würdest. Deshalb haben wir dich laufen lassen. Beweg dich nicht vom Fleck, wir haben dich im Visier...‍“627 Am Ausgang erwarten ihn Polizisten. Schließlich erwacht er wieder in der Klinik. Er sieht, gleich einer Erscheinung, den Alten vor sich, der ihm sagt, er solle sich nicht fürchten, denn es ginge weiter, so schnell ließen sie ihn nicht sterben.
Einige Vorkommnisse aus Bhatiyas Schreckensvision fußen auf realen Ereignissen und Entwicklungen aus der Entstehungszeit der Geschichte. Zum einen erinnert der Tag im Januar 1993, an dem der Protagonist ins Koma gefallen war, an die gewaltsamen Zusammenstöße (communal riots) zwischen Hindus und Muslimen. Zwischen Dezember 1992 und Januar 1993 wurde Bombay – als Reaktion auf die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya durch Hindu-Fundamentalisten – von einer Reihe schwerer anti-muslimischer Ausschreitungen heimgesucht. In einem Racheakt islamistischer Terroristen kamen am 12. März 1993 bei mehreren Bombenanschlägen in der Innenstadt von Bombay mehrere hundert Menschen ums Leben. Mit dem Streit um den Namen der Stadt, der schließlich zum Krieg zwischen Ostlern und Westlern führte, bei dem alle Religionsgemeinschaften der Erde in zwei Gruppen aufgeteilt wurden, spielt der Autor auf die 1995 von der hindunationalistischen Regionalpartei Shiv Sena betriebenen Umbenennung Bombays in Mumbai an. Bis heute bleibt die Namensänderung umstritten, da in ihr ein Werkzeug zur religiös-kulturellen und politischen Gleichschaltung gesehen wird, die dem kosmopolitischen Charakter der Urbs prima in Indis zuwiderläuft.
Bhatiyas Erzählung zeigt außerdem die Kehrseiten des technischen Fortschritts und des globalen Kapitalismus. Der Rückzug in den Untergrund, wo eine Widerstandsgruppe die Erinnerung an die Vergangenheit wachhält, wird zum probaten Mittel gegen die Entmenschlichung, die Bombay und die Welt heimgesucht hat. Diese Entmenschlichung offenbart sich im globalen Superkrieg zweier Konzerne, in der allgegenwärtigen Überwachung, der lebensfeindlichen Umwelt und im ausgestorbenen Stadtzentrum. Die entvölkerte, bröckelnde Innenstadt ist seiner ursprünglichen Funktion beraubt worden; die Wohngebiete sind an den Rand der Stadt, aufs offene Meer, verlagert worden. Durch die Zerstörung der Ozonschicht – Bhatiya referiert hier auf zeitgenössische Umweltdebatten der 1990er Jahre – ist es lebensgefährlich für Mensch und Tier, sich der direkten Sonneneinstrahlung auszusetzen.
Um gegen die brutale Realität anzukämpfen, pflegt die Untergrundgruppe die kulturellen Werte der alten Welt – Solidarität, Empfindsamkeit und Gemeinschaft im Geheimen. Die Konstellation aus Widerständlern, die sich in eine moralische Sphäre zurückziehen und mit Loyalität und Hingabe für einen höheren Zweck (und gegen das System, aus dem sie geflohen sind) kämpfen, weist auffällige Parallelen zu dem Roman „Das Kloster der Freude“ (ānand maṭh) des bengalischen Schriftstellers Bankimchandra Chattopadhyay (auch Chatterjee) auf. Die Handlung des Romans, die im 18. Jahrhundert angesiedelt ist und auf einem historischen Ereignis, der Rebellion von Asketen (sanyāsins) gegen die muslimischen Herrscher, basiert, wurde schon von den Zeitzeugen Bankims – der Roman erschien 1882 – als Allegorie für den aufflammenden „nationalen“ Widerstand gegen die Briten gelesen.
Was für die Sadhus in „Das Kloster der Freude“ der Dschungel ist, ist für die Widerständler in „Bis zur nächsten Finsternis“ der Untergrund: Eine geschützte, moralische Sphäre, in der die Gruppe die Erinnerung an die „alte Heimat“ bewahrt.628 Die alltäglichen Gebrauchsgegenstände und Bilder berühmter Persönlichkeiten fungieren als Identitätsstabilisatoren, die eine geistige Verbindung zur Vergangenheit herstellen. Es überrascht nur auf den ersten Blick, dass die ‚Reliquiensammlung‘ aus dem Museum nicht automatisch mit einer Indientümelei gleichgesetzt werden kann. Ähnlich wie bei Bankims Roman werden alle Unterschiede dem hehren Ziel der Einheit untergeordnet: Das Nebeneinander von Shahrukh Khan, Karl Marx und George Orwell z.B. zeugt – genau wie die internationalen Namen der Widerständler (Parminder Mozart Singh, Cynthia) selbst – vom kosmopolitischen Charakter und der kulturellen Vielfalt der früheren Stadtkultur. Mit diesem Warnszenario schickt Jitendra Bhatiya eine zugespitzte Version des Niedergangsnarrativs voraus, wie es uns bereits in Gyan Prakashs und Naresh Fernandes Stadtbiographien oder in den Essays des Bandes „Mumbai. City of Dreams“ wenige Jahre später begegnet ist. Gewiss spricht Bhatiya mit seiner Dystopie eine ganz andere Leserschaft an als Prakash oder Fernandes.
Die Mischung aus Science-Fiction, Kapitalismuskritik und Sozialromantik rücken die Geschichte in die Nähe des literarischen Kitschs. Bhatiya nutzt die Form eines populären Unterhaltungsgenres, um in überspitzter Weise auf mehreren Ebenen aktuelle Probleme, aber auch die Ängste seiner regionalsprachlichen Leserschaft anzusprechen. Auf einer lokalen Ebene sind das eine zunehmend anti-pluralistische Politik der hindu-nationalistischen Shiv Sena Partei (Umbenennung Bombays in Mumbai) und fundamentalistischer Terror (Anschlagsserie 1993). Auf einer nationalen Ebene spielen die Sorge vor ökonomischer Fremdbestimmung und Überfremdung durch die Liberalisierungspolitik der frühen 1990er Jahre und drittens globale Umweltdebatten (Ozonloch) hinein. Gegen all diese – realen wie gefühlten – Bedrohungen von außen setzt Bhatiya eine Gruppe von Widerständlern ein, die pluralistisch-humanistische Werte in einer Solidargemeinschaft pflegt und das kulturelle und gesellschaftliche Erbe der einst kosmopolitischen Stadt Bombay (und des Landes Indien) schützen will. Der Autor vermittelt seinen Lesern in einer David-gegen-Goliath-Erzählung ein klares moralisches Weltbild, bei dem er an Narrative der nationalistischen Frühzeit, wie Bankims „Kloster der Freude“, anknüpft und sein Verständnis von kultureller Identität auf eine „innere Sphäre“ projiziert, in der die Mitglieder Nehrus säkularem Ideal von unity in diversity nachfolgen. Die Idee einer idealen Gemeinschaft ist eng mit nationalen Selbstbefragungsdiskuren verbunden.629 Interessanterweise dient Bhatiya die wohl berühmteste Dystopie der europäischen Moderne, Orwells „1984“, als Vorlage, um die visionäre Weitsicht seiner Geschichte zu unterstreichen und an die Leseerfahrungen und -vorlieben seines regionalsprachlichen Publikums anzuknüpfen. Wagt man aus der Ferne eine vorsichtige Einschätzung und schließt man rein deduktiv vom Autor auf dessen Lesepublikum, so dürften seine Leserinnen und Leser der gebildeten (unteren) Mittelschicht angehören und mit den Klassikern der indischen und englischen Literatur vertraut sein, aber auch eine Vorliebe für Genres der Unterhaltungsliteratur hegen. In Bezug auf ihre Ideen von Nation und Gesellschaft zeichnet sich seine Leserschaft wohl durch ein konservativ-demokratisches Weltbild aus, das kapitalismuskritische und technikfeindliche Einstellungen einschließt. Gerade in der schwarz-weiß-Darstellung des globalen Kriegs multinationaler Konzerne drückt Bhatiya die Sorge vor einer ökonomischen Kolonisierung aus. Auf dem Weg in die postkoloniale Moderne, so zeigen diese utopischen Erzählungen, verarbeiten Autorinnen und Autoren häufig Überfremdungsängste, die aus der Erfahrung bzw. aus der Beschäftigung mit der britischen Kolonialzeit herrühren. Zugleich arbeiten sie sich immer wieder an der Frage ab, was das Selbst (in Abgrenzung zum Anderen) definiert.
3.4 Stadtschreiber der Nation: Auf der Suche nach dem postkolonialen Selbst
Edward Saids wegweisendes Buch „Orientalism“630 bescherte der postkolonialen Theorie631 weltweit einen ungeheuren Auftrieb. In Saids Verständnis hatte die westliche Welt den ‚Orient‘ mittels kolonialer Wissensproduktion als „das Andere“ konstruiert, um es unter Kontrolle zu bringen und zu beherrschen. Dieses simplifizierende Herrscher-Beherrschte-Narrativ vermochte die komplexen Abhängigkeitsverhältnisse und Machtallianzen zwischen den einheimischen Eliten und den Kolonialherren in der Geschichte des Kolonialismus jedoch nicht adäquat abzubilden. Gerade indischen Intellektuellen diente Saids Ansatz deshalb als Anregung, eindimensionale postkoloniale Deutungsschemata mit einer Geschichte „von unten“ zu hinterfragen und die Erfahrungen subalterner632 Bevölkerungsgruppen, die nicht der sogenannten Machtelite angehörten – d.h. Arbeiter, Dalits und Frauen – in einer außereuropäischen Geschichtsschreibung zu berücksichtigen.633
Die Hindi-Literatur blieb von diesen intellektuellen Debatten nicht unberührt. Ganz im Gegenteil, bereits die Vertreter der jan'vādī-Bewegung der 1970er Jahre hatten die Lebens- und Erfahrungswelt marginalisierter Gruppen, vor allem Bauern, Arbeiter und Dalits, in den Blick gerückt (Kapitel 3.1). Das war freilich kein neues Phänomen, denkt man an Premchands Interesse am Alltag der Bauern, Arbeiter und einfachen Landbevölkerung, oder an die Autorinnen und Autoren der Progressive Writers’ Association, wie Saadat Hasan Manto, dessen Kurzgeschichten z.B. im Rotlichtmilieu spielen. Die Suche nach der eigenen Geschichte, Kultur und Nation ist ein zentraler Topos in der jüngeren (und auch jüngsten) Hindi-Stadtliteratur. Einerseits verarbeiten ihre Verfasser biographische Migrationserfahrungen. Die individuelle Suche nach dem Selbst ging aber auch Hand in Hand mit der Frage, was die ‚eigene‘ kulturelle Identität eigentlich auszeichne und welchen Weg die Nation einschlagen solle, wobei die drei Bereiche Kultur bzw. Zivilisation (sabhyatā), Gesellschaft (samāj) und Land bzw. Nation (deś) in der literarischen Betrachtung aufs Engste miteinander verwoben sind.634
Dieses Phänomen hat Ulrich Bielefeld auch für die europäische Geistesgeschichte nachgewiesen. Bielefeld erinnert daran, dass der Begriff der Nation in seiner Bedeutung immer auch die „Fiktion der Einheit“ einschließe:
Unter Gesichtspunkten der Organisation und der Institutionalisierung bezog sich die Nation auf den Staat, in dem sie sich realisierte oder realisieren sollte. In der Perspektive der Einheit, die mehr als den geografischen Raum und die Organisation des Staates umfassen sollte, trat ihr fiktionaler Charakter hervor. Die Nation institutionalisierte sich nach innen und außen als der Ort des Politischen und zugleich als Medium des Fiktionalen, eine Großgruppe schaffend, die sich der Vorstellung entzog und daher Darstellung verlangte.635
Wozu dieser Schlenker in die Ideengeschichte des europäischen Nationalismus? Schließlich bergen solche Parallelen die Gefahr einer eurozentrischen Fortschrittserzählung, die suggeriert, die postkolonialen Nationen des Südens würden (oder müssten) eine Entwicklung nach dem Muster der modernen europäischen Nationalstaaten durchlaufen. Das ist freilich nicht Ziel und Zweck dieser Untersuchung. Vielmehr gilt es, auf die globale Rezeptionsgeschichte der Ideen von Nation und Gesellschaft hinzuweisen. Die Architekten der indischen Nation, Gandhi, Nehru und Ambedkar, hatten sich während ihrer Studienjahre in England mit westlicher Philosophie und aufklärerischen Ideen (v.a. wie sie in den Liberalismus und Utilitarismus eingegangen sind) auseinandergesetzt. Sie erkannten – wie schon die Generationen vor ihnen – die Widersprüche, die in Anspruch und Wirklichkeit der britischen Einflussnahme in ihrer Heimat so offen zutage traten.636 Die liberalen und demokratischen Ideale bildeten trotz (oder gerade wegen) dieser Widersprüche das Fundament, auf dem die freie Nation gründen sollte. In der postkolonialen Stadtliteratur werden diese Visionen aufgenommen, kritisch hinterfragt und weitergedacht. Schon die utopischen Erzählungen haben verdeutlicht, dass die Metropole ein prädestinierter Ort ist, um die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zu beleuchten und die Einheit vom „Ich im Wir“ zu träumen. Das betrifft auch die Suche nach der kulturellen Identität und dem nationalen Selbst: Welchen Platz hat das Eigene im postkolonialen Indien und was genau beinhaltet es überhaupt? Wie viel Moderne, wie viel ‚Westlichkeit‘ verträgt das Land? Hindi-Stadtliteratur, das belegen Swadesh Bharatis „Stadtfreund“ und Manoj Rupras „Unstrument“, wird zu einem wichtigen Medium, in dem die imaginierte Nation bzw. die gesellschaftliche Identität ihre (fiktionale) Darstellung findet.
3.4.1 Emanzipiertes Kalkutta: Swadesh Bharatis „Der Stadtfreund“ (1985)
Obwohl es sich bei „Der Stadtfreund“ (nagar-baṃdhu)637 um einen eher unbekannten Roman handeln dürfte, ist er doch in zweierlei Hinsicht wichtig für die Frage nach der literarischen Auseinandersetzung mit dem postkolonialen Selbst. Der Roman besteht aus drei Erzählebenen: Im Mittelpunkt der Rahmenerzählung steht die Diskussion zwischen den zwei Protagonisten, die um Antworten auf die Fragen ringen, was es bedeute, „indisch“ zu sein, und ob Fortschritt zu Lasten von Tradition und kulturellen Besonderheiten gehen müsse oder nicht. In der Binnenhandlung geht es um das Schicksal der Prostituierten Kajal, die durch tragische Umstände ums Leben gekommen ist. Die dritte Ebene besteht aus einem lyrischen Prolog, der vor der Rahmen- und Binnenhandlung steht. Der Autor wählt eine Allegorie, in der Kalkutta zum Zeitzeugen wird und sich als Akteur in ihre jüngste Vergangenheit „einschreibt“. In dieser Emanzipationserzählung bricht Bharati das postkoloniale Deutungschema vom Orient als Opfer kolonialer Herrschaft auf.
„Der Stadtfreund“ erzählt von der Begegnung zweier Männer in einer Bar in der Park Street am Silvesterabend des Jahres 1983. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Schriftstellers Manish, wohl ein alter ego des Autors, erzählt, der unfreiwillig von dem Journalisten Abhitabh in ein Gespräch verwickelt wird. Nach der anfänglichen Reserviertheit und Ablehnung gegenüber dem Fremden nimmt die Unterhaltung an Fahrt auf, nicht zuletzt durch Abhitabhs provozierende Kritik an Manishs Kurzgeschichten, die seiner Meinung nach völlig an der Realität vorbeigingen. Die beiden diskutieren bald über den Sinn und Unsinn von Fiktion, die Lage des Landes und dessen vielfältige Probleme, wie die mangelhafte ökonomische und technische Entwicklung,638 aber auch die starke West-Orientierung, die mit ausländischen Festen wie Silvester eine Einheitskultur hervorzubringen drohe.639 Abitabh versucht Manish davon zu überzeugen, dass man den traditionellen Werten und Denkweisen – er verweist auf die drei guṇas640 – wieder mehr Beachtung schenken müsse: „Wenn du sie [die Diskussion über die drei guṇas] für falsch hältst, bedeutet das, dass dir der Boden der indischen Kultur unter den Füßen wegrutscht.‍“641 Er argumentiert, dass aus diesen drei Prinzipien alle kulturellen Leistungen Indiens, wie die Bhagavadgita, hervorgegangen seien, die heute wie in Zukunft für den gebeutelten Menschen hilfreich sein könnten. Manish hingegen hält diese Prinzipien für überkommen („out of date“).642 Stattdessen müsse sich der Mensch heute in Aufrichtigkeit und friedlichem Zusammenleben üben und im Geist der Nächstenliebe und Freundschaft leben. Er glaubt, dass jeder Einzelne die Macht hat, sich selbst und die Gesellschaft zum Besseren zu verändern, und dass Fortschritt und Selbstbefreiung nur durch Arbeit, Anstrengung und modernes Denken erreicht werden können.643 Immer wieder prallen die beiden Positionen, Tradition und Moderne, aufeinander. Abhitabh fürchtet, dass das Kopieren westlicher Kultur, wie man es beim Brecht’schen Theater und bei internationalen Festen wie Silvester sehen könne, die einheimischen (hinduistischen) Feste und Bräuche verdränge und zum Niedergang (patan) der indischen Kultur führe.644 Gleichzeitig ist er überzeugt, dass nicht Indien Meister im Nachahmen sei, wie Manish glaubt, sondern dass in Wirklichkeit die „Anderen“ (dūs're) es gewesen seien, die das Indische (bhār'tīy'tā) in den Bereichen Bildung, Kultur, Wissen und Wissenschaft kopiert hätten und nun lediglich die Kopie kopiert würde.645
Diese Strategie nationaler Selbstermächtigung, die sich in Abhitabhs Versuch äußert, sich vom erdrückenden Einfluss und der Deutungshoheit des Westens zu emanzipieren, wird auch auf der allegorischen Ebene sichtbar. Kalkutta tritt als Person in Erscheinung, die mal als Baumeister kolonialer Wahrzeichen wie dem Victoria Memorial auftritt, mal als Rikschafahrer an der Konstruktion der Stadt und ihrer Geschichte mitwirkt. Die Geschichte der Stadt, die Ende des 17. Jahrhunderts als Handelsposten der East India Company gegründet wurde, wird in einer emanzipatorischen Neuerzählung radikal umgeschrieben.646 Zunächst stellt eine vierseitige, poetisierende Einführung den Schauplatz Kalkutta, ihre Geschichte, Wahrzeichen (u.a. Howrah Bridge und Kalighat) und Berühmtheiten vor:
Kalkutta, die Stadt von Rabindranath [Tagore], Sharatchandra [Chattopadhyay], Bankimchandra Chattopadhyay, Netaji [S. C. Bose], Mutter Theresa, strickt jeden Tag und jede Sekunde Träume und schmeißt sie erbarmungslos in den Hooghly als wären es Götterstatuen von Durga, Kali, Lakshmi, oder Saraswati, die ein Handwerker, der Schöpfergott Vishvakarma, ein Jahr lang in mühevoller Arbeit angefertigt und verziert hat.647
Ähnlich wie Mumbai (Bombay) hat die Traumstadt zwei Seiten: Einerseits ist sie aktiv an der Traumproduktion beteiligt, andererseits sind die Träume bei ihr keineswegs sicher, denn willkürlich und launisch kann sie sich ihrer in Sekundenschnelle entledigen. In der oben zitierten wie auch in weiteren Passagen jagt die inkarnierte Stadt in einem Ritt durch die Geschichte durch das Kalkutta der Gegenwart und Vergangenheit, tritt mal als passiver Beobachter auf, mischt sich meistens aber aktiv in das Geschehen ein, wobei sie immer aus einer auktorialen Erzählperspektive spricht. Die Grenzen zwischen Akteur, Chronist und Zeitzeuge sind fließend: „Kalkutta schreibt die Ballade vom Aufstieg und vom Fall des Menschen: Im Galopp zerreißt sie die Stille mit ihrem Schlachtruf, mordet, baut Bomben und Munition. Sie hat sich für eine neue Revolution gerüstet.‍“648
In der Gegenwart betrachtet sie aus der Vogelperspektive Orte in der Stadt, an denen sich Frauen als Prostituierte verdingen. Über „die Protagonistinnen auf dem Fleischbazar“ (māṃsal bāzār kī nāyikāeṃ) heißt es: „Die Metropole sieht sich das alles sprachlos an. Dann entzündet sie die Fackel der Revolution. In ihrem ohnmächtigen Zorn, gefangen in finsterster Verzweiflung springt sie von der Howrah Bridge und wird vom Hooghly fortgerissen.‍“649 In den Wellen des Hooghly gelangt sie schließlich zum Hafen, wo der Aufstieg der Briten mit der East India Company ihren Anfang nahm. Selbst in Zeiten der britischen Fremdherrschaft verliert Kalkutta nie die Autorität über die historischen Entwicklungen und wird sogar zum Architekten der berühmtesten Bauwerke aus der Kolonialzeit:
Kalkutta hat die prächtigen Vierspänner der weißen Sahibs, den Pomp und Prunk aus nächster Nähe gesehen. Sie hat auch die Verbrechen, die grausame Unterdrückung, die krasse Demütigung, die Überheblichkeit der Herrscher gegenüber der schwarzen Bevölkerung miterlebt. Dabei war es Kalkutta, die die prächtigen Paläste, Schlösser, Hotels, Konditoreien, Soda- und Schnapsläden, Baumwollfabriken, die unzähligen Gewerbezentren, Tanz- und Vergnügungsetablissements, Rennbahnen, Golfplätze für die weißen Gentlemen erbaut hat. Keine geringere als Kalkutta hat die imposanten Regierungsgebäude, die Amtssitze errichtet.650
Doch auch an der Armut der Bevölkerung hat Kalkutta unmittelbar teil, indem sie ihre eigene Geschichte in Gestalt eines Rikscha-Fahrers buchstäblich aus der Perspektive des Subalternen, nämlich von unten, erlebt. Die Erzählperspektiven wechseln weiter dynamisch hin und her, Kalkutta splittet sich in Akteur (Rikschafahrer) und Beobachterfigur auf, die das Geschehen von oben verfolgt:
Kalkutta jagt von einem Ende zum anderen, in Gestalt eines Menschen, der zum Pferd verkommen ist, kutschiert sie mit bloßen Händen Leute in der Riskha herum. […] Die Metropole sieht nur hilflos zu und dehnt sich immer weiter nach Ost und West, Norden und Süden aus.651
Im letzten Teil der Einleitung wird diese erstaunliche Wandlungsfähigkeit Kalkuttas in dem für den Roman zentralen Avatar der Stadt, den Narren oder Clown (vidūṣak oder Skt. vidūṣaka), bekräftigt:
Die Metropole wechselt in einem fort ihre Farben. Auch heute noch macht sie mal Straßentheater, mal nimmt sie Göttergestalt an und treibt Geld ein oder singt Baul-Lieder. […] Manchmal bringt sie die Leute als vidūṣaka mit ulkigen Geschichten, halb gesungen, halb erzählt, zum Lachen. […] Heute am Silvesterabend hat der vidūṣaka sich auf dem hell erleuchteten Bürgersteig von Park Street in Trance getanzt und gesungen: ‚Meine Träume stiehlt er mir, so hilf mir doch einer, mit meinem Herzen hat er sich aus dem Staub gemacht, so hilf mir doch Freund, den Himmel hat er mitgenommen, so hilf mir doch einer […]‘652
Die Figur des vidūṣaka stammt aus dem klassischen Sanskrit-Theater, wo er als „Sidekick“ des Helden, einem Gott, König, Minister oder Brahmanen, für humoristische Einlagen sorgt und in Liebesszenen einspringt.653 Ganz ähnlich wie der europäische Hofnarr genießt er das Privileg, sich über soziale Normen lustig machen zu dürfen. Diese komische Seite zeigt auch der Clown in „Der Stadtfreund“, wenn er die Menschenmenge unterhält und sie mit seinem Weinen zum Lachen bringt. Insgesamt tritt der Narr drei Mal auf und führt von der Binnenerzählung (über das Schicksal der Prostituierten Kajal) zurück in die Rahmenhandlung.654 Einen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Dieb im Lied um die ehemaligen Kolonialherren handelt, liefert eine in Wortlaut und Inhalt ähnliche Passage im Prosagedicht „Kalkutta, oh Kalkutta“, das offenbar als Vorlage für den lyrischen Prolog in „Der Stadtfreund“ gedient hat.655
Beim mittleren Auftritt wünscht der Clown in einem „progressiven, demokratischen Liednektarstrom“ (pragativādī, janvādī saṃgīt-sudhā dhārā) allen „Kindern Indiens“ (bhārat kī santān), Hindus, Moslems, Sikhs, Parsis und Christen, ein glückliches neues Jahr und ruft zum Weltfrieden auf: „Sing das Lied des Friedens, ein Ende dem Krieg, der Revolution den Sieg!“656 Im Aufruf zur Revolution spiegelt sich das politische Klima im Kalkutta der späten 1970er und 80er Jahre wider. Seit 1968 regierten in Bengalen kommunistische Parteien und trotz der stagnierenden Wirtschaft hatte der Wunsch nach einer Revolution – angefacht durch den Naxalitenaufstand 1967 – bis weit in die 1980er Jahre hinein einen breiten Rückhalt unter der Bevölkerung Kalkuttas.657 Der Ruf nach Revolution, der im Lied des Narren anklingt, hängt eigenartig in der Luft. Doch in seiner Volksnähe und in seinem romantischen Streben, die noch bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten endgültig zu beseitigen, verkörpert der Clown den Idealismus von einer geeinten Gesellschaft. Manish erklärt gegen Ende des Romans, beim dritten Auftritt des vidūṣaka in der Bar: „Schau da, man nennt ihn den vidūṣaka, den Narren, den mit den vielen Gesichtern. Ich hingegen glaube, er singt der Nation aus der Seele. In seinem Lied klingt der Zeitgeist von heute mit.‍“658
Der Ich-Erzähler deutet den vidūṣaka als eine Instanz der Wahrheit und als Gradmesser nationaler Befindlichkeiten. Allerdings bleibt die Aussagekraft des vidūṣakas im Roman seltsam vage. Sucht er mit seiner wiederkehrenden Frage nach dem Traumdieb nach Erklärungen für das postkoloniale Trauma? Oder fordert sein an die Kinder Indiens gerichteter Friedensappell auf, die Zukunft der Nation zu gestalten? Liest man ihn als Allegorie für die postkoloniale Identität, so spricht aus ihm vor allem das ungeklärte Verhältnis zwischen (kolonialer) Vergangenheit und Gegenwart und die Zerrissenheit zwischen Tradition und Fortschritt. Ein Versuch, das nationale Selbst aus dieser Ohnmacht zu befreien, ist es, die Geschichte neu zu schreiben. So besteht der Roman im Kern aus einer Emanzipationserzählung. Erzählerisch wird dies durch die Personifizierung Kalkuttas erreicht, womit der Autor die postkolonialen Dichotomien gewissermaßen umkehrt: Das vom Westen beherrschte ‚Objekt‘ wird nun zum Subjekt. Als Zeitzeuge und Akteur schreibt die Stadt ihre eigene Geschichte um, indem das koloniale Ursprungsmoment – immerhin war Kalkutta eine Gründung der East India Company – getilgt und die Entstehung Kalkuttas von der britischen Einflussnahme entkoppelt, ja geradezu geleugnet. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Passage, in der den weißen Sahebs eine Beteiligung an den (kolonialen) Wahrzeichen der Stadt abgesprochen und Kalkutta selbst zum Baumeister erklärt wird.
Die Frage nach dem (national-kulturell) Eigenen besteht aus zwei Strängen: Das ist einmal das Opfernarrativ, zu dem auch die Geschichte der Prostituierten Kajal gehört, die das Opfer gesellschaftlicher Not (Flucht, Armut, Ausbeutung) ist. Der zweite Strang ist die Erzählung nationaler Selbstermächtigung, die durch die Figur des vidūṣaka und die personifizierte Darstellung Kalkuttas im Prolog umgesetzt wird. Beide Stränge stellen Bharatis Roman in einen postkolonialen Referenzrahmen. Bharati greift das Deutungsschema von Herrscher-Beherrschte auf und durchbricht es mit einer subalternen Emanzipationserzählung über die Stadt Kalkutta, die sich und ihre Geschichte selbst konstruiert und damit die Deutungshoheit über ihre (fremdbestimmte) Vergangenheit gewinnt. Die postkoloniale Selbstbefragung ist von Reibungen und Widersprüchen durchzogen, die zwischen diesen beiden Erzählungen entstehen. Da steht der Aufruf zur Revolution einer reaktionären Rückbesinnung auf einheimische Traditionen und Werte gegenüber, und das demokratische Ideal der Einheit von Inderinnen und Indern aller Glaubensrichtungen einer Vorstellung des kulturell Eigenen, das dezidiert hinduistisch konnotiert ist (Bhagavadgita und die drei guṇas).
„Der Stadtfreund“ veranschaulicht exemplarisch, wie Hindi-Autoren ihre Leserschaft an postkolonialen Debatten teilhaben lassen können, ohne dabei auf eine gewisse Pathetik in der Beschreibung subalterner Schicksale wie dem der Prostitutierten Kajal verzichten zu müssen. Auch lässt ein solcher Roman Spielraum für die teils widersprüchlichen Agendas, die innerhalb des postkolonialen Diskurses Platz finden: Neben der marxistischen Forderung nach einem gesellschaftlichen Umsturz sind das auch nationalistische Ideen von traditioneller Rückbesinnung und demokratischer Erneuerung.
3.4.2 Kunst versus Kommerz: Manoj Rupra: „Unstrument“ (1998)
Dass im Aushandlungsprozess um das Selbst die Frontlinie nicht immer schematisch zwischen den Positionen Tradition und Moderne oder Ost und West verläuft, zeigt ein anderes Beispiel aus der Hindi-Literatur der späten 1990er Jahre, in der ausgerechnet ein Saxophonist Bombays goldene Musik-Ära nach der Unabhängigkeit verkörpert.659 Der Konflikt um die kulturelle Identität entzündet sich in Manoj Rupras (geb. 1963) „Unstrument“ (sāz-nāsāz)660 an den neuen technischen und kommerziellen Möglichkeiten, mit denen Musik billig reproduziert werden kann und klassisch ausgebildete Musiker auf dem Abstellgleis der Geschichte landen.
Aus der Begegnung des Ich-Erzählers mit einem verwahrlosten Saxophonisten entspinnt sich eine Geschichte, die den Leser in den einstigen Glanz der Bombayer Musikszene führt. Der Ich-Erzähler ist neu in der Stadt und verbringt nun seinen Feierabend an der berühmten Strandpromenade am Nariman Point. Als er gerade über das fremde Großstadtleben nachsinnt, darüber, dass trotz der Enge keine Berührung stattfindet, unterbrechen Saxophon-Klänge seine Gedanken:
Ein paar Meter entfernt von mir ließ ein älterer Saxophonist dem Meer und der untergehenden Sonne eine melancholische Melodie erklingen. Auf seiner Schulter saß eine Taube mit geflecktem Gefieder. Auf seinen weißen Bart und eine Strähne seiner langen Haare fielen die letzten goldenen Sonnenstrahlen. Auch der Trichter des Instruments glänzte wie ein goldener Stern. Es war eine Szene wie im Film und ich schaute gebannt zu.661
Als er in der Melodie das Lied „Blue sea and dark clouds“ wiedererkennt, glaubt er, es handele sich bei dem Saxophonisten um einen Ausländer, einen Beatnik, so leidenschaftlich frei von jeglichen klassischen Musiktraditionen er spielt. Das atemberaubende Spiel steht im krassen Widerspruch zum dreckigen, verwahrlosten Aufzug des Musikers. Plötzlich brauen sich schwarze Wolken zusammen, und es beginnt wie aus Kübeln zu schütten: „Dort am Himmel preschte eine schwarze Armee unheilvoller Wolken rasant heran und ehe man sich’s versah, klatschte der erste Monsunregen Bombay eine ins Gesicht. Nie zuvor hatte ich so einen plötzlichen und aggressiven Regenguss erlebt, wenn ich auch gehört hatte, dass der Regen in Bombay niemanden verschont.‍“662
Alles rennt auf der Flucht vor dem Regen auseinander. Der Saxophonist hingegen verausgabt sich nun noch mehr, als wolle er gegen das Unwetter anspielen. In diesem Moment überflutet eine riesige Welle die Promenade von Marine Drive und reißt ihn um. Der Jüngere eilt zu Hilfe. Nach ein paar Minuten kommt der Saxophonist, dessen Gesicht vom Alkohol aufgedunsen ist, wieder zu Bewusstsein. Er fragt ganz unverblümt nach Geld; im Austausch dafür bittet der Jüngere darum, den Abend mit ihm verbringen zu dürfen, weil er sonst niemanden kenne.663
Daraufhin erzählt ihm der Saxophonist, dass ihm vor fünfundzwanzig Jahren ein Hippie in Goa mit dem „süßen Gift“ der Jazzmusik angefixt habe. Eine zweite Droge ist der Rum, nach dem er in der „Bier-Bar“ verlangt, wo die Tänzerin ihn vertraut mit „Onkel Bhau“ anspricht.664 Er erzählt vom chawl665 in Dadar, in dem er und seine Freunde vor einem viertel Jahrhundert gelebt und Filmmusik komponiert haben:
Alle waren sie Säufer, Spieler, sind zu Prostituierten gegangen und haben auf Pump gelebt, aber von Anfang bis Ende waren sie Künstler. Das waren die Musiker, die die indische Filmmusik groß gemacht haben. Diese Generation hat nach der Unabhängigkeit die Berge und Täler der indischen Seelenlandschaft vermessen. 666
Nach etwa zwei Stunden verlassen sie die Bar und laufen ziellos in der Gegend herum: „Mein alter Freund war nach drei Gläsern Schnaps zu neuem Leben erweckt. Er drückte den Rücken durch, streckte die Brust heraus und stolzierte los als sei er der Boss von Bombay.‍“667 Vor dem Schaufenster eines Musikladens bleibt er plötzlich stehen und starrt das Keyboard in der Mitte der Auslage an, als handele es sich um den Teufel in Person:668 „das ist ein Tyrann… ein Mörder… wegen dem sind Dasbabu und Francis nicht mehr am Leben. Das da ist Schuld an unserer Misere.‍“669 Onkel Bhau verflucht die Musikindustrie dafür, dass klassisch ausgebildete Musiker Hilfsjobs beim Fleischer annehmen mussten, um sich über Wasser halten zu können.670 Voller Hass und Verzweiflung läuft der Alte plötzlich wie von Sinnen über die befahrene Straße, bevor er vom Rausch übermannt wird. Der Jüngere findet heraus, wo sein neuer Freund wohnt, der nicht mehr ansprechbar ist. Mitten in der Nacht kommen sie am Taubenhaus von Dadar an, das ihm die Tänzerin als Anhaltspunkt genannt hat, und auch der Jüngere driftet in den Schlaf. Als er am nächsten Morgen erwacht, entdeckt er den Alten mitten in der Taubenschar. Die zutraulichste Taube von allen ist die mit dem gefleckten Gefieder, die gestern auf der Schulter des Musikers gesessen hat. Es ist die Taube seines Musikerfreunds Robert.
Schließlich gehen die beiden durch enge Gassen zum Onkel Bhau nach Hause, wo früher sein Freund Robert gelebt hat. Die verstaubten Instrumente an der Wand gehörten großen Musikern: Rafik Khan, Nitin Mehta, Dasbabu. Onkel Bhau erzählt, dass Produzenten die Gutmütigkeit dieser erstklassigen Musiker ausgenutzt, Liedspuren neu zusammengeschnitten und ohne die Erlaubnis der Künstler für andere Lieder reproduziert hätten.671 Dasbabu trieb das schließlich in die Verzweiflung.
Der Jüngere sieht sich in der Wohnung um und entdeckt ein Klavier in einem miserablen Zustand. Er fragt, ob das Roberts Klavier sei und warum es so verwahrlost aussehe. Onkel Bhau stürzt wütend aus der Wohnung. Der andere folgt ihm und wirft ihm vor, sich in seinem eigenen Selbstmitleid zu suhlen: „Weil ich auch betrunken war, konnte ich nicht anders als laut zu werden: ‚Go and fuck your art…‘“672 Es scheint, als hätte der Alte genau diese harsche Zurechtweisung gebraucht, um sich wieder zu fangen. Onkel Bhau beginnt damit, sauber zu machen und sein verlottertes Äußeres in Form zu bringen. Als seine frisch gewaschenen Haare im Wind des Ventilators wehen, scheint die Verwandlung komplett: „Er schüttelte sein Haar nach hinten und guckte mich fest an, ‚Kumpel, du bist ein wirklich weiser Mann. Ich bin neidisch auf dein inneres Gleichgewicht.‘ ‚Ich bin halt der Sohn eines Kaufmanns‘, erwiderte ich lachend […].‍“673
Bald kehrt Onkel Bhau noch einmal in die Vergangenheit zurück. Bis auf Nitin Mehta stellte sich keiner der Musiker auf die Veränderungen in der Musikindustrie ein, weil sie sich zu sehr auf ihr Können verließen. Dabei wurde diese Eitelkeit zum Verhängnis für viele hochkarätige Künstler, die anfingen zu trinken und bald keinen Fuß mehr auf den Boden bekamen.674 Er schildert, wie sehr Robert an der Flasche hing und selbst ihm gegenüber immer aggressiver wurde. Eines Abends hatte ihn Robert in einen Club gezerrt, in dem poppige Diskomusik lief, die Roberts Erzfeind, Nitin Mehta, komponiert hatte. Die Songs waren eine eklektische Mischung aus Stevie Wonders und indischer Folklore.675 Zu allem Überfluss entpuppte sich ein Mädchen, das unter den lüsternen Blicken der umstehenden Männer ekstatisch zum Techno-Beat tanzte, als Roberts Tochter.
Nachdem Onkel Bhau ihm von dieser Begebenheit erzählt hat, fahren sie zum Friedhof. Dort packt der Alte eine Flasche Peter Scott aus und gießt den Whiskey in das Saxophon, bis er sich aus allen Öffnungen auf das Grab ergießt. Dann schmeißt er die Flasche in hohem Bogen weg und beginnt zu spielen: „Nach kürzester Zeit wurde mir klar, dass er nicht einfach nur spielte, sondern dass er vielmehr den Heißhunger in seinen Lungen mit einer Melodie, die auf dem Friedhof umherirrt, oder mit den blutbesudelten Erinnerungen vergangener Tage zu stillen versuchte.‍“676
Nach dem Spiel ist Onkel Bhau völlig außer Atem: „Ich spüre nur, dass mit jedem mal Pusten etwas in mir wegschmilzt.‍“677 Der junge Freund rät ihm, an seiner Atemtechnik zu arbeiten, damit er das Instrument wieder beherrsche und nicht umgekehrt. Der Alte fasst Mut und die Geschichte endet so:
Zwar war alles an der Stadt genau noch so unerbittlich und vulgär wie zuvor, aber jetzt spürte er wenig Verlangen, in irgendeine Sache verwickelt zu werden oder sonstwas umkrempeln zu wollen. Seine Entschlossenheit tröstete mich ein bisschen. Als ich von ihm Abschied nahm, war ich zuversichtlich, dass er ohne Probleme nach Hause finden würde.678
Das versöhnliche Ende kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die goldene Ära, in der ‚ehrlich‘ produzierte Filmmusik noch die „Seelenlandschaft der indischen Nation ausgelotet“679 hat, der Vergangenheit angehört. Interessant ist, dass diese ‚authentische‘ Musik nicht in einer hermetisch abgeschlossenen Sphäre gediehen ist, sondern sich ganz wesentlich im Austausch mit amerikanischen Musikrichtungen wie dem Jazz entwickelt hat. So ist das Saxophon innerhalb kürzester Zeit in die kosmopolitische Musikszene integriert worden. Die Bruchlinie zwischen dem Eigenen und dem Fremden verläuft in dieser Geschichte zwischen Kunst und Kommerz. Während der Saxophonist Onkel Bhau und seine Musikerfreunde nach der Unabhängigkeit in ihrer künstlerischen Zusammenarbeit eine solidarische Kreativeinheit bilden, so der Tenor der Geschichte, hält mit der Einführung elektronischer Instrumente (Keyboard) und kommerziellem Synthy-Pop ein anderes, egoistischeres Ethos Einzug in die Musikindustrie. Der frühere Wegbegleiter Nitin Mehta hat sich als Einziger der Gruppe die neuen Produktions- und Vermarktungstechniken zu eigen gemacht und die ehemaligen Freunde um deren geistiges Eigentum betrogen. Mit immer wieder neu zusammengeschnittenen Tonspuren produziert er in Endlosschleife einen billigen Mischmasch aus indischer Folklore und global durchgenudelten Beats.
Ähnlich wie in Bharatis „Stadtfreund“ wird ein künstlerisches Medium zum Resonanzkörper nationaler Befindlichkeiten. Bei Bharati ist es der vidūṣaka, bei Rupra sind es die Musiker, die nach der Unabhängigkeit Filmmusik komponierten. Globale Kommerzialisierung und Technisierung sind Themen, die bereits in den Texten der 1980er Jahre, also vor der Liberalisierungsphase 1991, anklingen und bei Bhatiya in „Bis zur nächsten Finsternis“ dystopisch zugespitzt werden. Auffällig ist, dass diese äußeren Einflüsse in Form von Maschinen (Keyboard), neuer Technologie und den Mechanismen globaler Marktwirtschaft in den Augen der Protagonisten als ‚unauthentisch‘ oder gar als Betrug empfunden werden.680 Der in den besprochenen Werken geäußerte Fortschrittsskeptizismus reflektiert zum einen postkoloniale und subalterne Deutungsmuster, die in der Angst vor Fremdbeherrschung und der Ablehnung gegenüber dem kapitalistischen System zum Ausdruck kommen. Zum anderen spricht daraus eine konservativ-kritische Sichtweisen der Autorinnen und Autoren. Die Sorge vor kultureller Überformung und der Aushöhlung „eigener“ Werte, die der Kapitalismus- und Technologiekritik zugrunde liegt, ist ein Symptom für den postkolonialen Selbstfindungsprozess, an dem die Hindi-Stadtliteratur entscheidend mitwirkt. Solche konservativen bzw. zivilisationskritischen Positionen tragen in ihrer bewahrenden, stabilisierenden Funktion dazu bei, dass die von Gandhi, Nehru und Ambedkar angestoßenen Debatten über Moderne, Nation und kulturelle Identität fortgeführt werden.
3.5 Zwischenfazit
Auf dem Weg in die postkoloniale Moderne bildeten Debatten um Modernität, Urbanität und Fortschritt eine Konstante in der Hindi-Stadtliteratur. Der Elan der jungen Nation, die unter Nehrus Losung unity in diversity stand, zeigte in den 1970er Jahren sichtliche Ermüdungserscheinungen. Vor allem die autokratische Herrschaft von Nehrus Tochter, Indira Gandhi, während des Ausnahmezustands von 1975-77 zeigte die Grenzen des demokratischen Systems in Indien angesichts der ungeheuren Vielfalt und der riesigen Entwicklungsunterschiede innerhalb des Landes auf. In der Stadtliteratur dieser Umbruchs- und Krisenzeit findet vor allem die hohe Arbeitslosigkeit unter Akademikern einen Niederschlag. Die sozialkritischen Kurzgeschichten und Romane aus dieser Zeit verarbeiten – mehr noch als die Enttäuschung über politische Sackgassen – ein unerfüllt gebliebenes Aufstiegsversprechen. Die Stadt bietet nun nicht länger Platz für alle und Bildung oder berufliche Qualifikation stellen sich, wie in Bhatiyas „Deadline“, oftmals nicht mehr als passender Schlüssel zu Glück und Erfolg heraus.
So spitzte sich in dieser Zeit auch die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv in der Großstadt weiter zu. Die Frage nach dem „Wir“ schloss zunehmend die Frage nach dem imaginierten „Eigenen“ in Abgrenzung zu einem „Fremden“ ein. Diese Unterscheidung gewann ihre Schärfe auch aus dem historisch gespaltenen Verhältnis der noch jungen indischen Nation zu ihren Städten, da die Urbanität der Städte des 20. Jahrhunderts sich zu einem großen Teil aus der kolonialen Vergangenheit ableitete: Bombay und Kalkutta wurden im frühen 17. Jahrhundert als Stützpunkte der East India Company ausgebaut (Bombay) oder überhaupt erst gegründet (Kalkutta). Ihre Entstehung war durch den globalen Handel und die koloniale Herrschaft untrennbar mit fremden Einflüssen verwoben, wobei sich dieses Narrativ erst durch Gandhis vehemente Kritik an der modernen Stadt als Ort (zerstörerischer) westlicher Einflüsse verfestigt haben dürfte. Tatsächlich bereiteten Kalkutta und Bombay mit ihren intellektuellen und ökonomischen Netzwerken aus Bildungsinstitutionen, finanzstarken indischen Unternehmer-Mäzenen wie Birla und Tata sowie der einheimischen Bildungsschicht ja überhaupt erst den Boden, auf dem zuerst sozio-religiöse Reformbestrebungen und schließlich die indische Unabhängigkeitsbewegung gedeihen konnten.681
Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele haben daher vor allem gezeigt, dass die Großstadt in der Hindi-Literatur der postkolonialen Periode eine ambivalente Position zwischen Ost und West, ‚modernen‘ Entwicklungen und – angeblichen oder tatsächlichen – traditionellen Weltbildern und Praktiken einnimmt. Vor allem Mumbai (Bombay) steht im Zentrum, wenn sowohl die Chancen als auch die Konflikte zur Sprache kommen, die im Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem entstehen, und wenn einzelne Autoren um kulturelle Authentizität ringen. So imaginiert Rajendra Awasthi Anfang der 1970er in der Erzählung „Die kranke Stadt“ eine Utopie vom „Ich im Wir“, in der sich der Einzelne – unabhängig von Herkunft, Alter und Geschlecht – frei entfalten kann und sich zugleich mit Anderen verbunden weiß. In Bhatiyas Science-Fiction-Erzählung „Bis zur nächsten Finsternis“ vereint eine Untergrundgemeinschaft Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion. In beiden Fällen liefert Mumbai (Bombay) die Folie, vor der sowohl Experimente mit freiheitlichen Formen des Zusammenlebens als auch ein Horrorszenario totaler Überwachung durchgespielt werden. Insgesamt überwiegt in der Mehrheit der untersuchten Texte das Unbehagen gegenüber modernen Entwicklungen: Anonymität und Isolation des Einzelnen in der ‚Maschine‘ Stadt sind für viele Autorinnen und Autoren vor allem das Ergebnis eines ungezügelten Marktkapitalismus. Einige Beispiele aus späteren Jahren, bis weit in die 1990er Jahre hinein, reflektieren schließlich Überfremdungsängste vor dem schädlichen Einfluss der Technisierung und des globalen Kapitalismus. Z. B. Manoj Rupras Erzählung „Unstrument“, in der hochqualifizierte Musiker durch elektronische Instrumente und skrupellose Musikbosse in den Ruin getrieben werden. Jitendra Bhatiya entwirft in „Bis zur nächsten Finsternis“ ein noch düstereres Szenario, in dem Mumbai (Bombay) und seinen Bewohnern in einem globalen Krieg jede Menschlichkeit und kulturelle Eigenheit abhandenkommt.
Anhand dieser Beispiele könnte der Eindruck entstehen, Hindi-sprachige Stadtliteratur sei vor allem ein Ausdrucksmittel konservativer Autorinnen und Autoren. Und tatsächlich drängt sich z.B. bei Bharati der Eindruck auf, dass fortschrittliche Einstellungen eher als rhetorische Kontrastfolie dienen, um die Kritik an westlichen Moden stärker hervortreten zu lassen. Zweifellos sind viele Geschichten vor allem aus den 1970er, 80er und 90er Jahren von einem kulturpessimistischen, konservativen Ethos geprägt. Doch eine pauschale Abwertung dieser Literatur als rückwärtsgewandt würde zu kurz greifen. In den Werken kommt es nämlich zu einer eigentümlichen Verschmelzung konservativer und (neo)marxistischer Ideen: Das Ideal gesellschaftlicher Einheit und Zusammenhalts und die Kritik an den diese Einheit gefährdenden Entwicklungen des globalen Kapitalismus sind, wie bei Bhatiya oder Rupra, eng miteinander verzahnt. Damit schlägt die Hindi-Stadtliteratur eine Brücke zwischen nationalistischen, postkolonialen und marxistischen Diskursen. Sie eröffnet einen Raum, in dem Literatinnen und Literaten koloniale Erfahrungen kritisch reflektieren und so nicht nur ihre Gegenwart neu interpretieren, sondern auch alternative, mitunter mehrdeutige Interpretationen postkolonialer Narrative entwickeln können. Besonders anschaulich zeigt das Swadesh Bharatis Kalkutta-Roman „Der Stadtfreund“, in dem die ehemalige Hauptstadt Britisch Indiens selbst zur handelnden Person wird und die postkolonialen Ordnungsmaximen Subjekt vs. Objekt, eigen vs. fremd kurzerhand umdreht. Dass sich die Autorinnen und Autoren an den Deutungsmustern der postkolonialen Theorieschule reiben oder diese mit alternativen Narrativen aufbrechen, lässt sich auch an dem Saxophonisten in Rupras Erzählung „Unstrument“ nachvollziehen. Er steht zwar für eine ‚authentische‘, noch nicht durchkommerzialisierte Musikszene, aber das Saxophon wird im Unterschied zum Synthesizer nicht als fremd wahrgenommen. Im Gegenteil, die Erzählung schlägt den kosmopolitischen Grundakkord an, der in Texten über Mumbai bzw. Bombay immer wieder zum Klingen kommt (Kapitel 1). Die Kritik richtet sich bei Rupra daher weniger gegen die Integration ‚fremder‘ Elemente in eine einheimische Kunstform als vielmehr dagegen, dass der Künstler durch unechte, automatisierte Technik und neue Vermarktungsstrategien von seinem geistigen Eigentum abgeschnitten wird.
Eine solche Kritik an scheinbar fremden Einflüssen, moderner Technik und fortschreitendem Kapitalismus trägt Züge einer Weltanschauung, die man als „(neo)marxistischen Konservatismus“ bezeichnen könnte. Sie speist sich zum einen aus der tiefen Skepsis gegenüber einer zunehmenden Einverleibung der Kunst durch den Markt. Zum anderen beinhaltet sie die Überzeugung, dass das Eigene (in Form traditioneller Werte, Erfahrungen und Praktiken) gegenüber schädlich empfundener kultureller und technischer Überfremdung bewahrt werden müsse. Doch unter der Oberfläche dieser vermeintlich simplen, moralisierenden Kritik tut sich ein Raum für philosophische Überlegungen und experimentelle Gedankenspiele auf. Aus einigen Texten, etwa Awasthis „Die kranke Stadt“, lässt sich die Sehnsucht nach einer idealen Einheit von Gemeinschaft und Gesellschaft ableiten, die sich nicht nur aus humanistischen und liberalen Idealen speist, sondern an einheimische Denktraditionen wie dem Advaita Vedānta, eine hinduistische Weltanschauungslehre des 7. bis 8. Jahrhunderts, anknüpft. Hindi-Stadtliteratur war also auch in der Blütezeit postkolonialer Theoriebildung in den 1980er und 90er Jahren kein bloßer Echoraum globaler Diskurse. Vorstellungen von Urbanität und Stadtgesellschaft bleiben vielmehr auf konkrete individuelle Erfahrungen in lokalen Lebenswelten bezogen. Und mit Rückgriffen auf Denkfiguren wie den vidūṣaka oder die drei guṇas verankerten Autoren wie Bharati moderne urbane Erfahrung auch in älteren regionalsprachlichen Wissenstraditionen und Deutungsmustern des Subkontinents. Dass auch manche indische Subalterns der zweiten Generation, wie etwa Makarand Paranjape im bereits zitierten „Debating the Post-Condition in India. Critical Vernaculars, Unauthorized Modernities, Post-Colonial Contentions“ (2018) inzwischen eher national-konservative Projekte verfolgen, zeigt, wie weit eine solche Verschmelzung von neomarxistischem und neonationalem Denken im Zeichen eines unreflektierten Kulturalismus gehen kann.
Insgesamt schlägt die kritische Hindi-Stadtliteratur aber seit den 2000er Jahren eher die Richtung einer Befragung von konkreten Vorstellungen und Praktiken städtischer und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit ein. Daraus entstehen nun zunehmend Werke, die aus unterschiedlichen Perspektiven die normative, verfassungsrechtliche Definition von Staatsbürgerschaft hinterfragen und von der Wirksamkeit (vordemokratischer) exklusiver Auslegungen von städtischer und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit erzählen. Um diese Texte und das nach wie vor schwierige Verhältnis der Hindi-sprachigen Literatur zu den Idealvorstellungen von Bürgerschaft und Nation soll es im folgenden Kapitel gehen.
4. Von Bürgern und Fremden: Städtische Zugehörigkeit und Identität (seit 2000)
4.1 nāgarik'tā: Eine begriffsgeschichtliche Annäherung
„Guru, so heißt hier die Bürgerschaft beim Nachnamen.‍“ (guru yahāṁ kī nāgarik'tā kā ‚sar'nem‘ hai).682 Dieser Satz steht auf der zweiten Seite von Kashinath Singhs Varanasi-Roman „Mohalla Assi“ (kāśī kā assī),683 in dem die „Biodaten“ der Nachbarschaft Assi und seiner Bewohner umrissen werden. Bereits die eigenwillige Kombination aus dem ur-indischen Guru, dem englischen surname und der schwer übertragbaren nāgarik'tā, etwa: Bürgerschaft, vermittelt die Vorstellung von einer spezifisch lokalen, innerstädtischen Lebenswelt, in der sich Traditionsbewusstsein und Kollektivismus mit einem kosmopolitischen Einschlag verbinden.
Dieses Beispiel veranschaulicht den Spagat, den nāgarik'tā hier zwischen traditionellen und modernen Lebensbereichen und Bedeutungskontexten leistet. Der Begriff taucht sporadisch in Werken v.a. der Nullerjahre auf und ist eng an die Thematisierung von Zugehörigkeit zur städtischen Gesellschaft geknüpft. In den Jahren um die Jahrtausendwende ist eine Perspektivverschiebung in der literarischen Wahrnehmung von Urbanität zu beobachten, die sich im vermehrten Auftreten der Begriffe nāgarik'tā und nāgarik (Städter, Bürger) niederschlägt. Zugehörigkeit wird nicht, wie in der Nayī Kahānī und der sozialkritischen Erzählung, als individuelles Problem oder im Kontext gesellschaftlicher Utopien behandelt, sondern im Rahmen bürgerschaftlicher Teilhabe.
Das Hauptaugenmerk der Analyse in diesem Kapitel liegt auf zwei Prosatexten, die beide 2002 zuerst veröffentlicht wurden. Sie zeigen exemplarisch zwei (Erzähl)Perspektiven auf, aus denen Hindi-Autorinnen und Autoren städtische Zugehörigkeit und Teilhabe in den Blick nehmen: Kashinath Singhs Episodenroman „Mohalla Assi“ und Uday Prakashs Erzählung „Die Mauern von Delhi“ (dillī kī dīvār).684 Ganz schematisch lassen sich diese zwei Blickwinkel auf Bürgerschaft (nāgarik'tā) danach unterscheiden, ob städtische Zugehörigkeit vom Zentrum oder von der Peripherie aus betrachtet wird. Auf der einen Seite erzeugt Singhs Roman durch die „Insider“-Perspektive den Eindruck einer hermetischen traditionellen Lebenswelt in den Gassen eines Viertels in Banaras (Varanasi). Der Autor beschreibt, wie seine Bewohner angesichts massiver Einflüsse von außen um den Kern ihrer Identität ringen. Auf der anderen Seite erzählt Prakash aus Sicht eines Außenseiters vom sozialen Gefälle zwischen der ökonomischen Elite und informellen Lohnarbeitern. Während Singh also in Gesprächen und Geschichten das Bild einer gewachsenen und homogenen Bürgerschaft entstehen lässt, führt Prakash den Leser in „Die Mauern von Delhi“ in die dezidiert nicht-bürgerliche (anāgarik) Lebenswelt der Delhier Randgruppen, von Tagelöhnern, Bettlern und fliegenden Händlern.
Zum anderen unterscheiden sich die Schauplätze hinsichtlich ihrer ganz unterschiedlichen Ausformung von Stadt: Die Hauptstadt Neu-Delhi ist mit ihren 26 Millionen Einwohnern die größte Megastadt Indiens und aufstrebende „world class city“,685 ein Begriff, der mitunter stärker die Visionen von Stadtplanern und Politikern widerspiegelt als die tatsächliche, etwa wirtschaftliche, Bedeutung im Vergleich zu anderen Weltstädten. Als Kontrastfolie wird Banaras herangezogen, um städtische Zugehörigkeit in einer ‚Provinzstadt‘ zu beleuchten. Banaras zählt zu den heiligen Städten des Hinduismus. Mit „nur“ anderthalb Million Einwohnern686 kann die Stadt für südasiatische Verhältnisse, rein größenmäßig, freilich nicht als Megastadt gelten. Doch seit dem 19. Jahrhundert ist sie ein wichtiges Zentrum für (hindu-)nationalistische Bewegungen und gilt bis heute aufgrund ihrer historischen und religiösen Bedeutung als eine Hochburg für politische Aktionen und Parteiaktivitäten.687 Politische Führer von Parteien oder Vereinigungen wie der BJP und Hindu Vishwa Parishad nutzen die strategische Lage der Stadt im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh und dem (Hindi-sprachigen) cow-belt sowie ihre symbolische Strahlkraft als Wiege hinduistischer Kultur z.B. bei Wahlkämpfen. Als „heilige Stadt am Ganges“ hat sich Banaras längst auch einen Namen über Indien hinaus gemacht: Seit den 1960er Jahren ist sie ein beliebtes Ziel ausländischer Touristen und Studenten.
Wegen Banaras’ historischer, religiöser und politischer Bedeutung ist ein Vergleich mit der Hauptstadt Neu-Delhi also trotz des Größenunterschieds durchaus sinn- und reizvoll. Denn während Banaras das Image der traditionellen, „ewigen“ (hinduistischen) Kultur anhaftet, steht Delhi für die Zentrale der indischen Demokratie und für den wirtschaftlichen Aufschwung der 1990er Jahre, in Folge dessen sich eine ‚indisierte‘ Ausprägung nordamerikanischer Konsumkultur und urbanen Lifestyles herausbildete.688
Ziel dieses Kapitels ist es, vor diesem Hintergrund ganz unterschiedlicher urbaner Schauplätze das Bedeutungsspektrum und die Verwendung des Begriffs nāgarik'tā in zeitgenössischen Werken auszutarieren und ihn auf seine Praxistauglichkeit hin abzuklopfen: Was verstehen die Autorinnen und Autoren unter nāgarik'tā und nāgarik? An welche einheimischen historischen Modelle von „Städtertum“ oder Bürgerschaft knüpfen sie an? Eine semantische Taxonomie seiner Verwendung und Bedeutung in der Hindi-sprachigen Literatur der Nullerjahre erweist sich deshalb als aufschlussreich, da die Autorinnen und Autoren mitunter einen Bedeutungsrahmen anlegen, der sich nicht immer mit der nominellen Bedeutung von Bürgerschaft (nāgarik'tā) deckt. Innerhalb dieses Rahmens werden das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgelotet, sowie aktuelle Entwicklungen reflektiert und die Maßstäbe, an denen sich städtische oder bürgerschaftliche Zugehörigkeit bemisst, hinterfragt. Hindi-Stadtliteratur ist ein Medium, das die Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen durch den Gebrauch der „Volkssprache“ ermöglicht, etwa wenn es um die Formation städtischer Identität und Gemeinschaft geht.
Gegenwärtige Narrative über nāgarik'tā bewegen sich in einem Spannungsfeld. Es entsteht aus der Diskrepanz des modernen, verfassungsrechtlichen Verständnisses von (Staats-)Bürgerschaft und älteren Bedeutungen des Ausgangswortes nāgarik (Hindi) oder nāgaraka (Skt.), das sowohl einen kultivierten Lebensstil als auch einen elitären Status bezeichnet. Die Gründe für die Spannung zwischen inklusiven und exklusiven Vorstellungen von städtischer und bürgerschaftlicher Zugehörigkeit (nāgarik'tā) sind vor allem auf drei Bedeutungsstränge zurückzuführen, die parallel nebeneinander herlaufen, wie ein kurzer etymologischer Abriss verdeutlichen soll. Das Abstraktnomen, das sich aus nāgarik („Städter“, „urban“, „zivilisiert“), und dem Suffix -‍ („-‍sein“, „-‍heit“, „-‍tum“), zusammensetzt, bewegt sich in einem breiten Bedeutungsspektrum zwischen Staatsbürgerschaft und Bürgertum. Es umfasst unter dem Sammelbegriff Urbanität städtische Qualitäten, allen voran eine kultivierte Lebensweise, aber auch die Fähigkeit, gescheit oder gewieft zu handeln.689 In seiner Grundbedeutung bezeichnet nāgarik erstens einen Stadtbewohner, der bestimmte Kulturtechniken beherrscht, die ihn vom rustikalen Dörfler unterscheiden. Zweitens schwingt in der älteren Bedeutung von nāgaraka ein exklusiver Status qua Geburt mit, der mit einem kultivierten Lebensstil verbunden ist. In der indischen Verfassung steht der Neologismus drittens synonym für citizenship, was demokratische Teilhabe und einen Rechtsstatus beinhaltet.690 In diese verfassungsrechtliche Bedeutung sind wiederum zwei europäische Modelle von (Staats)Bürgerschaft eingegangen, die auch in der literarischen Bearbeitung ihren Niederschlag finden: Das griechische Modell hebt den ideellen Wert von Bürgerschaft als Praxis hervor, die eine gemeinsame Identität und gemeinschaftlichen Zusammenhalt schafft. Das römische Modell bezeichnet hingegen einen rechtlichen Status.691
Während es sich bei nāgarik'tā um eine Wortneuschöpfung zu handeln scheint, begegnet uns der nāgarik bzw. nāgaraka bereits in altindischen Texten wie dem Kāmāsūtra. Dort wird beschrieben, wie der „man-about-town“ das Dasein eines altindischen Playboys führte, wie Doninger und Kakar in einer Fußnote anmerken:
The man-about-town (nagaraka) is literally a man who lives in a city (a nagar), but the term designates a sophisticated connoisseur of the good life in general, of pleasure in particular, and of sex even more particularly. In our day, he would be called a playboy. He lives all by himself – which is very strange in India, where people are always connected to their families – and is rich. He has no caste, and V[atsyayana] does not even refer to his class, though Y[ashodhara]’s gloss on this passage interprets the four sources of his wealth in terms of the four classes.692
Die deutsche Übertragung „Lebemann“693 trifft vielleicht etwas nüchterner, aber umfassender auf das zu, was einen nāgaraka über seine sexuellen Ambitionen hinaus charakterisiert. Das erste Buch des berühmten Erotiklehrbuchs behandelt einführend die drei Lebensziele (artha, kāmā, dharma), die ein männliches Mitglied der höfischen Gesellschaft in der Zeit etwa des dritten Jahrhunderts n.Chr. idealerweise zu befolgen hatte.694 Das Kāmāsūtra ist daher als lebensphilosophisches Lehrbuch zu verstehen, das nicht nur Anleitung zur guten Lebensart ist, sondern auch die Anwendung von Machttricks beinhaltet (wie es in „gewieft“ zum Ausdruck kommt). Der Historiker A. Ghosh setzt in seinem Überblickskapitel zu „The City in Literature“ die Beschreibung des kultivierten, vermögenden Städters bei Vatsyayana, nāgaraka, mit dem englischen citizen gleich.695 Bei Kautilya bekleidet der nāgaraka laut Ghosh das Amt eines royal officers, womit neben der politischen Funktion, ähnlich wie bei Vatsyayana, auch ein gehobener ökonomischer Status verbunden war.696 In Kalidasas berühmtem Drama Śakuntalā aus dem 4. Jahrhundert n.Chr. tritt ebenfalls ein nāgaraka in Funktion eines städtischen Oberwachtmeisters auf.697 Die Wurzeln des Wortes reichen also bis in die klassischen Sanskrit-Quellen zurück und kennzeichnen einen rechtlich, ökonomisch und sozial prädestinierten Stadtbewohner: Bei Kautiliya und Kalidasa hat der nāgaraka etwa ein hohes Verwaltungsamt inne. Der Status des Städters bemisst sich also zum einen an seinem politischen Amt, wie wir es aus dem römisch-antiken Modell von Bürgerschaft kennen.698 Darüber hinaus kann das Leben des nāgaraka auch eine exklusive, kultivierte Lebensart (urbanitas) beinhalten, wie in Vatsyayanas Kāmāsūtra beschrieben.
Vergleiche mit in der Antike wurzelnden europäischen Modellen wie Bürgerschaft oder urbanitas verlangen nach einer begriffsgeschichtlichen Problematisierung. Können bzw. dürfen wir angesichts der unterschiedlichen kulturellen, historischen und sozialen Voraussetzungen der nāgarik'tā zum Beispiel einfach das „Bürgertum“ überstülpen? Die Scheu dürfte von der Sorge herrühren, angesichts des begriffsgeschichtlichen Ballasts von „Bürger“ einer eurozentrischen Deutung anheim zu fallen.699 In ihrer 2008 veröffentlichten Monographie „Bürger mit Turban“700 schlägt die Historikerin Margrit Pernau einen begriffsgeschichtlichen Ansatz vor, um das Aufkommen eines feudalen muslimischen Bildungsbürgertums im Delhi des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Pernau leistet mit ihrer umfangreichen Quellenstudie auch einen Beitrag zur Verflechtungsgeschichte: Sie plädiert dafür, „das Fremde aus seinem eigenen Bedeutungshorizont zu erklären“,701 wobei historische Begriffe wie Bürgertum und Öffentlichkeit für außereuropäische Konzepte – im indo-muslimischen Kontext etwa ashraf – geöffnet werden sollten. Pernaus Herangehensweise dient der vorliegenden Untersuchung des Begriffs als Orientierung. Da es jedoch keine standardisierte Einheitsübersetzung von nāgarik'tā und nāgarik geben kann und die kulturelle Eigenständigkeit im Ansatz bewahrt bleiben soll, läuft der einheimische Begriff stets in Klammern mit.
Diesen begriffstheoretischen und forschungsgeschichtlichen Überlegungen liegt die epistemologische Fragestellung zugrunde, inwiefern Konzepte und Visionen von Bürgertum oder urbanitas/civitas (für nāgarik'tā) – betrachtet man sie als Ausdruck für das urbane Ethos702 – Auskunft über Identitätsdiskurse geben können: Wie wird städtische Identität in einer lokalen, regionalsprachlichen Öffentlichkeit verhandelt? Wie vollzieht sich die literarische Konstruktion von städtischer Identität in Wechselwirkung und Abgrenzung zur normativen Auslegung von (Staats-)Bürgerschaft? Und aus welchen Gründen wird wer zur Stadt bzw. zur Gemeinschaft der Bürger als zugehörig erachtet oder nicht?
Gerade angesichts der seit den frühen 1990er Jahren zunehmenden globalen kulturellen und ökonomischen Vernetzung, die einerseits die Forderung nach einem weltumspannenden Bürgertum laut werden ließ,703 und andererseits sozio-ökonomische Ungerechtigkeitsverhältnisse verschärfte, soll untersucht werden, welches Verständnis von Bürgerschaft und städtischer Identität Singh und Prakash vermitteln. In beiden Erzählungen treten große Widersprüche hinsichtlich der Deutung von Bürgerschaft und städtischer Zugehörigkeit zutage: Bei Singh fühlen sich die Bewohner des Altstadtviertels Assi in Banaras in ihrer traditionellen Lebensweise vom Tourismus bedroht. Sie beanspruchen die Deutungshoheit über „ihr“ Viertel zurück. Pardoxerweise ist es genau dieses Traditionelle und genau diese Lebensart, wegen der so viele Touristen in die Stadt kommen. Prakash legt in seiner Geschichte den Widerspruch offen, der zwischen der nominellen Bedeutung von nāgarik'tā als demokratisches Grundrecht und der praktischen Auslegung als exklusiver Status besteht.
4.2 Innensichten auf Bürgerschaft: Banaras (Varanasi)
4.2.1 Kashinath Singhs „Mohalla Assi“ (2002): Aufbau, Inhalt und Sprache704
Kashinath Singh (geb. 1937) hat mit „Mohalla Assi“ einen vielschichtigen und vielstimmigen Stadtroman geschaffen, der das Klischee von der heiligen Stadt am Ganges auf den Kopf stellt. Singh, Bruder des Literaturkritikers Namwar Singh, veröffentlicht seit den späten 1960er Jahren Kurzgeschichten und Romane und hat viele Jahre als Professor für Hindi-Literatur und -Sprache an der Banaras Hindu University (BHU) in Varanasi gelehrt. Das Buch ist zugleich Erinnerung (saṃsmaraṇ)705 und Milieustudie aus einer dezidiert regionalsprachlichen Perspektive. Unter Einsatz von Umgangssprache, Dialekt und Vulgärausdrücken eröffnet das Buch Einblicke in die lokale Lebenswelt eines Viertels in Varansi (Assi) und seiner Bewohner.706
Heinz Werner Wessler schlägt in seinem Aufsatz „The Grammar of Assi“ vor, das als upanyās klassifizierte Werk über einen Roman im traditionellen Sinn hinaus als Archiv aufzufassen, das den Autor zum Chronisten der lokalsprachlichen städtischen Debattenkultur der 1990er Jahre macht.707 Anekdoten und satirische Portraits von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Stadt, des Bundesstaats und des Landes, darunter Politiker, stadtbekannte Pandits, Künstler, Verleger und der Autor selbst,708 tragen zur Vielstimmigkeit des Texts bei. Der Eindruck der nicht stringenten Erzählweise beruht unter anderem auf der Tatsache, dass die fünf Kapitel des Romans bereits separat in anderen Erzählbänden veröffentlicht worden waren.709 Der erste Teil (dekh tamāśā lak'ṛī kā) wurde sowohl in einem Theaterstück von Arun Pandey inszeniert,710 als auch in der Bollywood-Produktion „Mohalla Assi“, dessen Start für 2015 angesetzt war, jedoch von der Zensurbehörde CBFC immer wieder verschoben werden musste. Stein des Anstoßes war die obszöne Sprache (auch aus dem Mund des Gottes Shiva), weshalb das Censor Board Klage gegen den Produzenten Chandraprakash Dwivedi und Hauptdarsteller Sunny Deol erhob.711 Die Auseinandersetzung mit dem Stoff in mehreren künstlerischen Medien und die hohe Auflagenzahl des Buches lässt auf eine für einen Hindi-Roman ungewöhnlich große Popularität und Rezeption schließen.712
Anstelle einer zentralen Handlung oder eines Protagonisten steht ein Ort im Mittelpunkt des Geschehens: Pappus Teestand an der nördlichsten Kreuzung (caurāhā)713 des „geschichtsträchtigen Mohalla Assi“.714 Wie dem Vorwort zu entnehmen ist, hat Singh sein Werk (kr̥tī) als eine Milieuaufzeichnung angelegt. Er spricht von der „Liveshow dieses Viertels und Teeladens“, die sich aus „Romanen über Romanen und Geschichten über Geschichten“ speise.715 Pappus Laden wird zum Hauptquartier für Künstler, Verleger, Politiker und Bürger (nāgarik),716 wo man über aktuelle Nachrichten und Entwicklungen diskutiert, Informationen austauscht, Gerüchte weiterträgt und einander Beobachtungen der alltäglichen Art mitteilt. Zum Beispiel, wie sich die Größe des Schnurrbartes zur Autorität seines Trägers verhält (anders als erwartet wird Männern mit ansehnlichem Schnauzer nachgesagt, unter dem Pantoffel ihrer Frau zu stehen). Die Protagonisten betrachten die Stelldicheins rund um die Kreuzung von Assi als eine gesellschaftliche Tugend mit langer Tradition.717
Neben Pappus Teebude gehört zur bürgerlichen Öffentlichkeit des Mohalla Assi auch der jährliche Dichterwettstreit (kavi-sammelan). Politische Debattenkultur und Kunst gehen in dieser kulturellen Institution eine Symbiose ein. Politiker machen sich Elemente des Rhetorikwettstreits zunutze, um auf der Straße über dringliche und weniger dringliche Themen zu referieren. Umgekehrt bietet das Format die Möglichkeit, in traditionellen Erzählformen wie Fabeln und Parabeln über politische und gesellschaftliche Entwicklungen vom Leder zu ziehen.718 Indem der Autor den Dichterwettstreit durch die Wiedergabe ganzer Parabeln oder gesungener Gedichtpassagen im letzten Kapitel dokumentiert, verankert der Autor sein Werk sowohl in der lokalen Populärkultur als auch in den nationalen Erzähltraditionen des Subkontinents.
In „The Argumentative Indian“ beurteilt Amartya Sen erzählerische Weitschweifigkeit (prolixity) als ‚typisch indische‘ Eigenschaft, die bereits in den beiden Nationalepen, dem Mahābhārata und Rāmāyaṇa, angelegt sei.719 Obwohl Sens Beobachtung im Zusammenhang mit seiner Meistererzählung über eine jahrtausendealte indische Debattenkultur nicht frei von essentialistischen Deutungsmustern ist, drängen sich doch Parallelen zu Singhs Roman auf. Denn genau diese Erzählelemente – ineinander verschachtelte Sub- und Metageschichten, Parabeln, Anekdoten und Streitgespräche – bilden den Kern von Singhs Chronik. Es geht nicht darum, eine stringente Geschichte zu erzählen, sondern vielmehr, auszutarieren, wie im Zusammentreffen von modernen Entwicklungen und lokalen Befindlichkeiten städtische Identität ausgehandelt wird.
Der Autor konstruiert den spezifisch lokalen Charakter der Stadt durch eine in hohem Maße kodifizierte Sprache, um eine möglichst ‚echte‘ Wiedergabe der Lebenswelt von Assi und Banaras zu erreichen. Der mehrschichtige Effekt einer Collage kommt zum einen durch Rückgriffe auf die brahmanische Lebenswelt und deren religiös-mythische Tradition zustande: Zitate aus dem Mahabharata dienen etwa der allegorischen Untermalung, um Personen des öffentlichen Lebens und ihrer Rolle im tagespolitischen Geschehen zu charakterisieren oder zu karikieren. Eingeflochtene humoristische Sinnsprüche oder Liedzitate in Sanskrit oder einheimischen Volkssprachen wie Hindi und Bhojpuri erweitern den ohnehin schon vielschichtigen Text,720 indem traditionelle Formen mit neuem Inhalt gefüllt werden, und so das narrative Gewebe um eine sprachgeschichtliche Lage bereichern.
Besonders der zweite und dritte Teil des Buchs führen den außenstehenden Leser an die Grenze des Verstehens. Zunächst einmal bergen die episodenhafte Struktur mit den ständigen Sprüngen zwischen Rahmen- und Binnenhandlung, die ineinander verflochtenen Alltagsbegebenheiten, mäandernden Gesprächsströme, Anekdoten und Lebensweisheiten eine große Herausforderung an das Leseverständnis. All diese vielen Erzähllinien, die in ihrer Gesamtschau den Inhalt des Werkes bilden und auf tagespolitische Themen, reale Persönlichkeiten und Events wie den jährlichen Dichterwettstreit verweisen, setzen Insiderwissen voraus. Die Kapitel sind auch in soziolinguistischer Hinsicht sehr anspruchsvoll zu lesen, da neben umgangssprachlicher und dialektaler Rede und Vulgärausdrücken viele Metonymien in die Gespräche einfließen. So werden Wahlkämpfer mit Verweis auf die Käppies, die das jeweilige Parteisymbol tragen, als ṭopiyāṁs bezeichnet. Ein anderes Beispiel ist das Wort lālā, das Angehörige einer Gruppe bezeichnet, die sich aus unterschiedlichen Kasten mit gleichen politischen Zielen zusammensetzt. Neuschöpfungen zeugen vom spielerischen Umgang gerade mit englischen Ausdrücken, zum Beispiel wenn VIP (vī.āī.pī) als PIG (pī.āī.jī) verhohnepiepelt wird.721 Andere Wörter füllen die Assianer mit eigenen Bedeutungen, indem sie etwa die Marke für Damenhygieneartikel stayfree zu „free to stay“, also „immer für einen Schwatz zu haben“, ummünzen.722
Es benötigt daher ein fundiertes kulturelles Hintergrundwissen, um derlei Anspielungen zu verstehen. Dasselbe gilt für den – naturgemäß – sozio-kulturell verankerten Humor, der den satirischen Grundton der Erzählung ausmacht. Der Zugriff auf einer rein intellektuellen Ebene des Verstehens bleibt gerade bei humor- und anspielungsreichen Passagen unzureichend, was beim außenstehenden Leser permanent den Eindruck erweckt, Wortspiele, Witze und mutmaßlich doppelbödige Anspielungen nur halb zu verstehen. Auch dieser Umstand verstärkt den Eindruck der durch und durch lokalen Insiderperspektive auf das Viertel Assi, in dem ein ganz besonderer Lokalpatriotismus gepflegt wird.
4.2.2 Banārasīpan: Im Spannungsfeld von Tradition(alismus) und Tourismus
Kashinath Singh schreibt im Vorwort zur Bühnenversion anerkennend, dass es genau jene Banārasīpan, das Wesen von Banaras, einfange, die im Buch angelegt sei.723 Unter welchen Voraussetzungen kann diese Banārasīpan gedeihen und worüber definiert sie sich? Wenn „Guru der Nachnahme der hiesigen Bürgerschaft“ ist,724 auf wen bezieht sie sich dann? Bereits auf den ersten Seiten des Romans werden die wichtigsten „Charakterzüge“ vorgestellt, die das Viertel ausmachen. Dazu gehört ganz essentiell der Gruß, mit dem jeder, ohne Rücksicht auf Status oder Herkunft, angesprochen wird:
Der Ausruf „Har Har Mahadev“ gefolgt von „zur Fotze“ ist hier die übliche Begrüßung. Ob zum Dichterwettstreit an Holi, oder nach dem Ende der Ausgangssperre, egal, ob es sich um einen Minister handelt, oder ein nacktes Kind, das einem Esel hinterherjagt – bis hin zu hohem Besuch von George Bush, Margaret Thatcher oder Gorbatschow (König Kashi Naresh ausgenommen), allen gilt „Har Har Mahadev…“ Der einzige Unterschied ist, dass der erste Teil etwas Überwindung kostet, während der zweite ganz von allein hinterherflutscht.725
Der Assianer hat die Zeit gepachtet: „Getreu dem Motto ‚Soll mich die Welt doch am Arsch lecken‘ schlendert er in aller Seelenruhe umher: Dieser Gestus ist seine Visitenkarte.‍“726 Satirisch vermittelt der Erzähler die Lebensphilosophie der Bewohner (in Sanskrit): „Ob du dich anstrengst oder nicht, sterben musst du allemal, also wozu sich abrackern?“727 Immer wieder kommen die Bewohner auf die Qualitäten ihrer Lebensweise zu sprechen, die sie in Zeiten des Wandels als schützenswertes Kulturgut auffassen:
„Alle rennen sie wie blöde, aber wohin eigentlich, zur Fotze nochmal? Man könnte denken, alle hätten eine Zündschnur im Arsch. Und guck dir bloß die Gesichter an! Siehst du da auch nur einen Funken Freude? Sag doch mal, Kaushik, früher hatte der Mensch doch einen Schwanz, warum ist der weg? Tiere haben ihn doch auch noch.‍“728
Zeit, Gemütlichkeit und unterhaltende Frotzeleien, so lernt der Leser im Laufe des Buches, sind seit den 1980er Jahren dem zersetzenden Einfluss von Kapitalismus, neoliberaler Marktwirtschaft und Tourismus ausgesetzt. In Stellungnahmen zum Thema Fortschritt und dessen sichtbarstem Symptom, der zwanghaften Schnelligkeit, tut sich besonders Tanni Guru mit schnoddrig vorgetragener Selbstzufriedenheit hervor:
Meinte mal ein Mann zu Tanni Guru, der an der Kante von seinem Laden saß und die Beine baumeln ließ, an den Füßen steckten Gandhi-Latschen: „In welcher Welt lebst du bloß, Guru?! Amerika schickt jeden Tag einen zum Mond und du hast seit einer Stunde nichts Besseres zu tun, als deinen Paan weich zu kauen?“
Mit einem ‚Fatsch‘ spukte der Guru den Paan aus und sagte: „Jetzt merk dir mal eins! Ob Mond oder Sonne, wer zur Fotze was will, soll gefälligst selbst anrücken. Tanni Guru jedenfalls bewegt sich keinen Zentimeter vom Fleck. Kapiert?“729
Das erste Kapitel illustriert, wie Singh sich diesem speziellen Milieu der ‚Assianer‘ nähert, indem er eine satirische Klassifikation der verschiedenen „Arten“ (nasal) von Bewohnern und „Ureinwohnern“ (ādīvāsī) vornimmt und beschreibt, wie sich der Charakter und die Lebensart der Stadt im Laufe der letzten drei, vier Jahrzehnte durch die boomende Tourismusindustrie verändert haben.730 Wie sich die Gallier gegen die Römer behaupten, leisten die Assianer Widerstand gegen die Kolonisierung ihrer Lebenswelt. In Abgrenzung zum „verwestlichten Einheitsbrei“ der Megastädte Mumbai und Delhi vermittelt Singh das Bild eines urban village, das mit einem ganz eigenen obskuren Charme ausgestattet ist, der sie so ‚authentisch‘ erscheinen lässt.
Globale Einflüsse wie der Tourismus und die freie Marktwirtschaft machen sich im Erscheinungsbild bemerkbar, aber auch in der Stadtidentität. Unter den „Biodaten“ von Banaras beschreibt der Autor, wie sich das Erscheinungsbild der Bewohner von Assi unter der zunehmenden Umweltverpestung (pradūṣaṇ) durch die Mode aus Mumbai und Delhi gewandelt hat. Die traditionelle Kleidung, welche aus dem beliebten Allzwecktuch (gam'chā) besteht, das hier jedoch entgegen der üblichen Kleidernorm nicht über der Schulter oder um den Kopf gewickelt getragen wird, sondern als Lendentuch. Umgekehrt hängt der für letzteres eigentlich dafür vorgesehene laṁgoṭ über der Schulter:731 Ein Detail, das einerseits veranschaulicht, wie die Vorstellung von Tradition als ein Ursprünglichkeit vermittelndes, organisch-stabiles Konstrukt ständig satirisch aufgebrochen wird. Andererseits zeugt es auch vom Keim des Widerständigen, mit dem, Martina Löw zufolge, das Örtliche als Ressource für zivilgesellschaftliches Handeln entdeckt oder aber Ausbeutungs- und Opferzuweisungen nach dem Schema global-lokal auf der Seite des Lokalen gedacht werden: „Da nur im Lokalen Widerstand denkbar scheint, wird das Lokale als Dimension sozialer Wirklichkeit aufgerufen, die sich kritisch zu Homogenisierung und Globalisierung verhalten kann […]“.732 Diesem Verständnis zufolge rückt Singh die Lokalität Assi nicht nur als Gegenstand der Erzählung ins Zentrum, sondern erhebt sie zum Nabel der Welt und unangefochtenen Autorität:
Assī is the ‘Aṣṭhādhyāyī’ [Sanskrit grammar of Pāṇini] and Banāras is its ‘Bhāṣya’ [commentary]! For the last 30 to 35 years, Americans, mad from capitalism, come here and want the world to become its ‘ṭīkā’ [sub-commentary] … but would any change ever happen just because you want it to?733
Die Verortung der Stadt im Zentrum der Welt beruht auf einer Vorstellung, wie sie bereits im Kāśīmāhātmya und anderen mythisch-religiösen Texten über Banaras nachzulesen ist.734 Darüber hinaus festigt die Gleichsetzung Assis mit dem Aṣṭhādhyāyī die unangefochtene Autorität des Viertels und seiner Bewohner in der Deutung ihrer „Grammatik“, also ihrer Geschichte, Kultur und Lebensweise, wohingegen die Stadt Banaras und die Amerikaner lediglich Kommentare zu dieser Grammatik beisteuern. Die zahllosen Rückgriffe auf Mythen zielen dabei auf die Sphäre brahmanischer Gelehrsamkeit ab. Mit der Referenz auf lokales, elitäres Wissen und die Volkssprachen Hindi, Bhojpuri und Awadhi vollzieht sich die widerständige Abgrenzung von der globalen Autorität Amerikas. Dabei dient die Umkehrung von Zentrum und Peripherie als Erklärungsmodell, um die Interaktionen zwischen westlichen Besuchern und Stadtbewohnern aus einer alternativen Perspektive zu betrachten: „The basic pun is that ‚America‘ turns into the imagined periphery of Banāras.‍“735 Diese Art der Skalierung, also ein Hineinzoomen in eine topographisch und kulturgeschichtlich zentrale Örtlichkeit im Herzen der Stadt Banaras bewirkt einerseits eine Konzentration auf lokale, regionalsprachliche Sichtweisen und Vorstellungen von städtischem Leben und Alltagsgeschehen in einem räumlich und ideologisch abgesteckten Umfeld.
Doch das Viertel ist kein hermetisch abgeriegelter, sozial, sprachlich und politisch homogener Raum, auch wenn manche Schilderung im Roman das vermuten ließe. Henrike Donner und Geert de Neve erinnern daran, dass „The neighbourhood is a space in-between par excellence, a locality that connects the direct experiences of households and families with their participation in wider networks of city, nation and the world.‍“736 Auch ‚lokale‘ Vorstellungen von Bürgerschaft und städtischer Identität können nicht außerhalb globaler Zusammenhänge gedacht werden:
The neighbourhood is the place in which knowledge and experience of the wider world is articulated, and thus a prime location for the study of culture. Images and values of the wider world become meaningful only when translated into more localised narratives and practices located in such significant places of everyday interaction. It is precisely because of its mediating and translating role that the neighbourhood is an appropriate locale from where to start conceptualising the interconnectedness of places, peoples and cultures in a globalising world.737
Nicht zuletzt übersetzen die Assianer selbst globale Phänomene in ihre Lebenswelt: „Da können diese Wissenschaftler über Globalisierung, Liberalisierung, Multinationalisierung und noch so viele ‚i-sierungen‘ referieren wie sie wollen – ich mach mir meinen eigenen Reim darauf.‍“738 Der Ausspruch stammt von Larheram, auch „Barber Baba“ genannt, da er vor seiner Karriere als weltbekannter Tantriker Friseur in Assi war. Larheram zieht seine eigenen Lehren aus der Globalisierung. Er unterteilt Touristen in zwei Gruppen: Die erste Gruppe sind wohlhabende Touristen und die zweite sind 30 bis 35-jährige Sinnsucher, die in Kurta und Lungi gekleidet am Ghat oder auf den Bürgersteigen ihre Zeit mit Chai und Ganja vertreiben.739 Larherams Theorie ist, dass letztere nicht nur vor Maschinen und Geld aus ihrer Heimat nach Banaras geflüchtet sind. Nein, hier bekämen sie gegen einen erschwinglichen finanziellen Aufwand die Anerkennung und Wertschätzung, die ihnen in ihrer Gesellschaft versagt bleibe: „Hier tun sie sich ausgerechnet mit den kleinen Leuten zusammen! Kann sein, dass es noch andere Gründe gegeben hat, aber fest steht, dass sie weder von den höheren Kasten noch in ihrer Heimat so umsorgt und respektiert worden wären wie von denen.‍“740 Larheram selbst erweist sich im Folgenden als tüchtiger Geschäftsmann, als er zusammen mit seiner Frau Catherine ein Ashram für die Aussteiger und Sinnsucher gründet und seinem Spitznamen, frei übersetzt etwa Ram „Pinkepinke“ Sharma741, alle Ehre macht.
An Stellen wie dieser legt der satirische Erzählduktus das Konstruierte des Banārasī Lokalpatriotismus offen. Gerade in Reaktion auf den Massentourismus und andere globale Einflüsse bilden sich stadtkulturelle Differenzen überhaupt erst heraus.742 Homogenisierung und Heterogenisierung, die Löw als „kulturelle Wirkungen weltweiter Vernetzung“ definiert, schließen sich also nicht zwangsläufig gegenseitig aus, sondern stehen nicht selten in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander.743 Solche widerstreitenden Tendenzen sind es, die den Roman so interessant und anspruchsvoll zu lesen machen: Einerseits etabliert der Erzähler (und die Erzählstruktur selbst) eine „authentische“, gleichsam hermetische Lebenswelt. Andererseits arbeitet er sich mit satirischen Mitteln an dieser vermeintlich ‚traditionellen‘ und ‚lokalen‘ Lebenswelt ab, indem er sie als Produkt einer hausgemachten Vermarktung offenlegt. Der Begriff Tradition ist der Ball, der in diesem ambivalenten Bedeutungsfeld zwischen Ursprünglichkeit und dessen Hinterfragung hin und her gespielt wird.
Davon, wie schmal der Grat zwischen Tradition und Traditionalismus ist, erzählt die dritte Episode mit dem Titel „Das Assi der Heiligen, Unheiligen und Volltrottel“ (santoṃ, asantoṃ aur ghoṃghābasantoṃ kā assī). Sie markiert die zweite Hälfte des Buches, mit der Singh die spannungsvolle Beziehung zwischen Assianern und Ausländern und damit auch die Auswirkungen der Globalisierung auf das Leben der Einheimischen ins Blickfeld rückt. Gleich zu Beginn heißt es, Assighat sei zum Sklaven von Miami verkommen, das Viertel geographisch aufgeteilt zwischen Ausländern, die sich am Ghat aufhielten, und den Einheimischen an der Kreuzung (wo sich auch Pappus Teeladen befindet).
Die Schlüsselszene der Rahmenerzählung befindet sich am Ende des Kapitels. Catherine, Larherams Frau, besucht Pappus Teeladen, um Informationen über Assi für ihr neuestes Buch über Banaras zu erfragen. Im Gespräch lässt sie die anderen wissen, dass Varanasi, wie man es kennt, ihrer Meinung nach dem Untergang geweiht sei. Dieses harte Urteil, noch dazu von einer Zugezogenen, ist der Auslöser für Gaya Singh, die Ausländer und alle, die mit ihnen verdienen, für den Tod der Stadt verantwortlich zu machen. Aus dieser Szene bricht exemplarisch die ganze Spannung zwischen Tradition und Tourismus hervor: Gaya Singh scheint, mehr noch als Catherines forscher Kommentar, der Umstand zu stören, dass sich eine ausländische Frau, noch dazu eine, die fließend Hindi spricht und offenbar über umfangreiches lokalen Wissens verfügt, in den Erinnerungsdiskurs über das Viertel einmischt.744
Seine Klage schwillt zu einer umfassenden Kritik an, die sich gegen Amerika und alles richtet, wofür es steht, allen voran den aggressiven Finanzkapitalismus. Gaya Singh sieht im allgemeinen Kultur- und Werteverfall, der sich im Drogenkonsum, in der Korruption der örtlichen Jugend und in der arroganten Haltung der Ausländer äußert, die Symptome einer ökonomischen und kulturellen Überfremdung. Auf den Einwand des am Gespräch beteiligten Dinbandhus hin, nur die wenigsten Ausländer in der Stadt seien Amerikaner, entgegnet Singh zynisch:
„Die wenigsten?!“ Gaya Singh lachte, „hast du mal registriert, was in den Gassen los ist? Da rollt der Dollar! Dinbandhu, der Dollar ist Amerikas Zunge. Erst leckt sie ein Land nur ab, so zärtlich wie eine Kuh ihr Kalb. Wenn die Haut sich langsam abschält, dir das Fell über die Ohren gezogen wird, und es so richtig schmerzhaft wird, wenn auf der Zunge Widerhaken zu sehen sind und die Kiefer nur so knirschen und knacken, dann dämmert dir langsam, dass diese Zunge keiner Kuh gehört, sondern irgendeinem anderen Tier. Und bevor du’s dich versiehst, hat es ein Land nach dem anderen geschluckt, auch solche wie die Sowjetunion – da ist ein Viertel doch ein Klacks dagegen![“]745
Gaya Singh wirft nebenbei seinen Leuten Selbstgerechtigkeit vor – alle hielten sich und Assi für den Nabel der Welt, dabei hätte keiner im Blick, was vor sich gehe in Banaras. Als Beispiel führt er die vielen falschen Ehen (zum Zwecke der Visa-Verlängerung) und den Verkauf von Häusern an Ausländer an. Er gibt zu bedenken, dass die Globalisierung in Wahrheit ein Prozess sei, der lediglich eine Richtung kenne:
„Also das verstehen wir unter Globalisierung. Die können kommen und gehen wie es ihnen gefällt, und so lange bleiben, wie sie Lust haben, aber wir? Haben wir die Möglichkeit, auch nur ein einziges Mal nach Amerika zu reisen? Unser Zuhause ist ihr Zuhause, aber ihr Zuhause ist nur ihres, da hört die Freundschaft auf. Und, wir haben’s gerade erlebt, ein paar Tage später sagen sie, Assi geht vor die Hunde, gebt’s uns, wir polieren’s auf, dass es nur so blitzt! Morgen kommt Banaras dran, übermorgen kümmern wir uns um Delhi und überübermorgen schaukeln wir das ganze Land. Hinterher weiß man, ob man in Yashodas Schoß gelandet ist oder in Putanas!“746
Die beiden Frauennamen Yashoda und Putana stammen aus der populären Legende über Krishnas Geburt und Säuglingszeit, die unter keinem guten Stern stand, da das Kind Zielscheibe mehrerer (gescheiterter) Mordversuche wurde, wie im Bhāgavatapurāṇa geschildert. Nachdem Krishna vor seinem grausamen Onkel Kamsa in Sicherheit gebracht worden war, wuchs er wohlbehütet bei seinen Zieheltern, dem Hirten Nanda und dessen Frau Yashoda, auf. Im Auftrag von Kamsa bot sich ihnen die Dämonin (rākṣasī) Putana als Amme an, um das Neugeborene mit ihrer vergifteten Milch zu töten. Krishna jedoch saugte mit der Milch auch das Leben aus der Dämonin heraus und trug selber, abgesehen von seiner dunkelblauen Hautfarbe, keine bleibenden Schäden von dem Attentatsversuch davon.
In diesem Zitat aus dem über Jahrhunderte hinweg mündlich überlieferten Mythos drückt sich Gaya Singhs tiefes Misstrauen gegenüber äußeren, zunächst verlockenden Einflüssen aus, ja gar die Angst vor kultureller Unterhöhlung durch neokoloniale Kräfte, versinnbildlicht in der alles verschlingenden amerikanischen Dollar-Zunge. Auch in dem dieser Mahnrede unmittelbar folgenden Gleichnis berichtet Gaya Singh vom Königsspross Kashi Naresh, dessen ausgiebiger Fleischkonsum (māṃs-bhakṣaṇ) gefährliche Züge annahm, als der Prinz auf den Geschmack von Menschenfleisch kam und niemand es wagte, ihm Einhalt zu gebieten.747 Gaya Singh zieht in einem moralischen Fazit Parallelen zur heutigen Situation und konstatiert trocken, dass der menschenfressende Königssohn im aktuellen Zeitalter, dem verdorbenen Kaliyuga, Herrscher von Amerika sei. Die Feiglinge, die damals vor ihm geflohen waren, statt ihn dingfest zu machen, die Bewohner von Assi. Die Kritik am Ausverkauf des Viertels fällt in Gaya Singhs Kritik auf die Bewohner selbst zurück: Schließlich steckt in dieser ernüchternden Aussage die Erkenntnis, dass globale Phänomene wie der Kulturtourismus und Kapitalismus nicht einfach nur „von oben“ oktroyiert, sondern an Orten wie Banaras gerade auch konstituiert werden.748
Auch die vierte Episode des Bandes mit dem Titel „Was hat dich da bloß geritten, Pandey?“ (pāṃḍe kaun kumati toheṃ lagī)749 bietet Einblicke in das gespaltene Verhältnis von Tradition(alismus) und Tourismus. Sie handelt vom Astrologen Shastriji, der nach zähem Ringen seine Frau davon überzeugt, die Französin Madeleine als zahlenden Gast bei sich aufzunehmen und ihr – gegen seine eigenen brahmanischen Prinzipien verstoßend – Unterricht in Sanskrit zu erteilen, wobei die Aussicht auf üppige Einnahmen und ein damit steigender Lebensstandard keine ganz unwichtige Rolle für den jeweiligen Sinneswandel der beiden spielt. Dieser von außen betrachtet scheinbar unproblematische Fall offenbart aus der lokalen Innensicht die Spannungen und Konflikte, die unter der Oberfläche der heiligen Stadt brodeln. Der Keim für diese Spannungen ist, folgt man dem Erzähler, das weit verbreitete paying guest Geschäftsmodell, das den unteren Kasten seit Mitte der 1980er Jahre einen beachtlichen ökonomischen Aufstieg beschert hat.750 Brahmanen, die aus Gründen der Reinhaltung ihrer religiösen Werte und Sitten keine „Barbaren“ (mlecchas) bei sich aufnahmen (und die fleischessenden und verlotterten Ausländer erfüllten alle Kriterien dafür), mussten bald mit ansehen, wie sie ins Hintertreffen gerieten, während die Söhne und Töchter der Fischer und Fährmänner dank der Einkommensquelle Tourismus immer mit den neuesten technischen Geräten und modischen Accessoires aufwarten konnten.
Doch von vorne. Der Konflikt bahnt sich an, als der Brahmane Pandey Dharmnath Shastri und seine Frau mit der Bitte konfrontiert werden, eine Ausländerin bei sich wohnen zu lassen. Eines Tages steht ihr Bekannter Kanni Guru, bei dem es sich um das alter ego des Autors handeln dürfte,751 mit einer jungen Französin vor der Tür, die Sanskrit lernen möchte. Bereits die Wegbeschreibung von der bekannten Kreuzung (caurāhā) zum Haus des Pandits veranschaulicht, wie stark das Altstadtbild von den auf Kulturtourismus zugeschnittenen Herbergen und Aushängeschildern geprägt ist, die mit Turbo-Sprachkursen für A-Grade Pandits werben.752 Statt einer freundlichen Begrüßung entfährt der Hausherrin eine Schimpfsalve, die Kanni Guru anschließend äußerst diplomatisch für die des Hindi nicht mächtigen Madeleine übersetzt:
„Wo gabelt dieser Enkel von einem Mistkerl bloß immer wieder neue Huren auf?!“ polterte die Frau des Pandits los. „Schleich dich, sonst hab ich nur Ärger am Hals.‍“
Die Ausländerin blickte Kanni fragend an.
„Vielen herzlichen Dank, aber wir können nicht bleiben,“ sagte Kanni und machte es der Französin auf seine Art verständlich: „Sie heißt uns willkommen und will, dass wir reinkommen, aber der Herr Gelehrte ist nicht zu Hause. Er ist sicher gerade Mahishasurmardini, Hanuman und Durga einen Besuch abstatten. Very Highclass Devoty!“753
Bei einem nächsten Treffen belächelt Pandey Shastriji Madeleines Wunsch, Sanskrit zu lernen. Schließlich lasse sich die „Stimme der Götter“ (dev'vāṇī) nicht in ein paar Monaten erlernen, sondern erfordere ein gesamtes Leben, auch wenn das die vielen Halsabschneider in Banaras (darunter viele seiner Schüler, wie er offen zugibt), etwas Anderes behaupteten.754 Doch allmählich treten die berufsethischen Bedenken in den Hintergrund. Diese wirken ohnehin recht fadenscheinig; bietet der Pandey laut Aushängeschild doch selbst diese Art von Turbokursen an. Als er offen darüber nachdenkt, auch unter die Gastgeber zu gehen, wirft seine Frau ihm empört Doppelmoral vor.755 Dem Shastriji gelingt es erst, seine Frau umzustimmen, als er die 15.000 Rupien ins Spiel bringt, die sie monatlich verdienen würden.756
In diesem Streitgespräch wird deutlich, unter welchem Druck sich die alten Eliten, Pandits und Priester, sehen. Nicht nur verdienen sie an der Massenware ‚Tradition‘, sie untergraben mit der Demokratisierung und Säkularisierung der heiligen und geheimen Sprache Sanskrit ihre Legitimationsgrundlage – schließlich hatten traditionell nur kleine Kreise von Gelehrten und Priestern Zugang zu dieser Sprache, der ihren Machtstatus an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie sicherte. Bedenkt man, dass Brahmanen seit jeher eine „spirituelle und normative Leitfunktion“757 innehaben, also die höchsten Werte und Verhaltensnormen der Gesellschaft repräsentieren und kontrollieren, erscheint die Aufnahme eines mleccha – noch dazu einer weiße Frau – im Haus eines Brahmanen im Grunde wie eine Kapitulationserklärung an die moderne Zeit. Das Buch zeugt nicht nur von der zerstörerischen Macht der Tourismusindustrie, sondern auch von der sozialen Dynamik, die der Tourismus anstößt. Die Umwälzung der rigiden traditionellen Gesellschaftsordnung durch neue Einnahmequellen (paying guest) bietet sozial benachteiligten Gruppen die Chance zum Aufstieg.
Was zeichnet nāgarik'tā bei Singh schließlich aus? Eine mögliche Lesart hebt das inklusive Verständnis von Bürgerschaft (nāgarik'tā) in Banaras hervor: In der tiefen Skepsis gegenüber den vermeintlichen Segnungen der Moderne, wie Fortschritt und Effizienz, drückt sich die Sorge der Bürger von Assi aus, ihre lokale Lebenswelt gerate unter die Räder der globalen Gleichmacherei. Die guru-Bürgerschaft (nāgarik'tā) von Assi widersetzt sich in ihrem Selbstverständnis der kulturellen Überformung durch Neoliberalismus und Tourismus. Sie pflegen bewusst ihre Banārasipan, also ihre traditionellen Werte, Weltbilder und Praktiken, die dem neoliberalen Denken und Lebensstil entgegenstehen: Zeit und Langsamkeit, nicht zweckgebundene oder zielführende Kommunikation und die Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen. Der vielschichtige Umgang mit Sprache und die Einbindung lokalen Wissens lassen das Bild eines schützenswerten Biotops jenseits touristischer Klischees entstehen.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich der Roman in seiner Stellungnahme zur konfliktträchtigen Beziehung zwischen Lokalem und Globalem jedoch als deutlich differenzierter und ambivalenter. Das unterschwellige Narrativ vom widerständigen Lokalen,758 das sich sowohl in der voraussetzungsreichen Sprache (Dialekt, Umgangs- und Vulgärsprache, Anspielungen, Humor) als auch in der spezifischen Form städtischer Gemeinschaft (Mohalla) manifestiert, wird an mehreren Stellen unterlaufen. Zum einen macht sich das am Begriff der Tradition fest. Tradition ist ein zweischneidiges Schwert, welches das Besondere, das ‚Authentische‘ des Viertels und der Stadt ausmacht und zugleich ein Produkt seiner eigenen Vermarktungsindustrie ist. Zum anderen täuscht der lockere Plauderton und das egalitäre Ethos, das schon zu Beginn des Romans anklingt, über das exklusive Verständnis von Bürgerschaft hinweg. Die nāgariks entstammen einem elitären Milieu aus alteingesessenen, mehrheitlich konservativen Männern aus den traditionell besser gestellten Kasten, die durch den Tourismus an Einfluss und Autorität eingebüßt haben. Schließlich sind es die unteren Kasten, allen voran die Fährmänner, die schon sehr früh ihren Vorteil aus dem Tourismus geschlagen und den Brahmanen in ökonomischer Hinsicht längst den Rang abgelaufen haben. Frauen kommen in der Erzählung nur an zwei Stellen zu Wort; einmal handelt es sich um die bereits lange in Indien lebende Catherine, deren Kommentar über Banaras Tod Gaya Singhs wütende Abrechnung mit den Ausländern zur Folge hat, die er nicht nur für arrogant hält, sondern die er auch für den Untergang des Traditionsviertels mitverantwortlich macht. Die andere weibliche Protagonistin ist die Frau des Pandits, die sich so lange gegen die Idee ihres Mannes sträubt, eine Touristin zu beherbergen, bis letztlich die Aussicht auf eine klingelnde Haushaltskasse alle moralischen Bedenken über Bord wirft. Hinter dieser exklusiven Lesart von Bürgerschaft (nāgarik'tā) bzw. Banārasīpan steht der Versuch der konservativen Mittelschicht, angesichts der sozialen Umwälzungen die Deutungshoheit darüber zu behalten, was die Stadt im Kern ausmacht, wer dazugehört und wer nicht.
Die Thematisierung von Zugehörigkeit wirft im Umkehrschluss immer auch die Frage nach den Exklusionsmechanismen von Bürgerschaft auf. Wo verläuft die Grenze zwischen einem nāgarik und einem anāgarik, jemandem, der in der Stadt lebt und doch nicht dazugehört? Aus welcher Perspektive werden Kategorien wie eigen und fremd vor dem Hintergrund städtischer Zugehörigkeit in der Hindi-Literatur verhandelt?759 Was geschieht, wenn Autoren die Blickrichtung ändern und von außen auf Bürgerschaft schauen?
4.3 Außensichten auf Bürgerschaft: Delhi
4.3.1 Fremd in der eigenen Stadt? Von Außenseitern und ‚Unbürgern‘
In Sara Rais Kurzgeschichte „Amarvallari“ (amar'vallarī) bildet die Mauer um ein verwildertes Grundstück in einer mittelgroßen Stadt die Trennlinie zwischen Zivilem und Unzivilem:
Nachts stieg aus dem Gelände der süße Duft von Haschisch auf. Man konnte glühende Funken sehen, die wie rote Blütenblätter im Wind auseinandertrieben. Jeder wusste doch, dass sich seit Jahr und Tag die Vagabunden und Halunken der Stadt, die Außenseiter der Gesellschaft, abends auf diesem verwahrlosten Gelände mit Spielkarten und billigem Fusel versammelten. Das Würfelspiel florierte. Die rechtschaffenen Bürger aus der Mitte der Gesellschaft rümpften darüber nur die Nase.760
Obwohl Rai nicht auf den Ausdruck nāgarik zurückgreift, bewirkt die ironische Ein- und Begrenzung aus rechtschaffenen Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft (samāj ke hāśie ke andar rah'nevāle sammānya, sajjan log) auf der einen Seite und den Vagabunden und Halunken, den Ausgestoßenen (āvārā aur badmāś, sabhya samāj se niṣkāsit log) auf der anderen doch ihr Übriges. Die Situation dieser Außenseiter mutet auf den ersten Blick paradox an: Sie leben mitten in der Stadt, wenn sie auch keinen festen Wohnsitz (āvārā) haben, und werden wegen ihres nicht regelkonformen Verhaltens (badmāś) nicht als Teil der städtischen Gesellschaft angesehen. Hinter der Vorstellung von Mitte und Rand verbergen sich die Mechanismen von Inklusion und Exklusion, die den Begriff des nāgarik begleiten und mit dem eine soziale und ökonomische Zugehörigkeit verbunden ist.761 Während Rais Geschichte nur einen ungefähren Hinweis gibt, wer sich hinter den Fremden verbirgt, machen andere Beispiele deutlich, dass es sich bei solchen ‚Nichtstädtern‘ häufig um Arbeitsmigranten handelt, die in den Metropolen ihren Lebensunterhalt verdingen.
Das Hauptinteresse der Autorinnen und Autoren, die sich mit diesem Thema befassen, gilt der paradoxen physischen und sozio-ökonomischen Außenseiterexistenz städtischer Arbeitsmigranten. Sie teilen dieses Interesse mit Akademikern wie dem Historiker und Sozialwissenschaftler Partha Chatterjee, der auf die Dichotomie zwischen Bevölkerung (population) und Bürgertum bzw. Zivilgesellschaft (civil society) hingewiesen hat.762 (Nicht-)Zugehörigkeit steht häufig in Verbindung mit der Erfahrung mit Armut. Gagan Gill (geb. 1959) rückt zum Beispiel die Biographie eines Arbeitsmigranten in den Mittelpunkt ihres dokumentarischen Essays „Die Schlaflosen von Delhi“.763 In einem Interview befragt das alter ego der Autorin einen Rikschafahrer zu seiner Lebensgeschichte und dem Alltag auf der Straße. Im Gespräch stellt sich heraus, wie fremd er sich selbst nach vierzehn Jahren in der Hauptstadt fühlt. Sein Alltag spielt sich auf der Straße ab, er schläft in der Rikscha, er isst und wäscht sich am Straßenrand. Als die Interviewerin fragt, warum er sich für das ersparte Geld nicht eine Bleibe in Delhi gesucht hat, antwortet er: „Delhi ist nicht mein Zuhause. Ich denke die ganze Zeit immer nur an mein Dorf. Dort bin ich geboren, dort möchte ich sterben.‍“764 In den vielen Stunden des Wartens grübelt er darüber nach, warum er kein Zuhause hat und „hier auf der Straße herumgestoßen“ wird.
Dass die massenhafte Ausgrenzung und Benachteiligung großer Teile der städtischen Bevölkerung im Widerspruch zu den normativen Ansprüchen von Staatsbürgerschaft (citizenship) steht, beschäftigte auf Hindi-schreibende Schriftstellerinnen und Schriftsteller schon Jahre, bevor das Problem struktureller Ausgrenzung im demokratischen Rechtsstaat Indien die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften erregte.765 Obwohl ohne das Heer informeller Arbeiter die städtische Wirtschaft, Infrastruktur und der Dienstleistungssektor zusammenbrechen würden, lebt und arbeitet ein Großteil der Bevölkerung z.T. jahrzehntelang informell in den urbanen Ballungsräumen.766 Als die Hauptmerkmale des informellen Sektors, der eine unverzichtbare Säule der Wirtschaft bildet und das produzierende Gewerbe, den Bau und Transport einschließt,767 identifiziert Annapurna Shaw eine fehlende rechtliche Absicherung, hohe soziale Unsicherheit und geringe Löhne.768 Informelle Lebens- und Arbeitsbedingungen, die rund drei Viertel der städtischen Bevölkerung betreffen, gehen de facto mit einer Aufweichung von Grundrechten (etwa dem des Schutzes vor Ausbeutung) einher.769 Der Politologe Richard Bellamy zählt die Gründe auf, warum Menschen vom Bürgerstatus ausgeschlossen wurden und werden:
The first component, membership or belonging, concerns who is a citizen. In the past, many have been excluded from within as well as outside the political community. Internal exclusions have included those designated as natural inferiors on racial, gender, or other grounds; or as unqualified due to a lack of property or education; or as disqualified through having committed a crime or become jobless, homeless, or mentally ill.770
Im Vorwort zu „The Politics of Citizenship, Identity and State in South Asia“ machen die Herausgeber auf die systematische Diskriminierung von Arbeitsmigrantinnen und -‍migranten aufmerksam, die sie als klaren Verstoß gegen die in der Verfassung verankerten universalen (Staats)Bürgerrechte werten.771 Der idealistischen Forderung nach einem universalen Konzept von (Staats)Bürgerschaft, der die Autorinnen und Autoren Rechnung tragen wollen,772 folgt eine nüchterne Einschätzung der Ursachen, die die Gewährleistung und Umsetzung der in der Verfassung verbrieften Bürgerrechte in Südasien erschwert oder gar scheitern lassen. Nicht zuletzt seien die große Diversität, die hierarchische Gesellschaftsstruktur, soziale und ökonomische Ungleichheit, Unterentwicklung und politischer Extremismus Gründe, warum (Staats)Bürgerschaft im heutigen Südasien so umkämpft sei.
Wie bereits erwähnt, schließt das Konzept sowohl die staatsbürgerlich-humanistische Tradition ein, die sich auf kulturelle Werte wie Mitbestimmung und Gemeinwohl beruft (und der z.B. Gandhi nahestand), als auch die auf individuellen Rechten basierende neoliberale Tradition, welche z.B. Nehru in seinem Glauben an die Überwindung sozialer Ungleichheit durch sozioökonomischen Fortschritt vertrat.773 Im Extremfall könne letzteres Modell, Sobhanlal Datta Gupta zufolge, die Krise der Ungleichheit verstärken. Wenn nämlich der Staat seine Bürger allein dem Markt, NGOs und einem Netzwerk aus Agenturen und privaten Institutionen überlasse und damit „the relocation of the citizen in the sphere of governance, away from that of government“ vorantreibe.774 Harihar Bhattacharya unterstreicht die hier anklingende Sorge, die Bedeutung von citizenship verschiebe sich zunehmend von einer politischen und inklusiven Auffassung hin zu einem Verständnis, das den Bürger als Teil einer Wirtschafts- und Konsumgemeinschaft versteht. Gleichzeitig bewirke der Liberalisierungsprozess, dass Forderungen unter breiten Bevölkerungsschichten (the masses) nach mehr Rechten und Mitbestimmung laut würden.775
Solche Befürchtungen bezüglich einer Konsumentenbürgerschaft äußern Hindi-Autorinnen und Autoren wie Uday Prakash und Krishna Sobti schon ca. zehn Jahre vor Bhattacharya. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade Neu-Delhi zum Zentrum der literarischen Auseinandersetzung mit städtischer Zugehörigkeit wird.776 Schließlich entstand in der indischen Hauptstadt in den 1990er Jahren eine neue wohlhabende middle class, die Delhis Image einer aufstrebenden „world city“ prägte.777 Auf der anderen Seite hat die Hauptstadt in den 1990er Jahren 1,7 Millionen Arbeitsmigranten angezogen. Alleine zwischen 1991, dem Jahr der Liberalisierung, und 2001 betrug die Wachstumsrate im Ballungsraum von Delhi 52 %, und der Stadt selbst 36%, womit Delhi weit vor den anderen Megstädten Mumbai, Kalkutta und Chennai lag.778 Bei einem hohen Anteil von sogenannten lifetime migrants unter der Gesamtbevölkerung – für den Ballungsraum Delhi betrug er im Jahr 2001 43%779 – stellt sich die Frage nach städtischer und staatlicher Zugehörigkeit.
Ist Delhi die Hauptstadt der (Staats)Bürger? An den Begriff des nāgariks geknüpft öffnet Krishna Sobti in ihrem jüngsten Roman „Die Melodie der Zeit“ (samay-sar'gam) von 2000 den Raum für ein kritisch-reflektiertes Nachdenken über das Leben der bürgerlichen Mittelschicht um die Jahrtausendwende. Der Delhi-Roman wird aus der Perspektive der alleinstehenden, emanzipierten Rentnerin Aranya erzählt, die sich mit Nishan, einem alleinstehenden Witwer anfreundet. Die beiden Pensionäre tauschen sich über existentielle Fragen aus, reflektieren ihren Lebensweg und das spannungsreiche Verhältnis von individueller Unabhängigkeit und familiären Zwängen. Auch die besorgniserregenden Entwicklungen des öffentlichen Lebens, die Umweltverschmutzung, die dysfunktionale Infrastruktur und die steigenden Mieten, kommen zur Sprache. Dass vor allem die sozial schwächer gestellte Bevölkerung von diesen Problemen betroffen ist, wird in einer im Wortlaut wiedergegebenen politischen Kundgebung in Kapitel 18 deutlich, in der Rechte und Mitbestimmung für alle eingefordert werden:
Pay close attention to this. The world is not illusory for us. It is constant. […] It is always present, in gross or fine form. So why delude us about staying away from a better life? We have a Constitution to protect our rights. It speaks of the participation of people in democracy. Parliament is the protector of our democratic values. We may well be backward, weak, of schedule caste, but Parliament is ours too. We’re also the inhabitants of this country.780
Soziale und ökonomische Außenseiter werden bei Sobti zumindest ideell als Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen. So wundert sich die alternde Heldin Aranya, als sie auf ihrem Spaziergang ein Baby in der nahen Armensiedlung (jhuggī) weinen hört, was aus diesem „kleinen Bürger“ (nanhā nāgarik) wohl wird, wenn er groß ist.781 Würde ihm jemals gesellschaftliche Wohltätigkeit zuteil werden? Aranya spekuliert, dass dieses kleine Wesen schließlich der politische Führer von morgen sein könnte. Dass das weinende Kind aus dem Slum wie selbstverständlich als nāgarik (in der englischen Übersetzung citizen) bezeichnet wird und der Redner auf der Kundgebung die allgemeinen Bürgerrechte hochhält,782 spricht für ein demokratisches, verfassungsrechtliches Verständnis von Bürgerschaft. In den Augen der Protagonistin ist eine feste Bleibe, so bescheiden sie auch sein mag, die Grundvoraussetzung für ein gutes, „bürgerliches“ Leben: „Der Luxus der eigenen vier Wände bildet die Grundlage städtischen Lebens.‍“783 Ohne diese Voraussetzung ist der Status des nāgarik, also auch seine Zugehörigkeit zur Stadt, akut gefährdet, wie Uday Prakashs „Die Mauern von Delhi“ exemplarisch verdeutlicht. Der Autor schildert, wie ein Leben in den physischen und sozialen Nischen Delhis aus Sicht eines Tagelöhners aussehen kann.
4.3.2 Uday Prakash: „Die Mauern von Delhi“ (2002)
„Die Mauern von Delhi“ ist eine Erzählung aus dem Band „Die Leiden des Dattatreya“784 und erinnert an ein modernes Märchen, in dem der Traum vom großen Geld zunächst wahr zu werden scheint. Prakash zitiert den Aufstiegsmythos „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, der gerade im indischen Film auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblickt, wie beispielsweise Shree 420 (1955) oder Deewar (1975) zeigen. Dass der Aufstieg nicht durch harte Arbeit, sondern häufig nur auf kriminellen oder zumindest dubiosen Wegen möglich ist, wie beide Filme kritisch reflektieren, trifft auch für „Die Mauern von Delhi“ zu.
Die Erzählung handelt von Ramnivas, einem einfachen Tagelöhner aus Delhi, der über Nacht zu Reichtum kommt, als er während der Reinigungsarbeit in einem Fitnessstudio mit dem Stiel des Wischmopps buchstäblich auf einen Schatz stößt. In einem Hohlraum in der Wand verbirgt sich ein geheimes Lager voller Geldbündel – Schwarzgeld wie Ramnivas vermutet. In der nächsten Zeit lebt er in Saus und Braus, kann Frau und Kinder mit gutem Essen und kleinen Kostbarkeiten verwöhnen und zudem das Herz der jungen Sushma gewinnen, der er schon länger seine Aufwartung macht und die er nun offensiv mit Präsenten umwirbt. Schönen Kleidern und Schmuck folgt eine mehrtägige Liebesreise nach Agra. Auf der Suche nach einem Hotel, das über alle Annehmlichkeiten verfügen soll, die einem wohlsituierten Mann wie Ramnivas zustehen, erkundigt sich der argwöhnische Rikschafahrer, woher der Gast denn komme. Ramnivas, der wie viele andere Dörfler auch sein Glück in der Hauptstadt versucht hat, ist nicht um Antwort verlegen:
„Na aus Delhi! Dachtest wohl, wir sind aus U.P. oder M.P. Pem.Pi.?”, konterte Ramnivas prompt und strahlte Sushma triumphierend an. „Und nach Agra komm ich ständig, so alle zwei Wochen. Mit dem Dienstwagen.‍“ Hoffentlich würde dieser neunmalkluge Typ jetzt nicht nach seiner Arbeit fragen. Was sollte Ramnivas dann antworten? Viertklassige Fachkraft für Gebäudereinigung? Kehrdienstleiter? Tätigkeit im Hygiene-Service-Bereich? Aber der andere bohrte nicht weiter nach.785
Schon der erste Satz entlarvt Ramnivas durch die dialektal-ländliche Form apan als Landei. Die durch Sanskritismen hyperformalisierten Berufsbezeichnungen wie caturth śreṇī und svacch'tā karmī gaukeln einen Status vor, der einer Nachfrage gewiss nicht standhalten würde. Ramnivas lässt sich nicht zufällig eine großstädtische Herkunft angedeihen. Hinter dieser weltmännischen Pose steht der Wunsch, die eigene migrantische Herkunft abzustreifen und den damit verbundenen Außenseiterstatus gegen den eines Hauptstädters (mit festem, anerkannten Wohnsitz) einzutauschen. Dabei lässt das Zitat keinen Zweifel offen, woran sich dieser ‚Bürgerstatus‘ in Ramnivas Vorstellung vornehmlich bemisst: Nur wer ökonomisch gut gestellt und sozial angesehen ist, also der Bourgeoisie angehört, genießt den Status eines Delhiiten. Indem er die stereotypen Attribute aufzählt, die ihn – in seinen Augen – zum ernstzunehmenden Player machen, schießt er übers Ziel hinaus und kann sich glücklich schätzen, dass der Fahrer nicht weiter nachhakt.
Doch Übermut kommt vor dem Fall. Wie prekär sein Möchtegern-Dasein als reicher Delhiit ist, zeigt sich prompt: Noch in Agra reißt Ramnivas Glückssträhne jäh ab, als zwei Polizisten spätabends im Hotel aufkreuzen und wissen wollen, wer die junge Frau ist, mit der er sich vergnügt, schließlich mache sie nicht den Eindruck, volljährig zu sein. Der Eindruck wird bestätigt, als Sushma auf deren Nachfrage hin vor lauter Aufregung ihr wahres Alter – sie ist erst siebzehn – verrät. Ramnivas’ engagierte, aber doch billige Ausrede, es handele sich bei dem Mädchen um seine Schwägerin, nehmen die beiden natürlich nicht ab. Am Ende gelingt es ihm gerade noch, sie mit Whiskey und großen Mengen Butter Chicken gefügig zu machen. Allerdings fliegt sein Geheimnis mit dem Schwarzgeld auf, als er den Polizisten im Suff davon erzählt, wie ihm am nächsten Morgen Sushma berichtet. Er reist überstürzt nach Delhi zurück, wo bereits die Polizei auf ihn wartet. Offenbar wird er jedoch wieder freigelassen, denn er wendet sich in seiner Not an Vinayak Dattatreya, der Ramnivas sagenhafte Geschichte erzählt und eine wiederkehrende Erzählinstanz im Band bildet. Ihn bittet er um Rat und weiht ihn in sein Geheimnis um den Schatz ein.
Bevor Vinayak ihm jedoch helfen kann, ist Ramnivas schon verschwunden. Seine nicht identifizierte Leiche taucht bald darauf auf einem Foto in der Zeitung auf, in der es heißt, dass zwei Kriminelle mit mehreren 100.000 Rupien auf der Flucht erschossen wurden, nachdem sie das Feuer auf die Polizei eröffnet hatten. Es fallen einige Ungereimtheiten in der polizeilichen Darstellung des Tathergangs auf, zum Beispiel, dass die von Kugeln durchsiebten Leichen der beiden Männer außerhalb des Autos lagen. Zudem dürfte es sich bei der genannten Höhe des Diebesguts, so schlussfolgert Dattatreya aus eigenen Berechnungen, in Wahrheit nur um einen Teil des Schwarzgeldes handeln. Den Schatz bringt er mit einem Korruptionsfall in Verbindung, in den ein ranghohes Regierungsmitglied verwickelt war, das offenbar von der Polizei gedeckt wird. Aber auch Journalisten, bekannte Intellektuelle und Schriftsteller reihen sich in die Riege der korrupten Nutznießer ein:
Wenn Sie die Gedichte und Geschichten lesen, haben Sie vielleicht bemerkt, dass die Seiten heutzutage nach Alkohol stinken, dass sich hinter den Worten Knochen von Hühnern, Ziegen und unschuldigen Menschen häufen. Schlagen Sie mit einem Besenstiel gegen zeitgenössische Literatur und Sie stoßen auf ein Loch voller Banknoten. Dreckiges besudeltes Geld.786
Zwar erfährt der Leser nicht, auf welche Literatur genau der Erzähler hier anspielt, jedoch prangert er unumwunden die Bestechlichkeit und mangelnde Integrität auch von Intellektuellen und Literaten an, die für einen unabhängigen geistigen Diskurs unabdingbar sind.
Angesichts des bitteren Ausgangs von Ramnivas Schicksal erscheint Vinayak Dattatreyas Credo, jeder könne das Glück in den Mauern von Delhi finden, mindestens ironisch, wenn nicht gar zynisch. Er fordert den Leser auf, mit Hacke und Brecheisen bewaffnet nach Delhi zu kommen, um nachts in den Mauern der Stadt nach verborgenen Schätzen zu graben:
Wenn Sie diese Geschichte lesen, verlieren Sie keine Zeit. Schnappen Sie sich einen Spaten und ein Brecheisen und auf nach Delhi. Es gab nie einen anderen Weg, Millionär zu werden. Wenn Sie sich für ein Leben mit Arbeit, Aufrichtigkeit, Einsicht, Loyalität und Fleiß entscheiden, sterben Sie den sicheren Hungertod oder die Polizei heftet sich an Ihre Fersen.787
Die direkte Ansprache und die vom Erzähler implizierte Mitwisserschaft des Lesers wird als rhetorisches Mittel genutzt, um den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu erhöhen. Außerdem bewirkt sie, dass der Leser mit dieser Parallelgesellschaft sympathisiert:788„Fristen Sie auch so ein Dasein in Delhi, wo Sie nachts kein Auge zukriegen und um drei oder vier Uhr ziellos in der Gegend herumlaufen? Dann sind Sie bestimmt schon mal an der Straße vorbeigekommen, die vom Kingsway Camp zum Rajghat führt.‍“789
Prakashs Erzählung zeigt, wie innerhalb der bekannten Stadttopographie Räume einer flüchtigen (weil prekären) Parallelgesellschaft wachsen, die ein Nischendasein in Ruinen, an Straßenecken und Ausfallstraßen fristet. Manche Menschen verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Geld, Besitz, Reichtum, daran lässt dieses Zitat keinen Zweifel, gilt unter denjenigen, die an den Rändern der physischen und sozialen Stadt leben, als Schlüssel zu gesellschaftlichem Aufstieg und sozialer Anerkennung. Diese Wahrnehmung von (Staats)Bürgerschaft deckt sich mit der Einschätzung des Politikwissenschaftlers Harihar Bhattacharyya, der der citizenship in Südasien Züge einer neoliberalen Konsumenten-Bürgerschaft attestiert.790 Für eine positive Definition von nāgarik'tā auf Basis von Prakashs Erzählung hieße das, die Möglichkeit zu (staats-)bürgerschaftlicher Partizipation bemesse sich in den Augen städtischer ‚Außenseiter‘ in erster Linie an ökonomischen Maßstäben. Und ökonomisches Kapital ist untrennbar mit der Existenz in der Stadt gekoppelt.791 In Dattatreyas Worten, dem Erzähler von „Die Mauern von Delhi“, klingt das weitaus drastischer: „In Delhi, dieser Stadt der Reichen und Schönen, verschwinden die Armen, Kranken und Schwachen einfach so. Und kommen nicht zurück. […] In der Stadt überlebt nicht einmal die Erinnerung an sie.‍“792
Entsprechend sarkastisch wirkt der Aufruf, jeder solle auf der Stelle in die Hauptstadt kommen und ihre Schätze heben: „Falls Sie Ihrem Glück ein wenig nachhelfen wollen, egal, wo Sie sind, fahren Sie nach Delhi. Delhi ist nicht weit. Glauben Sie mir, nicht nur um Millionär zu werden, auch um schlicht sein täglich Brot zu verdienen, bleibt nur dieser eine Weg.‍“793 Die Aussage „Delhi ist nicht weit“ hat in diesem Kontext eine symbolische Bedeutung. Sie zitiert Raj Kapoors Film Ab Dilli door nahim (1957), in dem der Sohn des Arbeiters Hariram, der fälschlicherweise für den Mord an einem reichen Kaufmann verurteilt wurde, für Gerechtigkeit kämpft und allerlei Hindernisse überwinden muss, ehe er in Delhi sein Anliegen vor Präsident Nehru vortragen kann.794 Der Titel geht auf den populären Ausspruch des Sufi-Heiligens Hazrat Nizamuddin Auliya (1238-1325) zurück, „Bis nach Delhi ist es noch weit“ (Persisch: hunūz dehli dūr ast), mit dem dieser kühl auf die Drohung des damaligen Herrschers von Delhi, Ghayasuddin Tughluq, reagiert haben soll: Er wollte Auliya nach seiner Rückkehr nach Delhi köpfen lassen, da Auliya einer Aufforderung des Herrschers nicht nachgekommen war.795 Der Satz bezieht sich auf Tughluqs Heimreise von einer erfolgreichen Schlacht, während der er, kurz vor Delhi, bei einem Unfall umkam. Nizamuddins Ausspruch hat sich zu einer Redewendung verselbstständigt und enthält die Prophezeiung: Noch ist das Ziel nicht erreicht, noch kann sich das Blatt wenden.796 Anders als Kapoors Film und der Legende von Hazrat Nizamuddin nimmt Prakashs Geschichte keine gute Wendung. Am Ende gewinnen die Mächtigen, Ramnivas wird in Delhi kein fairer Prozess gemacht, sondern er findet dort den Tod.
Abgesehen davon, dass „Die Mauern von Delhi“ vom individuellen Schicksal eines ‚randständigen‘ Städters erzählt, ist die Geschichte gleichzeitig ein literarisches Dokument für die prekären Lebensbedingungen in indischen Megastädten, die mit dem Abflauen der Debatten um Übervölkerung und Landflucht in den ehemals kolonisierten Ländern Asiens keineswegs obsolet sind.797 Auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben treibt es Jahr für Jahr Millionen Menschen in Megastädte wie Delhi und Mumbai,798 um dort, genau wie Ramnivas, einen kargen Lebensunterhalt zu verdienen. Gyan Prakash fasst den Widerspruch zwischen Ideal (Stadt als Ort der Zivilgesellschaft) und Wirklichkeit (Nicht-Teilhabe vieler Städter) zusammen: „The nonlegal basis of urban existence and politics in the slums and squatter settlements of the global south mocks the classic ideal of the city as the space of civil society and rational discourse.‍“799 Gyan Prakash zielt hier mit Verweis auf Partha Chatterjee auf die Unterscheidung von Bevölkerung (population) und bürgerlicher Gesellschaft (civil society) ab, wobei letztere seit ihrer Entstehung in der Kolonialzeit einem kleinen Kreis (nationalistischer) Eliten vorbehalten blieb.800 Wozu damals schon nur ein kleiner Zirkel von Führungskräften der Unabhängigkeitsbewegung Zugang hatte, bleibt auch im postliberalen Indien nur den politischen und ökonomischen Eliten vorbehalten, wenn man Uday Prakash Glauben schenken darf. „Die Mauern von Delhi“ zitiert das Bild von der unbarmherzigen und korrupten Bürokratenstadt, die den Neureichen ein gutes Leben in sogenannten farmhouses, mondänen Landhäusern, im Speckgürtel Delhis beschert, so wie Rana Dasgupta es in dem düster-sarkastischen Portrait „Capital City“ (2014) beschreibt.801 Was Jon Stock in seiner Besprechung des Romans – Dasguptas Ausdruck „black money warrior“ weiterspinnend – „lawless elites“ tauft,802 begegnet uns bei Prakash in Gestalt von korrupten Polizisten und hochrangigen Politikern. Jedoch lernt der Leser nicht ihre Perspektive kennen, sondern die derjenigen, die den Lebensstil der Reichen – oftmals als informelle Arbeitskräfte – bewirtschaften. Tagelöhner wie Ramnivas. Die vereinfachte Darstellung einer Hierarchie, bei der die ausgebeutete Arbeiterschaft einer kleinen ausbeutenden Machtelite untersteht, trügt über die Vielschichtigkeit und Komplexität von Prakashs Erzählung hinweg. Denn auch der mittellose Ramnivas ist mit allen Wassern gewaschen und beweist street cleverness (nāgarik'tā). Schließlich genießen opportunistisches Verhalten und kriminelle Energie als Überlebensstrategien und Schutzmechanismus allgemeine Anerkennung.803 Nichtsdestotrotz gehören Ramnivas, dem ein Zufall illegitimen Reichtum beschert hat, die Sympathien des Lesers, weil er die Spielregeln nachahmt, nach denen gesellschaftliche Zugehörigkeit jenseits der nominellen Definition von (Staats)bürgerschaft tatsächlich praktiziert wird.
Der Begriff nāgarik'tā erfährt bei Prakash zuweilen eine ironische, ja zynische Aufladung. Er steht dann für sozio-ökonomische Randgruppen, deren Mitglieder aufgrund ihrer niederen Herkunft sowie mangelnden oder fehlenden Bildung und Qualifikation nicht als vollwertige Städter gelten. Sie bilden „eine andere Art der Bürgerschaft“ (ek alag tarah kī nāgarik'tā)804. Unter nāgarik'tā versammeln sich Tagelöhner, Bettler, Leprakranke, Irre, Drogensüchtige, kurzum all die namenlosen Außenseiter, die als unbürgerliche und wohl auch unzivilisierte Menschen (anāgarik manuṣya) gelten: „In den Jahren nach der Unabhängigkeit verkam dieser Park mehr und mehr zum Treffpunkt der vagabundierenden Bevölkerung aus Bettlern, Verrückten, Aussätzigen, Krüppeln, Süchtigen, auf der Strecke gebliebenen Außenseitern der Stadt.‍“805 Dieses unsichtbare Phänomen wertet der Erzähler als eine andere Spielart der Globalisierung (ek alag prakār kā bhūmaṃḍalīkaraṇ), von der wohl kaum ein Soziologe weiß oder je darüber spricht.806 Was die Soziologen nicht tun, tut nun Dattatreya. Dieser Hinweis ist in zweifacher Weise interessant: Inhaltlich zeugt Ramnivas Schicksal von den Schattenseiten der Globalisierung, die in den Augen des Erzählers dringend mehr Beachtung verdienen: Sozio-ökonomische Ungleichheiten verschärfen sich, zahllose Menschen in der Hauptstadt sind von der Zivilgesellschaft ausgeschlossen und genießen nicht dieselben Rechte wie diejenigen, die ‚innerhalb‘ der Stadtgesellschaft leben. Über ihre rein inhaltliche Bedeutung weist diese Aussage auch auf die Funktion von Literatur und auf das Selbstverständnis der Autorinnen und Autoren hin. Uday Prakash benutzt Literatur, um die Erfahrungen subalterner, politisch und sozio-ökonomisch benachteiligter Bevölkerungsgruppen in einem Medium zu verbreiten, das eher in den Mittelschichten konsumiert und rezipiert wird. Doch dieses Beispiel verdeutlicht einmal mehr, dass sich konservative Ideen und Ideale (von gesellschaftlicher Einheit und Gleichheit) mit einer (neo)marxistischen Kritik daran, dass Bürgerschaft vom ökonomischen Status abhängt und im Grunde nur der kapitalistischen Klasse vorbehalten ist, problemlos verbinden lassen. Prakash mischt sich auf einer politischen Ebene in seinem Selbstverständnis als Kulturträger in die Debatte um die praktische Auslegung des Bürgerschaftskonzepts ein. Der Autor, der vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit hauptberuflich als Journalist gearbeitet hat und in vielen seiner Erzählungen über soziale Ungleichheit, Korruption und Polizeiwillkür schreibt, fragt in „Die Mauern von Delhi“ nach, wie es um die in der Verfassung verankerten Grundrechte und um die demokratische Zivilgesellschaft wirklich steht. Die mantraartig vorgetragene Rede von der größten Demokratie der Welt gerät hier gefährlich aus dem Takt. Das Versprechen rechtlicher und sozialer Gleichstellung bleibt zumindest für Prakashs Protagonisten in weite Ferne gerückt.
4.4 Zwischenfazit
Die literarische Darstellung von Bürgerschaft (nāgarik'tā) in den hier vorgestellten Beispielen ist von großen Spannungen geprägt, welche auf das Nebeneinander unterschiedlicher Bedeutungsstränge zurückzuführen sind, wie der schlaglichtartige Blick auf die Wurzeln des Ausgangswortes nāgaraka in der klassischen indischen Literatur und auf die heutige verfassungsrechtliche Bedeutung gezeigt hat. Zwar ist staatsbürgerschaftliche Teilhabe (nāgarik'tā) ein demokratisches Grundrecht, jedoch wird diese normative Bedeutung von alltagspraktischen, bisweilen aus vordemokratischer Zeit stammenden Auffassungen unterwandert. Denn nāgarik'tā bezeichnet in den besprochenen Werken einen exklusiven Status bzw. die exklusive Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit denselben Werten und Praktiken. Lediglich die Beurteilung dieser Exklusivität fällt bei Singh und Prakash unterschiedlich aus, was durch die unterschiedlichen Perspektiven erreicht wird: Singh beschreibt nāgarik'tā gewissermaßen von innen und Prakash Nicht-Zugehörigkeit von außen.
Singh präsentiert mit der Innenperspektive das Ideal einer egalitären städtischen Wertegemeinschaft, die sich durch gemeinsame Praktiken, wie die öffentliche Debattenkultur, formiert. Das nachbarschaftliche Leben ist zugleich sozio-kulturelle Praxis und schützenswertes Gut, das sich über traditionelle Formen der Kommunikation definiert: Das gesellige Klatsch-und-Tratsch-Beisammensein bis hin zum politischen Meinungsstreit beim Chaiwala Pappu und der performative Dichterwettstreit sind die Mittel, die wesentlich das Nachdenken über städtisches Leben strukturieren und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitgliedern dieses nachbarschaftlichen Milieus stärken. Lokale Kennerschaft und Tradition bilden dabei das Substrat, aus dem sich das Selbstverständnis der Assianer als „ursprüngliche“ Städtergemeinschaft speist. Allerdings entlarvt der satirische Duktus des Erzählers Tradition oft genug als Traditionalismus. Denn das Ideal einer ‚authentischen‘ Bürgerschaft wird immer wieder unterlaufen, wenn die ablehnende Haltung der Bewohner von Assi gegenüber dem Tourismus und anderen Übeln des postkolonialen Zeitalters, allen voran dem globalen Kapitalismus, entlarvt wird. Denn Tradition gerät auch zur Ware, die den Lebensstil der Assianer entscheidend prägt und ihren Müßiggang auch erst ermöglicht. Es gibt zwei mögliche Lesarten, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen: Die erste Lesart stellt den Identitätsdiskurs der Assianer unter die Prämisse des widerständigen Lokalen, das sich in der Kritik an Kapitalismus, Globalisierung und (implizit) auch an kosmopolitischen Modellen von Bürgerschaft äußert. Die zweite Lesart hebt die Bedeutung konservativer Deutungshoheiten hervor: Eine Gemeinschaft von Bürgern (nāgariks) bestimmt durch ihre Praktiken und Werte, was städtische Identität ausmacht und wer dazugehört (und wer nicht). Hier scheint sich zu bestätigen, was Partha Chatterjee als das Narrativ der Gemeinschaft (community) bezeichnet hat, das sich auch im Kapitalismus hartnäckig halte:807 „Community, which ideally should have been banished from the kingdom of capital, continues to lead a subterranean, potentially subversive life within it because it refuses to go away.‍“808 Städtische Zugehörigkeit ist eng an die Vorstellung von einer exklusiven, reichen Gemeinschaft geknüpft: In „Die Mauern von Delhi“ von Uday Prakash wird genau dieser Zusammenhang zwischen Kapital und Gemeinschaft aus Sicht eines underdog-Protagonisten geschildert. Prakash wählt die Außenseiterperspektive eines „Nicht-Bürgers“ (anāgarik), der durch einen glücklichen Zufall über Nacht reich wird und sich augenblicklich am Ziel seiner Träume wähnt. Dass dem nicht so ist, wird spätestens klar, als ihm zwei korrupte Polizisten auf die Schliche kommen und er kurz darauf erschossen aufgefunden wird. Prakash entlarvt in „Die Mauern von Delhi“ die Diskrepanz zwischen der nominellen Bedeutung und praktischen Umsetzung von Bürgerschaft (nāgarik'tā). Durch die Außenseiterperspektive von Ramnivas bekommt der Leser eine Idee davon, wie das Leben an den physischen und sozioökonomischen Rändern der Hauptstadt Delhi aussieht. Die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft erscheint hier für den Fremden als unerreichbarer Status, der nur durch Herkunft, Wohlstand und Macht erlangt werden kann. Die Haltung gegenüber der Exklusivität von bürgerlicher Zugehörigkeit ist höchst ambivalent: Selbst wenn die Aufforderung des Erzählers, jeder solle sein Glück in den Mauern von Delhi suchen, statt mit ehrlicher Arbeit im eigenen Unglück zu verharren, ironisch gemeint sein dürfte, halten die Außenseiter genau diese exklusive Lebenswelt für erstrebenswert. Städtische (und staatliche) Zugehörigkeit definiert sich in den Augen von Ramnivas an einem elitären Besitzstatus.
Beide Geschichten erzählen von Globalisierungsverlierern. Bei Singh versuchen sich die Bewohner des Viertels Assi gegen den globalen Kapitalismus (und die Touristen) abzugrenzen, um ihre lokale Identität zu bewahren. Der Einfluss der Globalisierung hat eine sozio-ökonomische Umwälzung losgetreten, die zum Statusverlust der alten Eliten geführt hat und durch die Vermarktung einheimischer Traditionen und lokalen Wissens selbst zur Entwertung ihres Status beigetragen hat. Bei Prakash sind die unterirdischen Gänge, die sich durch ganz Delhi ziehen und unter dem gesamten Globus verlaufen, eine Metapher für die vielen ‚Unbürger‘, Tagelöhner, Obdachlosen, Kranken und Abgehängten, die die Nischen der Stadt bevölkern, aber in ihrer ‚illegalen‘ Existenz unsichtbar bleiben. Sie erwirtschaften die Privilegien der Mächtigen, aber sie verfügen über keinerlei Rechte, wie der Mord an Ramnivas vermuten lässt.
Trotz des pessimistischen Ausgangs klingt in Uday Prakashs „Die Mauern von Delhi“ doch ein neues Bewusstsein unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern an, subalterne Stimmen und Deutungen von (Staats)Bürgerschaft (nāgarik'tā) in den Erinnerungsdiskurs einzubringen, der um das Jahr 2000 herum v.a. von englischsprachigen Stadtbiographien und Memoiren über Delhi geprägt ist.809 In Büchern wie „Delhi. The first City“810 schaffen die Autorinnen und Autoren – aus Sicht der (ehemaligen) Eliten – ein positives Gegenbild zu gegenwärtigen Entwicklungen (Überbevölkerung, Konsumwahn und eine Unkultur der Neureichen), indem sie die Zeit ihrer Kindheit in den 1950er und 60er Jahren bis in die Zeit vor der Liberalisierung 1991 als vital und authentisch erinnern. Einen Gegenpol zu diesen oftmals nostalgischen Schwärmereien über Delhis glanzvolle Vergangenheit bildet dagegen eine Sammlung mit Tagebucheinträgen, Alltagsskizzen und semi-fiktionalen Geschichten von Jugendlichen, die über ihren Alltag in einer sogenannten informellen Siedlung am Ufer der Yamuna und über die Zerstörung ihres Zuhauses im Zuge der Stadtverschönerungsmaßnahmen für die Commonwealth Games 2010 berichten.811 Die Texte der jungen Erwachsenen stammen ursprünglich aus Blog-Einträgen, die in zwei Schritten eine Metamorphose vom digitalen Experiment zum literarischen Druckerzeugnis durchliefen: Die Hindi-sprachigen Texte aus dem Blog wurden bereits 2002 in dem in Eigenproduktion hergestellten zweisprachigen Band galiyoṃ se/By Lanes, „Durch die Gassen“, abgedruckt. 2010, ein Jahr vor dem hundertsten Geburtstag der Hauptstadt 2011, erschienen diese und andere Texte in englischer Übersetzung als Hardcover-Buch unter dem Titel „Trickster City“. Die Überführung alternativer Vorstellungen und Bilder von Delhi in ein global verfügbares und rezipierbares Druckerzeugnis, das traditionell von Mittel- und Oberschichten bedient wird, spricht dafür, dass auch bildungsferne Milieus am Prozess des mehrschichtigen Einschreibens beteiligt sind: Einmal schreiben die jungen Autorinnen und Autoren ihre „illegale“ Existenz in die physische Stadt ein. Und zweitens schreiben sie sich mit alternativen Erfahrungen in Erinnerungsdiskurse ein, die vor allem die bessere Vergangenheit der Stadt in den Blick nehmen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Thema Bürgerschaft und städtische Zugehörigkeit auch außerhalb der traditionellen literarischen Genres aufgegriffen wird. Zwar ist das keine völlig neue Entwicklung, denken wir an die autobiographischen Zeugnisse von Dalit-Schriftstellern. Sie verarbeiten vor allem die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der daheimgebliebenen Dalit-Gemeinschaft im dörflichen oder kleinstädtischen Umfeld und ihrer eigenen persönlichen Emanzipation in der Großstadt, die ein gewisses Maß an Anonymität und sozialen Aufstieg bietet.812
Im Unterschied zu vielen solcher literarischen Dalit-Zeugnisse bildet ge‍ra‍de das Narrativ der Gemeinschaft die Grundlage für das Selbstbild, das die jungen „Trickster City“-Autorinnen und -‍autoren von sich als vollwertige, „legale“ Städter entwerfen. Mit der eingehenden Beschreibung alltäglicher Praktiken, Tätigkeiten und Rituale, die sie als ganz normale Städter auszeichnen, legitimieren sie ihre Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft unter der Zuhilfenahme einer Denkfigur, die in der Hindi-Stadtliteratur eine lange Geschichte hat: Das Ideal von gesellschaftlicher und nationaler Einheit in der inneren Sphäre.
5. Schlussbetrachtung: Konservative Alternativen. Hindi-Stadtliteratur zwischen Ideal und Kritik der Nation
So viele Texte es über Städte in der Hindi-sprachigen Literatur gibt, so viele Sichtweisen finden sich dort auf die Metropolen Delhi, Mumbai und Kalkutta oder auf kleinere, aber für europäische Verhältnisse ebenso beachtlich große Städte wie Varanasi oder Allahabad. Das Ziel dieser Arbeit war es, einige Schneisen durch das Dickicht literarischer Vorstellungen über diese Metropolen und das Leben in der indischen Großstadt zu schlagen. Welches Resümee lässt sich für die Hindi-Stadtliteratur angesichts der großen Vielzahl an Themen und Perspektiven ziehen? Die Leserinnen und Leser haben in den hier vorgestellten und analysierten Erzählungen unterschiedliche Vorstellungen großstädtischen Lebens in Indien kennengelernt: Die Bombay-Geschichten von Rajendra Awasthi und Jitendra Bhatiya erzählen z.B. davon, wie Menschen angesichts widriger Umstände und sozialer Unterschiede gemeinschaftlich zusammenstehen. Das unkritische Nachahmen „westlicher“ Lebensstile und Verhaltensweisen im wohlstandsgesättigten Mittelschichtmilieu Kalkuttas stößt bei den Protagonistinnen und Protagonisten von Swadesh Bharati und Alka Saraogi auf Ablehnung und veranlasst sie dazu, in der ehemaligen Hauptstadt Britisch Indiens nach dem „Eigenen“ kultureller Identität zu suchen. Delhi, das politische Machtzentrum, ist bei Uday Prakash und Krishna Sobti auch das Zentrum krasser sozialer Gegensätze: Alleine schon mit den prekären Lebensumständen ihrer handelnden Charaktere stellen Prakash und Sobti das Gleichheitsversprechen der indischen Demokratie, das unter anderem von Gandhi und Nehru propagiert wurde, in Frage.
Was die Autorinnen und Autoren vieler Texte, die hier untersucht wurden, eint, ist ein konservatives Ethos, mit dem sie auf das Leben im städtischen Umfeld blicken, auch wenn sich einige von ihnen selbst eher als politisch links verorten dürften. Mit diesem konservativen Ethos ist gemeint, dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihren Geschichten eine Haltung vertreten, die kulturellen und gesellschaftlichen Wandel äußerst kritisch bewertet. Diese Haltung vertreten sie, indem sie die Bedeutung historisch überkommener oder (vermeintlich) traditioneller Überzeugungen und Praktiken betonen und ein Abweichen davon als Ursache von Fehlentwicklungen in der Gegenwart identifizieren.
Vor dem Hintergrund dieser Haltung dienen die indischen Metropolen den Autorinnen und Autoren dann allerdings als Mikrokosmos, in dem Ideen von sozialer Zugehörigkeit und Identität auf verschiedenen Ebenen – vom Viertel, über die Subregion bis hin zur indischen Nation – durchgespielt werden. Hindi-Stadtliteratur eröffnet so zwar einen kritischen Diskursraum für gesellschaftliche Selbstbefragungen. Zugleich stabilisiert sie aber auch gesellschaftliche Identitätsbildungsprozesse im Hindi-Sprachraum, etwa indem sie Gesellschaftsutopien aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfes und aus den Gründerjahren der indischen Republik immer wieder vor Augen ruft und mit der – zumeist düsteren – Gegenwart abgleicht.
Das Mittel dieses Vergleichs ist der Topos der inneren Sphäre, eine Denkfigur, die seit dem 19. Jahrhundert von Autoren wie Bankimchandra Chattopadhyay genutzt wurde, um Forderungen nach einer autochthon-indischen Identität Ausdruck zu verleihen. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren übertragen ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Einheit auf diesen gedachten Raum, in dem Menschen unterschiedlicher sozialer und religiöser Herkunft, Alters und Geschlechts, harmonisch und mit geteilten Überzeugungen (Gleichheit, Solidarität, etc.) zusammenleben. Während die innere Sphäre in utopischen Geschichten oft als eine nach außen hin klar abgrenzbare Entität imaginiert wird, muss ihre Beschaffenheit in vielen Erzählungen mit realistischem Setting erst ausgehandelt werden. Im Dialog zwischen zwei oder mehreren Personen werden Tradition und Moderne, Säkularismus und religiöser Kommunitarismus, Verstädterung und ‚Natürlichkeit‘ gegenübergestellt. Der Topos der inneren Sphäre erweist sich daher in beiden Strängen der Hindi-Stadtliteratur als robuster und anpassungsfähiger Erzähl- und Deutungsrahmen. Literatinnen und Literaten entwerfen mit ihm zu unterschiedlichen Zeiten ihre Wunschbilder von Gesellschaft und thematisieren gesellschaftliche Missstände und kulturelle Überfremdungsängste.
Es liegt nahe, dass Hindi-Stadtliteratur auch ein Medium ist, in dem das „historische Trauma“ kolonialer Erfahrung verarbeitet wird. Besonders deutlich werden in den hier untersuchten Werken Anleihen an den Zeitgeist, etwa die postkoloniale Kapitalismus- und Imperialismuskritik der Zeit des Kalten Krieges, die Fortschrittsskepsis der 1970er und 80er Jahre sowie die Globalisierungskritik der 1990er und 2000er. Aufgrund der besonderen Bedeutung von postkolonialen Denkmustern und -schulen in Indien, als Beispiel seien hier nur die Subaltern Studies genannt, müsste der Großteil der Hindi-Stadtliteratur im Kern als ein alternativer, regionalsprachlicher Strang im postkolonialen Diskurs verstanden werden. Dabei kommt ihr allerdings eine besondere Brückenfunktion zu: Die hier untersuchten Werke verweben in vielen Fällen die neomarxistische Kritik an der herrschenden oder imaginierten Ordnung nahtlos mit konservativen Idealen wie der Erhaltung von Traditionen und nationaler Einigkeit. Die Kritik am „westlichen“ Materialismus wird dabei zur Brücke zwischen progressiven und konservativen Deutungen, die in den meisten Fällen einen „konservativen“ Deutungsrahmen bestätigt, der eine überwiegend pessimistische Sicht auf die moralische Besserung des Menschen durch politischen oder gesellschaftlichen Wandel bekräftigt.
Dabei liegt der Gewinn in der Wahrnehmung der Hindi-Stadtliteratur – sofern er über das rein ästhetische Vergnügen des Lesens einer komplexen und anspielungsreichen Literatur hinausgehen soll – sicher eher darin, die Austauschbeziehungen zwischen den regionalen, nationalen und globalen Schreib- und Denkmustern zu erkennen, zu beschreiben und einzuordnen. In der vorliegenden Arbeit ist das vor allem anhand der Motivanalyse von populären Mythen wie der „trügerischen Stadt“ (māyavī śahar), Figuren wie dem Flaneur und Orten wie der Teebude gelungen. Diese global-lokalen Motive bilden die Schnittstellen zwischen regionalsprachlichen Narrativen, lokalen Erfahrungswelten und nationalen sowie globalen Diskursen.
Im ersten Kapitel wurde am Beispiel von Mumbai (Bombay) aufgezeigt, wie verbreitet bestimmte Vorstellungen von der urbs prima in Indis in ganz unterschiedlichen Textgattungen – akademischen, journalistischen und literarischen – sind. Ein prominentes Beispiel ist die Metapher von der māyavī śahar, womit Mumbais (Bombays) oft weiblich konnotierter Anziehungskraft gemeint ist, die den Einzelnen – oft Einwanderer – zu größtem Glück führen, ihn aber auch verschlingen kann. Solche ambivalenten Bilder kommen in global rezipierten Texten – etwa bei Salman Rushdie – ebenso vor wie in regionalsprachlichen. Jedoch fällt auf, dass regionalsprachliche Stadttexte diese stereotypen Bilder mit den Alltagserfahrungen von aus Kleinstädten oder Dörfern zugezogenen Menschen zuspitzen und dem Mythos vom Aufstieg Beispiele des Scheiterns gegenüberstellen.
Welche Erfahrungen Individuen in der Großstadt machen und wie ihre Erlebnisse literarisch abgebildet werden, waren die Ausgangsfragen des zweiten Kapitels. Die bildliche Darstellung der Stadt ist vor allem in der Lyrik ein beliebtes Mittel, um die Stadt aus der Makroperspektive zu erfassen. Hier zeichnet sich im Untersuchungszeitraum von vierzig Jahren eine interessante Entwicklung ab. Unter dem Einfluss einer (neo)marxistisch geprägten Zivilisationskritik beschreiben etwa Sudip und Gyan Prakash Vivek die Metropole in den 1970er, 80er und bis in die 90er Jahre hinein als unberechenbaren Dämon. Autorinnen und Autoren der späten 1990er und frühen Nullerjahre, wie Harish Nawal und Sunita Jain, vergleichen die Hauptstadt Delhi hingegen durchaus mit einer realen, mehr oder weniger berechenbaren Person: Indiens wirtschaftliche Öffnung und der wachsende Einfluss der Globalisierung schlägt sich in der Hindi-Literatur nicht in einem „Fremdeln“ mit der neu entstehenden, globalisierten Stadtkultur wider. Im Gegenteil: personifizierte Darstellungen deuten eher auf eine sprachliche Aneignung der Metropolen hin, die dem lyrischen Ich bzw. dem Erzähler nun zunehmend als menschliches Gegenüber erscheinen. Literatinnen und Literaten erschreiben sich die Stadt auch, indem sie z.B. Klischees durch vernakulare Narrative brechen, wie es Kashinath Singh in „Mohalla Assi“ tut, der das Bild der heiligen Pilgerstadt Varanasi mit dem ordinären und scheinheiligen Verhalten ihrer Bewohner kontrastiert. Traditionelle Zentren der Alltagskommunikation, wie die Gasse oder der Paan-Laden, dienen in vielen Erählungen dazu, den Einfluss globaler Entwicklungen auf das Leben der Bewohner zu verdeutlichen. Dafür kommt häufig eine Art der Bewusstseinswiedergabe zum Einsatz (erlebte Rede). Durch Figuren wie dem Flaneur oder Tramp (saṛak'māp) wird der Stadtraum im Gehen und Betrachten zugänglich gemacht. Diese randständigen Erzählerfiguren nehmen stellvertretend für Leser und Autor die Funktion eines kritisch distanzierten Beobachters ein, der die Fortschrittlichkeit gegenwärtiger Entwicklungen hinterfragt.
Im dritten Kapitel zeigt eine Gesamtschau der Werke zwischen 1970 und 2000, dass die Auseinandersetzung mit der Stadt gerade in Zeiten sozialen und politischen Wandels häufig an Vorstellungen und Visionen einer besseren oder zumindest anderen Gesellschaft gekoppelt ist. Erneut wählen viele Literatinnen und Literaten Mumbai (Bombay) als Schauplatz von utopischen Erzählungen, die von einer idealen, friedlichen Koexistenz von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters, Herkunft und Religion handeln. Rajendra Awasthi etwa nutzt das Genre, um alternative Vorstellungen von einer revolutionären Lebensweise im Mikrokosmos der Großstadt durchzuspielen. Interessanterweise widersetzen sich viele Texte einer gängigen ideologischen Verortung: Sowohl konservative wie auch (neo)marxistische Alternativen orientieren sich an demselben Gedanken der idealisierten indischen Nation.
Daran anschließend wurden im vierten Kapitel zwei Texte vorgestellt, die Bürgerschaft (nāgarik'tā) als Feld gesellschaftlicher und kultureller Selbstbefragung zu Beginn des 21. Jahrhunderts beleuchten. Trotz der unterschiedlichen Blickwinkel auf Bürgerschaft von innen („Mohalla Assi“ von Kashinath Singh) und außen („Die Mauern von Delhi“ von Uday Prakash) teilen die beiden Erzählungen zwei Gemeinsamkeiten: Einmal ist das die Vorstellung von einer exklusiven Gemeinschaft, deren Mitglieder gleiche Normen und Werte bzw. denselben ökonomischen Status teilen. Die zweite Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Schattenseiten des globalen Kapitalismus aufgezeigt werden: Bei Singh wollen sich die Bewohner des Viertels Assi am liebsten in ihrer (vermeintlich) traditionellen Lebenswelt einkapseln. Prakashs Geschichte veranschaulicht hingegen, wie sich sozio-ökonomische Ungleichheiten im kapitalistischen System verstärken. „Bürgerschaft“ ist bei Singh und Prakash eine Medaille mit zwei Seiten: Je nachdem, auf welche Seite man schaut (und wer erzählt), ist einmal eine Gemeinschaft von Städtern gemeint, die in ihrer politischen Debattenkultur eine engagierte Öffentlichkeit schafft. Ein anderes Mal ist es eine korrupte Elite aus Politikern, Beamten und Intellektuellen, deren Wohlstand von billigen ‚informellen‘ Arbeitskräften ermöglicht wird.
Singh und Prakash sind zwei Autoren, die sich in einer neuen, sprachlich vielschichtigen Weise mit der Konstruiertheit des Eigenen auseinandersetzen. Damit stehen sie auch dafür, dass die Selbstbefragung, die sich bis in die 1990er Jahre vor allem auf Fragen der individuellen und gesellschaftlichen Identität beschränkt, etwa ab Mitte der 1990er Jahre mit der Hindi-Stadtliteratur das Medium dieser Selbstbefragungsprozesse selbst erreicht: Autorinnen und Autoren schreiben ab diesem Zeitpunkt nicht nur (inter)subjektive Erfahrungen in den Stadttext ein, sondern sie erschreiben sich nun auch zunehmend ihre eigene Bedeutung als Interpreten der Textstadt. Indem sie das Verhältnis von Figur, Erzähler und Autor beleuchten und über den Sinn ihres Schaffens und über die Funktion von Literatur nachdenken, vollzieht sich in der Hindi-Stadtliteratur Ende der 1990er Jahre ein linguistic turn ganz eigener Art: eine postmoderne reflexive Wende. Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Sprache: Während vor 1990 noch ein von der Nayī Kahānī beeinflusstes, stilistisch nüchternes Standard-Hindi vorherrscht, kommen in den 1990er Jahren auch andere Register des Hindi zum Einsatz.813 Bei Werken aus dieser Phase der reflexiven Postmoderne ab Ende der 1990er Jahre sind auf einer sprachlich-stilistischen Ebene zwei Trends zu beobachten. Autorinnen und Autoren wie Geetanjali Shree, Sara Rai, Uday Prakash und Kashinath Singh nutzen diverse sprachliche Register des Hindustani, Dialekt, Umgangs- und Vulgärsprache sowie verschachtelte Rahmen- und Binnenhandlungen. Zudem kommen moderne und postmoderne Erzähltechniken wie das flanierende Denken, fragmentiertes Erzählen und Elemente von Magischem Realismus zum Einsatz, die mit ‚einheimischen‘ Erzähl­traditionen verschmelzen können. Ein Grund für diese Wende dürfte mit einem Generationswechsel zu erklären sein: Während die vor 1950 geborenen (größtenteils männlichen) Schriftsteller aus der mittleren und unteren Mittelschicht und eher provinziell-kleinstädtischen Milieus aus dem Punjab, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh oder Bihar stammen, ist bei der nach 1950 geborenen Generation eine deutliche Akademisierung und Professionalisierung vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu beobachten: Alka Saraogi, Geetanjali Shree und Kashinath Singh z.B. sind in Metropolen wie Delhi, Kalkutta oder Allahabad aufgewachsen oder haben dort ihre Ausbildung, in der Regel ein Universitätsstudium (oft bis zur Promotion) absolviert. Die akademische Beschäftigung der Autorinnen und Autoren mit englischer Literatur, Hindi-Sprache und -Literatur sowie Geschichte erklärt das Interesse für die Möglichkeiten der (subalternen) Volks- und Kultursprache Hindi und (post)moderne Erzählweisen gleichermaßen.
Bei dieser Generation fällt auf, dass sie ihre eigene Tätigkeit als Schöpfer der Textstadt reflektieren. Sie verarbeiten „Schreiben“ und „Erzählen“ als sprachliche Bedingungen menschlicher Erkenntnis und Welterfahrung, etwa, indem sie die Figurenbiographie mit der Stadtgeschichte verweben. Das flanierende Denken814 etwa ermöglicht es, dem Leser nicht nur den Stadtraum zugänglich zu machen, sondern auch, biographische und städtische Geschichte(n) anhand von Erinnerungsorten miteinander zu verflechten. Der Stadtspaziergänger schreibt sich mit seinen Gedanken und Erinnerungen in den Stadttext und auch in die Textstadt ein. Die Geschichte der Stadt kann durch den Erzähler be- oder gar umgeschrieben werden. Z.B. schreibt Swadesh Bharati Kalkuttas Kolonialgeschichte in eine Emanzipationserzählung um, in der Kalkutta zum handelnden Subjekt wird, das nicht von den Briten gegründet wurde, sondern sich gewissermaßen selbst erschaffen hat. Oder die Stadt wird als Text beschrieben: Sara Rai vergleicht etwa die Geschichtsträchtigkeit der Stadt Banaras in der Kurzgeschichte „Labyrinth“ mit einer Text-Metapher: „Dieses dichte Gewebe der Stadt: wie eine Seite in einem Geschichtsbuch.‍“815 Der Erzähler schlüpft damit gleichsam in die Rolle eines Historikers, der die Vergangenheit lesen und die Gegenwart deuten kann. Kashinath Singh erhebt das Viertel Assi in einem ironischen Vergleich mit Paninis Grammatik zum unangefochtenen Urtext, während alles andere, die Stadt Banaras wie auch die Welt lediglich Kommentare dazu seien.
Des weiteren beziehen die Erzähler und Protagonisten Stellung zum Schreiben und Erzählen als Kulturtechniken sowie zu ihrer eigenen Rolle als Erzähler bzw. Autor ihrer Geschichten: Kishor Babu, Hauptfigur in „Kalkutta auf Umwegen“, notiert alle Gedanken, die ihm während seiner Streifzüge durch die Stadt in den Sinn kommen, auf Papier.816 Schreiben ist auch ein therapeutisches Mittel, um Hass und Unsicherheit im Körper der Nation entgegenzuwirken. Geetanjali Shrees Charaktere verarbeiten schreibend – literarisch, journalistisch, akademisch – die bedrohlichen Entwicklungen, den Hass und die Gewalt in ihrer Stadt. So unterschiedlich die Motivationen auch sein mögen, Schreiben (und Erzählen) werden als sinnstiftende, gesellschaftsbildende Tätigkeiten wahrgenommen. Zuweilen lassen Protagonisten ihre Geschichte auch von jemand anderem erzählen: Kishor Babu beispielsweise beauftragt einen Erzähler (kathā-lekhak) damit, seine Geschichte so authentisch wie möglich wiederzugeben.817 In „Die Mauern von Delhi“ berichtet Dattatreya von Ramnivas Schicksal, was freilich daran liegt, dass Ramnivas selbst nicht mehr sprechen kann, da er tot ist. Dem underdog wird durch seine Ermordung nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess genommen, sondern auch die Möglichkeit, seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Abgesehen davon ist es fraglich, ob er sie jemals selbst hätte erzählen können, schließlich schwingt auch hier die existentielle Frage mit: „Can the subaltern speak?“818 Denn die externe Fokalisierung (der Erzähler sagt weniger, als die Figur weiß), in welcher der Schluss der Geschichte präsentiert wird, bewirkt eine fast künstlich erscheinende Distanzierung der Hauptfigur von ihren eigenen Erlebnissen und ihrer eigenen Geschichte. Mit dem Einschreiben subalterner Erfahrungen in die Hindi-Stadtliteratur819 erweitern die Autorinnen und Autoren die Frage nach der städtischen Zugehörigkeit um den Aspekt der bürgerschaftlichen Teilhabe. Durch die Einbindung bildungsferner Milieus und subalterner Sichtweisen in der Hindi-Literatur beschränkt sich diese Auseinandersetzung jedoch nicht nur auf die Figurenperspektive wie bei Prakash, sondern schließt auch soziale Schichten ein, die sonst nicht als sprechfähig im Sinne der Literatur gelten, die aber in literarisierten Texten über ihre Erfahrungen berichten, wie etwa im Band „Trickster City“ aus dem Slum-Milieu.
Diesem neuen Bewusstsein für die Möglichkeiten der Sprache und des Schreibens, das sich auch in einigen anderen, hier nicht eigens untersuchten Hindi-Werken niederschlägt,820 liegt gewiss ein neues literarisches Selbstverständnis zugrunde. Dadurch, dass Hindi-Stadtliteratur neben gesellschaftlichen nun auch literarische Selbstbefragungsprozesse anstößt, wirkt sie womöglich als Katalysator für ein neu erwachtes Interesse sowohl an der Kultursprache Hindi als auch an lokaler, regionalsprachlicher Stadtkultur in populären, akademischen und digitalen Medien, wie man es seit ca. 2005 beobachten kann. Gerade in den letzten zehn Jahren lässt sich ein sprunghafter Anstieg von Hindi-sprachigen Foren im Netz beobachten, was wohl auch an der Verfügbarkeit und Verbreitung des Devanagari-Fonts liegt. Erst seit ein paar Jahren sind Wikipedia-Einträge auf Hindi verfügbar; Plattformen wie pustak.org, kavitakosh.org oder hindisamay.com stellen biographische Informationen zu bekannten Autorinnen und Autoren und teilweise auch ganzen Werken online zur Verfügung. Auch die Beschäftigung mit lokaler und regionalsprachlicher Stadtkultur in populärkulturellen Formaten wie dem Youtube-Kanal Being Indian des Comedians Sahil Khattar ist ein Indiz dafür.821 Er fragte 2016 auf seinem Streifzug durch Banaras die Bewohner, was die Stadt besonders mache. Die Antworten der Bewohner lauteten u.a. der Fluss Ganga, das Rauschmittel Bhang, die ortstypische kriminelle Energie (banārasī ṭhag), und Spaß am Leben (mauj-mastī). Khattar wird so zum Flaneur, der Personen und Orte wie eine Teebude besucht, die zentral für die alltägliche Kommunikation in einem Viertel ist, und wo auch Bilder einer Stadt entstehen.
Regionalsprachliche Vorstellungen von Urbanität, Moderne und Wandel, wie die Hindi-Stadtliteratur sie in all ihrer Ambivalenz reflektiert und erzeugt, scheinen im Zeitalter der Globalisierung äußerst wirksam zu bleiben.822 Es spricht jedenfalls viel dafür, dass Hindi-Stadtliteratur, betrachtet man sie in einem größeren ideengeschichtlichen Kontext, Aufschluss über die transkulturellen Netzwerke intellektueller Debatten der letzten drei Jahrzehnte gibt. Mit der Suche nach dem Selbst bildet sie ein Bindeglied zwischen älteren einheimischen Denktraditionen aus der Zeit des Nationalismus und postkolonialen Debatten. Das wird vor allem in der Verflechtung national-konservativer Ideen, wie dem Einheitsgedanken, und der (neo)marxistischen Kapitalismuskritik deutlich. Hindi-Stadtliteratur erweitert diese Debatten um eine regionalsprachliche Lesart, welche die Kontinuitäten zwischen den Kernthemen der Gründerjahre der indischen Republik und postkolonialen Fragestellungen zusammenführt. Damit ist sie beides zugleich: Medium der Kritik an der indischen Gesellschaft und den in ihr waltenden Kräften von enormer Ungleichheit, repressiven sozialen Normen, des globalen Kapitalismus oder schierer Korruption und Gewalt. Sie ist aber auch ein Raum der Selbstvergewisserung für ein Publikum, das nicht restlos in den zweisprachigen Mittelschichten aufgeht und damit ein wichtiges Bindeglied in einem Land mit einer einzigartigen Kultur ist, das den lesenden Teil der Hindi-sprachigen indischen Zivilgesellschaft angesichts starker Fliehkräfte in einem gewissen Maße zusammenhält.
Autorinnen- und Autorenverzeichnis (Hindi)
Hinweis: Die biographischen Angaben zu allen im Fließtext zitierten Autorinnen und Autoren (v.a. Hindi) stammen – neben den einschlägigen gedruckten Quellen wie Originalwerken, Anthologien, Nachschlagewerken – auch aus Online-Literaturforen (hindisamay.com, abhivyakti-hindi.org, kavitakosh.org, pratilipi.com) und Verlags-Websites (insbesondere von Rajkamal Prakashan). Zu manchen Autoren konnten trotz aller Bemühungen keine oder keine aktuellen Informationen etwa zu ihren Lebensdaten oder Geburtsorten ausfindig gemacht werden.
Agrawal, Giriraj Sharan (Hg.) (1944-)
geb. 1944 in Sambhal (heute Uttar Pradesh); vielseitige Publikationstätigkeit seit 1964 (Autor, Hg., Essayist); neben Geschichten verfasste er auch humoristische Glossen und Kinderbücher; Interesse an Hindi Gazals; Tätigkeit als Lektor an der Vardhman Snatakottar Mahavidyalay in Bijnaur; Forschung zu Hindi-Literatur; zahlreiche Auszeichnungen.
Agyeya (Sachchidananda H. Vatsyayan) (1911-1987)
geb. 1911 in Kasia, Kushinagar Dist. (heute Uttar Pradesh), gest. 1987 in Neu-Delhi; 1929 B.Sc. an der Punjab University; 1930-34 Haftstrafe wegen revolutionärer Aktivitäten; diverse Herausgebertätigkeiten (u.a. Sainik); 1941 Kommentator bei All India Radio (AIR); 1943 Militärdienst an der assamesisch-birmanischen Grenze; nach Kriegsende Gründung der Zeitschrift Pratik, 1964 Gründung Times-of-India-Gruppe; diverse Gastprofessuren, u.a. in Berkeley (1966) und Heidelberg (1976), 1971 Professur an der University of Jodhpur; 1978-1980 Chefredakteur Navbharat Times; diverse Auszeichnungen, darunter 1964 Sahitya Akademi Award.
Asthana, Dhirendra (1956-)
geb. 1956 in Merath (Uttar Pradesh); u.a. Tätigkeit für Rajkamal Prakashan und Radha Prakashan sowie Hindi-Literaturzeitschriften, Zeitungen und erstes Mumbai-Stadtmagazin Sabarang; Autor mehrerer Kurzgeschichtenbände, Romane und Dramen; typisch für sein Erzählen sind soziale Probleme wie Ausgrenzung und Marginalisierung, z.B. im Band „Die Leute am Rand“ (Log hāśiye par, 1978); Asthana lebt in Mumbai.
Awasthi, Rajendra (1931-2009)
geb. 1929 in Jyotinagar Garha, Jabalpur Dist. (Madhya Pradesh); seit 1957 publizistische Tätigkeit bei mehreren Zeitungen und Literaturzeitschriften; Autor von mehr als fünfzig Romanen, Geschichten uns Essays; programmatische Romane über moderne Lebensentwürfe in der indischen Metropole (z.B. in Bīmār śahar, 1973, und Bah'tā huā pānī, 1971) und am Leben der Adivasis (Jaṃgal ke phūl, 1969); einige seiner Stücke wurden u.a. ins Französische, Deutsche und Russische übersetzt; Awasthi und seine Werke gehören zum Curriculum von Hindi-Abteilungen indischer Universitäten.
Bakshi, Kamlesh (1931-)
geb. 1931 im Firozpur Dist. (Punjab); ihre Kindheit verbrachte sie in Madhya Pradesh; Ausbildung an der Nagpur University und Hindi Sahitya Sammelan (Allahabad); über hundert veröffentlichte Kurzgeschichten und Romane; Bakshi lebt mit ihrer Familie in Mumbai.
Bharati, Swadesh (1939-)
geb. 1939 in Pratapgarh (heute Uttar Pradesh); Schulausbildung in Allahabad, Studium an der Calcutta University und Annamalai University, Chennai (Tamil Nadu); M.A. in Öffentlicher Verwaltung; erste Gedichte erschienen in Saptak; Hg. der Literaturzeitschrift Rupambara; Hg. von Werken des bengalischen zeitgenöss. Autors Jibanandana Das; Übers. bengalischer Literatur; zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. Sahitya Bhushan des Hindi Sansthan (2001); Bharati lebt in Kalkutta.
Bhatiya, Jitendra (1946-)
geb. 1946 in Pilani (heute Rajasthan); Muttersprache Punjabi; Ph.D. in Chemical Engineering; seit 1968 Publikation von Hindi-Kurzgeschichten, -Romanen und einem -Drama; sein Interesse an den Zusammenhängen zw. Kultur und Technik kommt auch in seinen Texten zum Ausdruck, z.B. Ag'le aṁdhere tak (1998); Bhatiya lebt in Mumbai.
Bismillah, Abdul (1949-)
geb. 1949 bei Allahabad (heute Uttar Pradesh); Literaturstudium in Allahabad; überzeugter Marxist; akademische Tätigkeiten in Polen, Ungarn und der Sowjetunion; seit 1984 Prof. für Hindi-Literatur an der Jamia Millia Islamia University in Delhi; sein berühmtestes Buch, „Das Lied des Webstuhls“ (Jhīnī jhīnī bīnī cadariyā) handelt von der Lebenswelt muslimischer Weberfamilien in Banaras; diverse Auszeichnungen; zahlreiche Reisen ins Ausland.
Chaturvedi, Jagadish (1933-2015)
geb. 1933 in Gwalior (heute Madhya Pradesh), gest. 2015 in Delhi; M.A. in Philosophie; Dozent am Madhav College in Ujjain; Arbeit bei AIR; Deputy Director des Central Hindi Directorate; zu seinen Werken zählen u.a. sieben Erzählbände und der Roman Kanāṭ ples (1999), rege Herausgeberschaft; Übers. von Gedichten ins Hindi; Ehrung u.a. mit Padma Shri.
Chopra, Kamal (1955-)
geb. 1955 in Ludhiana (Punjab); Studium an der Maharishi Dayanand University (Haryana); praktizierender Mediziner und freischaffender Autor; Punjabi-Muttersprachler; drei Kurzgeschichtenbände; Chopra lebt in Delhi.
Dabral, Manglesh (1948-)
geb. 1948 in Kaphalpani, Tihri Garhwal Dist. (heute Uttarakhand); prominenter zeitgenössischer Dichter; lebt seit vielen Jahrzehnten in Delhi; Redakteur der Hindi-Wochenzeitschrift Sahara Samay; Autor mehrerer Gedichtbände; Sahitya Akademi Award u.a. Auszeichnungen; einige Gedichte liegen in dt. Übers. von Lothar Lutze vor. Übers. seiner Gedichte in andere indische und europäische Sprachen; Dabral übersetzte u.a. Bertold Brecht, Pablo Neruda und Ernesto Cardenal ins Hindi.
Dani, Rajendra (1953-)
geb. 1953 in Rajanandgav (heute Chattisgarh); wohnhaft in Jabalpur; Studium mit Abschluss als B.Sc. und M.A. in Geschichte in Jabalpur (Madhya Pradesh); seit 1977 nebenberuflich als Schriftsteller und Kritiker tätig; Veröffentlichung mehrerer Erzählbände, darunter auch der 2000 erschienene Band „Megastadt“ (Mahānagar); hauptberuflich ist Dani für das Electricity Board des Landes Madhya Pradehs tätig.
Dave, Yogendra (k.A.)
Dixit, Jagdambe Prasad (1934-2014)
geb. 1934 in Balaghat (heute Madhya Pradesh); Ausbildung in Unnav (Uttar Pradesh); M.A. in Nagpur (M.P.); nach publizistischer Tätigkeit setzte sich Dixit als dem Maoismus nahestehender Aktivist für die Rechte der Adivasis und Landarbeiter ein; 1970 Verhaftung wegen des Vorwurfs des Landesverrats und der Volksverhetzung; sein Werk umfasst zahlreiche (sozialkritische) Romane und Kurzgeschichten.
Garg, Mridula (1938-)
geb. 1938 in Kalkutta (heute Westbengalen); jüngere Schwester der Hindi-Autorin Manjul Bhagat (1936-98); 1960 M.A. in Wirtschaftswissenschaften an der Delhi School of Economics; 1960-63 Lehrtätigkeit am Jankidevi College (Neu-Delhi); seit 1971 freie Autorin; erste Kurzprosa und Lyrik in englischer Sprache, später veröffentlichte Garg Romane, Theaterstücke und Essays u.a. zu Frauen- und Umweltfragen; eigene Kolumne in India Today; 2013 Sahitya Akademi Award; Übers. ihrer Werke ins Englische und Deutsche; Garg lebt in Delhi.
Gill, Gagan (1959-)
geb. 1959 in Neu-Delhi; M.A. in Englischer Literatur; zehn Jahre als Journalistin tätig, danach als freie Autorin und Übers.; Veröffentlichung von Prosastücken und Gedichten in Hindi; fünf Bände, darunter auch 1994 Dillī kī unīndeṃ („Die Schlaflosen von Delhi“, 2006); ihre Stücke wurden u.a. ins Deutsche übersetzt; Gill lebt in Delhi und Shimla.
Gulzar (Sampooran Sing) (1934-)
geb. 1936 in Dina, Jhelum Dist. (Punjab, heute Pakistan); nach Teilung zieht Familie nach Bombay; populärer Urdu-Dichter und erfolgreicher Filmproduzent (1971-99 Regisseur und Drehbuchautor) und Musiker (seit 1956 Komponist und Sänger von Filmsongs); zahlreiche Gedicht- und Erzählbände in Urdu und Hindi sowie Hg. von Anthologien; Autor von Kinderbüchern; Reisen in UK, USA und Australien; Padma Bhushan (2004) und andere hochkarätige Auszeichnungen; 2009 Preis für den besten Filmsong (Text von „Jai ho!“ in Slumdog Millionaire); Gulzar lebt in Mumbai.
Jahan, Rashid (1905-1953)
geb. 1905 in Aligarh (heute Uttar Pradesh), gest. 1952 in Moskau (Russland); Vertreterin der Progressive Writers’ Association, Feministin und Kommunistin; Studium am Women’s College an der Aligarh Muslim University in Lucknow, das von ihrem progressiven Vater gegründet worden war, der sich für die Bildung muslimischer Mädchen einsetzte; 1921 Wechsel an Isabella Thoburn College in Lucknow; 1932 Veröffentlichung des provokanten Bandes Angāreṃ („Glühende Kohlen“), in dem Jahan Tabuthemen anpackt; 1924 Ausbildung zur Gynäkologin am Lady Harding Medical College in Delhi; med. Dienst beim Provincial Medical Service.
Jain, Nirmala (1932-)
geb. 1932 in Delhi; Schulausbildung und Ausbildung in klassischem Tanz in Delhi; M.A. und Ph.D. in Literaturwissenschaft an der Delhi University; 1956-70 Dozentin am Lady Shriram College, 1970-96 Lehre in der Hindi Abteilung der Delhi University, auch in leitender Funktion; Publikation zahlreicher akademischer Studien (Literaturkritik im 20. Jh., moderne Lyrik etc.), Herausgeberschaften (gesammelte Werke von Mahadevi Verma) und Übers. literaturwiss. Werke u.a. über bengal. Literatur.
Jain, Sudha (1935-2012)
geb. 1935 in Bijnor (heute Uttar Pradesh); gest. 2012; 1958 M.A. in Hindi an der Agra University; Ph.D. an der Punjab University; nach Lehrtätigkeit freischaffende Schriftstellerin; seit 1970er Jahren Publikation von Gedichtbänden, Studien zu Humor in der Hindi-Lyrik (1981), Essays u.a. über den Dichter Surdas (1978); Jain lebte in Haryana.
Jain, Sunita (1941-2017)
geb. 1941 in Ambala (heute Haryana), gest. 2017 in Delhi; M.A. in Englisch und Ph.D. in American English Literature an der State University of New York (USA); Prof. und Leiterin des Dep. of Humanities and Social Sciences der IIT (Delhi); nebenberuflich als Autorin in den Sprachen Hindi und Englisch tätig; mehrere Gedicht- und Erzählbände und Kritiken, ein Roman; Mitarbeit an „Encyclopedia of Post-Colonial Literatures in English“ (1994); diverse Auszeichnungen, u.a. Padma Shri (2004).
Kamleshwar (Prasad Saxena) (1932-2007)
geb. 1932 in Mainpuri (heute Uttar Pradesh); gest. 2007 in Faridabad (bei Delhi); 1956-61 Drehbuchautor für TV- und Kinofilme (in Bombay); Hg. von Literaturzeitschriften wie Nai Kahaniyan (1963-66), Sarika (1966-78) und die Tageszeitschriften Dainik Jagaran (1991-92) und Dainik Bhaskar (1996-2002); Autor vieler einflussreicher Kurzgeschichten (Kamreḍ 1948, Khoī huī diśāēṁ 1963) und Romane (Kit'ne pākistān 1998, engl. Übers. „Partitions“); Auszeichnung mit Padma Bhushan (2005).
Kishor, Giriraj (1937-2020)
geb. 1937 in Muzaffarnagar (heute Uttar Pradesh); gest. 2020 in Delhi; Hindi-Schriftsteller und -Drehbuchautor; pensionierter Leiter des Centre for Creative Writing & Publication an der IIT (Kanpur); Hg. der Hindi-Monatszeitschrift Nirantar; Autor zahlreicher Kurzgeschichtenbände, Romane und Kritiken; diverse Auszeichnungen, u.a. Sahitya Akademi Award (1992) und Padma Bhushan (2007); Übers. seiner Werke ins Deutsche, Engl., Franz. und in mehrere indische Sprachen; Teilnehmer an Hindi World Conference (1995).
Kumbhaj, Rajkumar (1947-)
geb. 1947 im Dorf Sonkachh bei Indore (heute Madhya Pradesh); freiberuflicher Hindi-Dichter, der außerdem gesellschaftlich, politisch und journalistisch aktiv ist; Publikation von vier Gedichtbänden; Übersetzung einiger Gedichte ins Englische; Kumbhaj lebt in Madhya Pradesh.
Kundan, Sanjay (1969-)
geb. 1969 in Patna (Bihar); M.A. in Hindi an der Patna University; Autor von drei Gedichtbänden, einem Kurzgeschichtenband und einem Roman; Hobby-Maler; Übers. seiner Werke in andere ind. Sprachen; Tätigkeit bei der Navbharat Times (Delhi); Kundan lebt in Ghaziabad (Uttar Pradesh).
Manto, Saadat Hasan (1912-1955)
geb. 1912 in Samrala (Punjab), gest. 1955 in Lahore (Pakistan); schon zu Lebzeiten Kultfigur in Künstlerkreisen im Bombay der 1930er und 40er Jahre; Übersetzer von Victor Hugo, Oscar Wilde u. a. ins Urdu; 1934 Studium an Aligarh Muslim University; Mitglied der marxistischen Indian Progressive Writers’ Association (IPWA); 1941 Texter für All India Radio; neben Hörspielen und Drehbüchern Verfasser mehrerer hundert Kurzgeschichten, Essays und Dramen; mehrfach wegen Obszönität angeklagt; 1948 Übersiedlung nach Lahore, Pakistan.
Manu, Prakash (1950-)
geb. 1950 in Shikohabad (Uttar Pradesh); Ausbildung am Agra College, M.Sc. im Fach Physik; 1975 M.A. in Hindi-Literatur; 1980 Forschungsarbeit über Ästhetik in Chayavad-Dichtung an der Kurukshetra University; Arbeit als Lektor und im journalistischen Bereich; zahlreiche Gedicht- und Geschichtenbände; Anthologie über Autor Devendra Satyarthi; literaturgeschichtliche Studien, z.B. zu Kinderliteratur; zahlreiche Auszeichnungen.
Masud, Naiyer (1936-2017)
geb. 1936 in Lucknow (heute Uttar Pradesh); gest. 2017 ebd.; international bekannte Stimme der zeitgenössischen Urdu-Literatur; Prof. für Persisch an Lucknow University; in 1970er Jahren erste fiktionale Stücke; vier Erzählbände und Übers. von Kafka ins Urdu; zwei Bände mit Erzählungen von Masud wurden ins Engl. und andere Sprachen übertragen („Essence of Camphor“, 1998; „The Snake Catcher“, 2005); 2015 erschien Gesamtausgabe „Collected Works of Naiyer Masud“ (Oxford University Press); 2008 Ehrung mit Saraswati Samman.
Mishra, Nilesh (1973-)
geb. 1973 in Kunaura (Uttar Pradesh); Schulausbildung in Nainital (Uttarakhand) und Lucknow, 1993 Abschluss; Studium am Indian Institute of Mass Communication in Delhi. Autor, Songwriter und Drehbuchautor für Bollywoodfilme, ausgezeichneter Journalist und Radiomoderator, Hg. einer Zeitung für ländlichen Raum (Gaon Connection); Mishra ist Autor und Erzähler des beliebten Rundfunkprogramms Yaadom ka IdiotBox (Big FM).
Mithileshwar (1950-)
geb. 1950 im Dorf Baisadih, Bhojpur Dist. (Bihar); Vertreter der Post-60er-Generation, die in der Tradition der Progressive Writers eine stärkere Politisierung der Hindi-Literatur anstrebte; M.A. und Ph.D. in Hindi; Dozent in Hindi-Abteilung des H. D. Jain College in Ara (Bihar); seit 1976 Publikation zahlreicher Erzählbände, Romane und Kinderbücher, Volksmärchen aus Bihar (2008), autobiographische Werke (2010-15), Herausgeberschaften; Yashpal Puruskar und andere Auszeichnungen.
Nagar, Amritlal (1916-1990)
geb. 1916 in Agra (heute Uttar Pradesh), gest. 1990 in Lucknow (Uttar Pradesh); Hindi-Autor, Journalist und Drehbuchautor; Kenner mehrerer indischer Sprachen; 1940-47 Drehbuchautor in Bombay, Kolhapur und Madras, Synchronisation von Filmen aus anderen Sprachen, u.a. Russisch und Tamil, ins Hindi; 1953-56 Dramaturg bei All India Radio (AIR); seitdem freischaffender und höchst produktiver Autor in allen Genres, neben Erzählungen, Romanen und Dramen verfasste Nagar auch satirische Stücke, Biographien und Kinderliteratur; neben Sahitya Akademi Award wurde Nagar mit zahlreichen anderen Auszeichnungen geehrt.
Narain (Narayan), Kunwar (1927-2017)
geb. 1927 in Faizabad (heute Uttar Pradesh); gest. 2017 (Neu-Delhi); promovierter Dichter, Erzähler und Kritiker; Ph.D. in Englischer Literatur; sechs Gedichtbände (Cakravyūh, 1956; In dinoṃ, 2002, u.a.); produktive Kritikertätigkeit; Artikel über Kunst, Kultur, Musik in diversen Hindi- und englischsprachigen Journalen; Übers. von Lyrik ins Hindi; rege Teilnahme an internationalen Literaturevents; Auszeichnungen: Sahitya Akademi Award (1995), Padma Bhushan (2009) u.a.
Nawal, Harish (1947-)
geb. 1947 im Jalandhar Dist. (Punjab); Promotion in Literaturwissenschaft; Journalist und Redakteur bei diversen Tageszeitungen und beim Hörfunk; Dozent für Hindi am Hindu College der Delhi University; Autor mehrerer Bücher, Artikel und TV-Drehbücher; leitender Redakteur der internationalen Literaturzeitschrift Gaganachal; Mitarbeit beim Indian Council of Cultural Relations.
Pathak, Surendra Mohan (1940-)
geb. 1940 in Lahore (Punjab, heutiges Pakistan); erfolgreicher Krimi-Autor; 1947 Umzug der Familie nach Bombay; naturwissenschaftliche Ausbildung (M.A. am MMH College in Ghaziabad); 1964-98 hauptberuflich bei Indian Telephone Industries tätig; nebenberuflich und nach Pensionierung Publikation hunderter Bestsellerkrimis (u.a. Sunil Series, Vimal Series).
Prakash, Suraj (1952-)
geb. 1952 in Dehradun (heute Uttarakhand); Autor mehrerer Erzählbände in Hindi und Gujarati, Satiren und Romane; Übers. aus dem Englischen (George Orwells Animal Farm, u.a. Biographie von Charlie Chaplin und Autobiographien von Charles Darwin und Gandhi); Hg. einer Anthologie mit Mumbai-Geschichten (1999); Tätigkeit im Ausland (UK); sein Werk wurde u.a. mit dem Premchand Katha Samman gewürdigt; Prakash lebt in Mumbai.
Prakash, Uday (1952-)
geb. 1952 in Sitapur, Shahdol Dist. (Madhya Pradesh), lebt in Delhi; einer der populärsten und meist übersetzten Hindi-Gegenwartsautoren im deutschen Sprachraum („Die Mauern von Delhi“ 2015, „Mohandas“ 2013, „Der goldene Gürtel“ 2007 u.a.); Studium der Hindi-Literatur an der Saugar University (M.P.); 1978-80 Assistant Professor an der JNU (Neu-Delhi); danach Mitarbeiter im Kulturamt von Madhya Pradesh; außerdem Journalist bei Times of India, Fernsehproduzent und Redakteur; 2015 gibt Prakash seinen Sahitya Akademi Award aus Protest am unaufgeklärten Mord an dem südindischen Schriftsteller M. M. Kalburgi zurück.
Rani, Vibha (1959-)
geb. 1959 (Geburtsort unbekannt); Theater- und Filmschauspielerin, Schriftstellerin in den Sprachen Maithili und Hindi; zu Beginn ihrer Karriere Rundfunksprecherin in Darbhanga (Bihar); Übers. lyrischer, epischer und dramatischer Stücke ins Maithili; Autorin von u.a. mit Mohan Rakesh Samman ausgezeichneten Erzählungen und Dramen; aktive Bloggerin; gesellschaftliches Engagement für nicht-elitäres Theater, Arbeit mit Gefängnisinsassen.
Rai, Sara (1956-)
geb. 1956 in Allahabad (Uttar Pradesh); mehrsprachige Schriftstellerin, Übersetzerin und Herausgeberin mehrerer Anthologien mit Erzählungen; Studium der englischen Literatur und Geschichte an den Universitäten Allahabad und Neu-Delhi; Interesse an individuellen Lebenswelten; neben zwei eigenen Bänden (1997, 2005) erschien 2010 Debütroman „Das Haus mit den Milanen“ (cīlvālī koṭhī); 2019 Rückert-Preis der Stadt Coburg; Rai lebt in Allahabad.
Rakesh, Mohan (1925-1972)
geb. 1925 in Amritsar (Punjab); gest. 1972 in Delhi; einer der Pioniere der Nayī Kahānī („Neue Erzählung“); Dozent am Elphinstone College (Bombay) und DAV College (Jalandhar); seit 1957 freischaffender Schriftsteller und Hg. von Sarika (Bombay); sechs Kurzgeschichtenbände und zwei Romane (Na ānevālā kal, Andhere band kamre), drei Dramen.
Renu, Phanishwar Nath (1921-1977)
geb. 1921 in Aurahi Hingna, Araria Dist. (Bihar); herausragender Hindi-Literat und politischer Aktivist (ab 1942 Einsatz für Unabhängigkeitskampf, 1950 für nepalesische Revolution); Ausbildung in Biratnagar (Nepal), Studium an Kashi Hindu University bis Zwischenprüfung; Namensgeber des Genre Maila anchal mit seinem Debutroman (1954), in dem dörfliches Leben in abgelegenen Regionen des Landes beschrieben wird; Verfasser eines Memoires über bengalischen Schriftsteller Satinath Bhaduri; zahlreiche Auszeichnungen; aus Protest am Emergency (1975-77) gab er Padma Shree zurück.
Rupra, Manoj (1963-)
geb. 1963 in Durga (heute Chattisgarh); Interesse an Marxismus, Weltliteratur und Theater; für einige Zeit war Rupra im Theaterbereich tätig; später wendete er sich dem Schreiben zu; Autor mehrerer Erzählbände und Romane.
Sahni, Bhisham (1915-2003)
geb. 1915 in Rawalpindi (Punjab, heutiges Pakistan), gest. 2003 in Delhi; Chronist der Teilung Indiens; sein berühmtester Roman „Finsternis“ (Tamas, 1974) wurde als TV-Mehrteiler verfilmt; Studium der englischen Literatur in Lahore, 1958 Ph.D. an der Punjab University (Chandigarh); 1950 Dozent für englische Literatur an der Delhi University; Aktivist und Kommunist; 1957-63 Übersetzer für russische Literatur in Moskau (u.a. Dostojewski und Tolstoi); nach Rückkehr Fortsetzung Lehrtätigkeit am Delhi College; 1965-67 Hg. der Literaturzeitschrift Nayi Kahaniyam; seit 1980 freischaffender Autor.
Saxena, Madhav ‚Arvind‘ (1946-)
geb. 1946 (Geburtsort unbekannt); studierter und praktizierender Wissenschaftler; nebenberuflich als Kurzgeschichtenautor tätig; Gründer und Hg. der Vierteljahrs-Zeitschrift Kathabimb, außerdem langjähriger Hg. einer wiss. Zeitschrift und Autor dreier Bücher zu Technikthemen; Veröffentlichung eigener Erzählbände in Indien und Pakistan.
Saraogi, Alka (1960-)
geb. 1960 in Kalkutta (Westbengalen) in Familie von Marwaris (ursprünglich aus Rajasthan stammende Händlergemeinschaft); Studium und Promotion über den Dichter Raghuvir Sahay (1929-90) an Calcutta University; publizistische Tätigkeit, Artikel in Fachzeitschriften zur Frage der Frauenemanzipation; nach Geburt der zwei Kinder beginnt Saraogi Kurzgeschichten zu schreiben; 1996 erscheint erster Kurzgeschichtenband „Auf der Suche nach einer Geschichte“ (Kahānī kī talāś meṃ); 2001 erhielt sie für den 1998 erschienenen Debutroman „Umweg nach Kalkutta“ (Kalikathā vāyā bāipās) den Sahitya Akademi Award.
Sharma, Nasira (1948-)
geb. 1948 in Allahabad (heute Uttar Pradesh); M.A. in Persisch und Gegenwartsliteratur an der JNU (Neu-Delhi); freie Autorin und Journalistin; sie behandelt in ihren Geschichten und Romanen die muslimische Lebenskultur in Indien; Kennerin des persischen Kulturraums (Übers. moderner pers. Lyrik und Erzählungen), insbesondere der Bereiche Gegenwartsliteratur, Gesellschaft und Politik (Artikel und Interviews); Mitwirkung an TV-Filmreihe über werktätige Frauen; 2016 Sahitya Akademi Award; Sarma lebt in Neu-Delhi.
Sharma, Tejendra (1952-)
geb. 1952 in Jagrao (Punjab); Verfasser von zehn Erzähl- und zwei Gedichtbänden; Herausgeber mehrerer Anthologien mit Stücken von Non-Resident-Indians in Großbritannien; u.a. vom U.P. Hindi Sahitya Sansthan für sein Engagement für Hindi-Literatur im Ausland geehrt; Sarma lebt in Middlesex (UK).
Sharma, Vidya (1941-)
geb. 1941 in Sihana (heute Uttar Pradesh); M.A. in Literaturwissenschaft, Ph.D. an der Delhi University; Lehrtätigkeit an versch. Colleges und Universitäten (u.a. Delhi University); eine mit der radikalen Akavitā āndolan („Bewegung für das Nicht-Gedicht“) verbundene Dichterin, Veröffentlichung eigener Gedichte in versch. Zeitschriften und Anthologien; Mitwirkung an Englisch-Hindi-Wörterbuch; Sarma lebt in Delhi.
Sharma, Yadvendra „Chandra“ (1932-2009)
geb. 1932; gest. 2009 (beide Orte unbekannt); Schauplatz von Sarmas Romanen ist Rajasthan, Interesse an persönlichen Schicksalen und an Sicht von Frauen, ihre inneren Zerrissenheit zwischen Tradition und Emanzipation (Roman Gulāb'ṛī, „Gulabri“, o.J.); Veröffentlichung von Romanen; Herausgeber einer Sammlung mit Volkserzählungen aus Rajasthan (Rāj'sthān kī lokkathāēṁ, 2008).
Shree, Geetanjali (1957-)
geb. 1957 in Mainpuri (Uttar Pradesh); Kindheit an wechselnden Stationen in Nordindien; Studium der neueren Geschichte; Promotion über Premchand und die Rolle indischer Intellektueller im Unabhängigkeitskampf; mehrere Kurzgeschichtenbände, Romane und Theaterstücke, darunter auch die ins Dt. übersetzten Romane „Mai“ (1993/2010) und „Unserer Stadt in jenem Jahr“ (1998/2013); Shree lebt in Delhi.
Singh, Kashinath (1937-)
geb. 1937 in Jiyanpur bei Varanasi (heute Uttar Pradesh); Studium (M.A. 1959) und Promotion (1963) an der BHU in Varanasi; seit 1965 Prof. und Leiter des Hindi Department; seit 1960 verfasst Singh literarische Texte; für den Roman Rehan par ragghu erhielt er 2011 den Sahitya Akademi Award; Singhs Werke wurden u.a. ins Japanische und Koreanische übersetzt, der populäre Banaras-Roman Kāśī kā assī (2002) als „Mohalla Assi“ von Chandraprakash Dwivedi verfilmt; Singh lebt in Varanasi.
Sobti, Krishna (1925-2019)
geb. 1925 in Gujrat (Punjab, heutiges Pakistan); gest. 2019 in Neu-Delhi; Sobtis Sprache galt als innovativ, in radikal knappen Sätzen Texte über die Teilung 1947, Fragilität der indischen Gesellschaft und Generations- und Geschlechterkonflikte (Ai laṛkī, 1999, engl. Übers. „Listen Girl“ 2002); als erste Frau erhielt sie 1980 den Sahitya Akademi Award für ihr Opus Magnum Zindagīnāmah („Die große Erzählung vom Leben“); 2015 gab sie die Auszeichnung aus Protest an Dadri-Lynchmorden und dem M.M. Kalburgi-Mordfall zurück.
Sudip (Gulshan Kumar Arora) (1942-)
geb. 1942 (Ort unbekannt); Lektor für Englisch; 1966-1977 stellvertretender Chefredakteur von Navbharat Times sowie Tätigkeit u.a. bei Times of India Group; Autor hunderter Features sowie von drei Romanen, drei Kurzgeschichtenbänden, Biographien, Gedichtbänden; Übers. von Punjabi-Romanen; Drehbücher für Film und TV.
Sukhbir (Balbir Singh) (1931-2012)
geb. 1931 (abweichend: 1925), (Geburtsort unbekannt); gest. 2012 in Mumbai; Punjabi- und Hindi-Schriftsteller; Kindheit in Punjab, später Umzug der Familie nach Mumbai; Ausbildung in Mumbai; 1958 M.A.-Abschluss am Khalsa College (Amritar); seit 1957 Verfasser zahlreicher Romane, Kurzgeschichten und Gedichte in Punjabi; Sympathisant marxistischer Ideen und ausgeprägtes Interesse an Psychologie; Übers. russischer Bücher ins Punjabi; Tätigkeit als Werbetexter, Journalist, Übersetzer; Herausgeber und College-Lehrer.
Thakur, Jiten (1953-)
geb. 1953 (abweichend: 1955) in Dehradun (heute Uttarakhand); Promotion in Geisteswissenschaften (Hindi); seit späten 1970er Jahren Veröffentlichung von Gedichten, mehreren Kurzgeschichtenbänden und Romanen u.a. Texten in Hindi und Dogri; Übersetzungen aus anderen indischen und nicht-indischen Sprachen; Tätigkeit im State Transport Department von Uttarakhand.
Tyagi, Bhimsen (1935-)
geb. 1935 in Jarwal, Bahraich Dist. (heute Uttar Pradesh); Kindheit in Muzzafarnagar (U.P.); Redakteur bei mehreren Zeitschriften in Allahabad und Delhi; Programmberater bei TV-Filmproduktion in Mumbai. Verfasser sozialkritischer Kurzgeschichten und Romane (z.B. Naṃgā śahar, o.A.)
Vaid, Krishna Baldev (1927-2020)
geb. 1927 in Dinga (Punjab), gest. 2020 in New York City; emeritierter Prof. der Potsdam State University New York sowie Delhi University; neben literarischer Tätigkeit auch wissenschaftliche Beschäftigung mit Henry James und Übersetzertätigkeit (u.a. Samuel Beckett und Jean Racine ins Hindi); Interesse an gesellschaftspolitischen Themen; in „Steps in the Darkness“ (Us'kā bacpan) schrieb er über die Teilung seiner Heimat und den darauffolgenden Massenexodus; sein jüngster Roman erschien 2012 in dt. Übers. unter dem Titel „Tagebuch eines Dienstmädchens“ (Naukrānī kī ḍāyrī). Vaid lebte in den USA und Indien.
Vanshi, Baldev (1938-2017)
geb. in Multan (Punjab, heutiges Pakistan); Ph.D. in Hindi; Dichter, Kritiker, Verleger und Herausgeber; mehrere Studien zu Dichterheiligen (Mirabai, Dadu, Kabir, Malukdas) und Hindi-Lyrik; Hg. der Anthologie „Dillī Ṭī Hauz“ (2009) mit Lebenserinnerungen bekannter Hindi-Schriftsteller und Personen des öffentlichen Lebens; zahlreiche Auszeichnungen und Auslandsreisen.
Varma, Pramila (1958-)
geb. 1958 in Jabalpur (Madhya Pradesh); Ph.D.; frühere Tätigkeit als Feuilleton-Redakteurin bei einer Zeitung; jahrzehntelange literarische, akademische und soziale Beschäftigung mit der Stellung der Frau in Indien, mehrere Erzählbände und Romane; Herausgeberin von Gedicht- und Erzählbänden; Autobiographie Apne āine meṃ, o.A.; Auszeichnung der Maharashtra Hindi Akademi; lebt in Aurangabad (Maharashtra).
Varma, Sudha (1956-)
geb. 1956 (Geburtsort unbekannt); Studium der Politikwissenschaft in Patna (Bihar), Mitte der 1980er Jahre Umzug nach Bombay; schreibt und publiziert in den Sprachen Hindi und Bhojpuri; Veröffentlichung von Kurzgeschichten in diversen Zeitschriften; ein Erzählband Tiriyā galelī ja'ise nūn ho (Bhojpuri).
Verma (Varma), Nirmal (1929-2005)
geb. 1929 in Shimla (heute Himachal Pradesh), gest. 2005 in Neu-Delhi; namhafter und mit dem Jnanpith Award (1999), Sahitya Akademi Award (1985) und Padma Bhushan (2002) ausgezeichneter Hindi-Literat und Vertreter der Nayī Kahānī; Studium der Geschichte am St. Stephen’s College in Delhi, Lehre an der Delhi University; 1959-70 Aufenthalte in Europa, (u.a. Prag, Übersetzung von Milan Kunderas Werk ins Hindi); 1972 Rückkehr nach Indien, Fortsetzung seiner schriftstellerischen Tätigkeit (Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Reiseberichte und Essays).
Vivek, Gyanprakash (1949-)
geb. 1949 in Bahadurgarh (heute Haryana); Autor mehrerer Erzähl-, Gazal- und Gedichtbände und Romane; Interesse an sozialmoralischen Fragestellungen, z.B. Jugendarbeitslosigkeit oder Probleme und Existenzängste moderner Frauen (z.B. im Roman Astitva, „Existenz“, 2005); Vivek lebt in Hariyana.
Yadav, Rajendra (1929-2013)
geb. 1929 in Agra (heute Uttar Pradesh), gest. 2013 in Neu-Delhi; namhafter Verleger und neben Mohan Rakesh und Kamleshwar wichtigster Vertreter der Nayī Kahānī; nach M.A. (Hindi) an der Agra University 1951 schriftstellerische Tätigkeit; 1947 erschien seine erste Kurzgeschichte in Zeitschrift Karmyogī; im Roman Sārā ākāś ("Der ganze Himmel", 1951) stellte Yadav traditionelle Rollenbilder in Frage; Übers. russ. Autoren ins Hindi; 1986 (Wieder)Herausgeberschaft der von Premchand gegründeten Literaturzeitschrift Hams, wo er bis zu seinem Tod als Verleger und Chefredakteur arbeitete; Engagement für marginalisierte Gruppen wie Dalits; Yadav wurde u.a. mit dem Sahitya Akademi Award geehrt.
Danksagung
Auch wenn eine Dissertation viel einsame Schreibtischarbeit bedeutet, wäre dieses Buch ohne die Begegnungen und den Austausch mit Menschen in Indien und Deutschland nicht denkbar gewesen. Allen voran danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Hans Harder (Universität Heidelberg) für sein aufmerksames Zuhören, seine richtungsweisende Kritik und sein Vertrauen, dass eigenverantwortliche Forschung große (Denk)Freiräume benötigt. Frau Prof. Dr. Christiane Brosius (Universität Heidelberg) hat sich mit wertvollen Hinweisen verdient gemacht, die dazu beigetragen haben, meine Analyse noch stärker in einen breiteren kulturwissenschaftlichen Kontext einzubetten. Allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Doktorandenkolloquium der Abteilung für Neusprachliche Südasienstudien am Südasieninstitut der Universität Heidelberg gebührt mein Dank für Diskussionen und Kritik. Besonders Dr. Max Stille sei für horizonterweiternde Gespräche und Anmerkungen zu einzelnen Kapiteln gedankt. Auf meinen Recherchereisen traf ich viele Menschen, mit denen ich über meine Ideen sprechen konnte und wichtige Anregungen erhielt: Prof. Harish Trivedi (Delhi University), Prof. Alok Rai (Allahabad University), Ravikant Sharma (Neu-Delhi), Sara Rai (Allahabad) und Kavita Kumar (Varanasi). Zu großem Dank bin ich den Mitarbeiterinen und Mitarbeitern des Centre for the Studies of Developing Societies (CSDS) in Neu-Delhi verpflichtet, da sie mir mehrere produktive Aufenthalte in ihrer großartig sortierten und sehr gastfreundlichen Bibliothek ermöglichten. Auch in den folgenden Institutionen wurde ich bei meiner Literatursuche tatkräftig unterstützt: das Nehru Memorial Museum and Library (Neu-Delhi), das Hindi Department der Delhi University, die Nagari Pracharini Sabha (Allahabad, Uttar Pradesh), die National Library of India (Kalkutta, Westbengalen), sowie die Central Library der Banaras Hindu University (Varanasi, U.P.). Anil Varma vom Hindi Book Center in Neu-Delhi hat mit viel Geduld und Zeit meine Bücherlisten abgearbeitet. Ich erinnere mich außerdem gerne an die Gespräche mit Rakesh Kumar Singh vom Harmony Book Shop in Varanasi und Ram Advani († 2016) in Lucknow zurück. Prof. Dr. Heinz Werner Wessler (Universität Uppsala) verdanke ich den Hinweis auf Kashinath Singhs Roman: Ein Besuch des im Buch so zentralen Teeladens, bei dem ich in die Welt von Singhs Protagonisten eintauchen konnte, gehören zu den einprägsamsten Erlebnissen meiner Recherchereisen. Des Weiteren sei meine studentische Hilfskraft in der Abteilung für Südasienstudien der Universität Bonn, Nurşah Aktaş, an dieser Stelle für ihre Unterstützung bei der Überprüfung des Autorenverzeichnisses gelobt. Vielmals danken möchte ich Nicole Merkel-Hilf und Elizaveta Ilves sowie Frank Krabbes und Daniela Jakob (UB Heidelberg) für ihre engagierte und umsichtige Begleitung des Buchprojekts bei CrossAsia-eBooks. Ein besonders schönes Geschenk hat mir der Künstler Vikram Nayak (Neu-Delhi) gemacht: Er fertigte für das Cover dieses Buchs kurzerhand eine neue Tuschzeichnung an, nachdem das ursprüngliche Bild verloren gegangen war, das ich in einem Band von Nirmala Jain entdeckt hatte und das wie kein anderes die Idee hinter meiner Arbeit illustrierte.
Die Promotion überhaupt möglich gemacht hat mir das Evangelische Studienwerk Villigst mit einem dreijährigen Stipendium und vielen bereichernden und motivierenden Begegnungen mit anderen Villigsterinnen und Villigstern. Nicht zuletzt möchte ich ausdrücklich meiner Familie und meinen Freunden, Herrn Otto-Paul Hessel, sowie dem Recover Fight Club Neuss dafür danken, dass sie mir in schwierigen Zeiten den Rücken gestärkt haben. Mehr noch gilt dieser Dank meinem Mann Arne Hordt, der in allen Wetterlagen zu mir steht und mich immer wieder darin bestärkt hat, dieses Buch zu schreiben. Sein kritisches Lektorat hat außerdem sehr dazu beigetragen, meine Argumente in der Einleitung und im Schlussteil noch klarer herauszustellen. Dank dir, Lilith, dass du uns jeden Tag daran erinnerst, wie fantastisch es ist, die Welt zu entdecken.
Bibliographie
1. Primärliteratur (in Original und Übersetzung)823
a) Hindi/Urdu
Ajneya (1986): Unterwegs zum Fluß. Erzählungen, Betrachtungen, Gedichte, 2 Briefe. Hg. & Übers. Lothar Lutze & Rainer Kimmig. Freiburg: Mersch.
Allahs indischer Garten. Ein Lesebuch der Urdu-Literatur (1989). Hg. & Übers. Ursula Rothen-Dubs. In: Neue Indische Bibliothek. Frauenfeld: Waldgut.
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Āṃgiras, Indu Kāṃt (2003b): Śahar aur jaṃgal. In: Indu Kāṃt Āṃgiras (2003): Śahar aur jaṃgal. Naī Dillī: Sārthak Prakāśan, S. 20-21.
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Asthāna, Dhīrendra (2007/o.J.): Ap'nī duniyā. In: Mahānagar kī kahāniyāṁ (2007), 47-57.
Avasthī, Rājendra (1969): Jaṃgal ke phūl. Naī Dillī: A.E.S.
Avasthī, Rājendra (1979): Būcī ṭeres. Dillī: Parāga Prakāśana.
Avasthī, Rājendra (2010/1973): Bīmār śahar. Naī Dillī: Hindī Buk Seṃṭar.
Bakhshi, Kamleś (2011/1984): Wie eine zurückrollende Welle – lauṭ'tī lahar. In: Hannelore Lötzke (Hg.) (2011): Hindi-Großstadtgeschichten. (Zweisprachiger Bd.) Aus dem Hindi übers. von Caty Sood. Hamburg: Buske, S. 14-27.
Baṃbaī-1 (1999). Hg. Sūraj Prakāś. Dillī: Prakāśan Saṃsthān.
Bhār'tī, Svadeś (2005a/1985): Nagar bandhu. Kolkattā: Āśiyān Pres.
Bhār'tī, Svadeś (2005b/1979): Kal'kattā o kal'kattā. Kolkata: Asian Press.
Bhāṭiyā, Jitendra (1999/1998): Ag'le aṁdhere tak. In: Baṃbaī-1 (1999), S. 79-104.
Bhāṭiyā, Jitendra (2002a/1987): Pratyakṣdarśī. In: Jitendra Bhāṭiyā (2002): Śahar-dar-śahar. Mumbaī: Vasundh'rā Prakāśan, S. 91-208.
Bhāṭiyā, Jitendra (2002b/1977): Samay-sīmānt. In: Jitendra Bhāṭiyā (2002): Śahar-dar-śahar. Mumbaī: Vasundh'rā Prakāśan, S. 5-89.
Bismillah, Abdul (1997/1992): The Song of the Loom. Aus dem Hindi übers. von Rashmi Govind. Chennai u.a.: Macmillan.
Brahmātmaj, Ajay (1999/1995): Phenil khil'khilāhaṭ. In: Baṃbaī-1 (1999), S. 18-30.
Caṃdar, Kriṣṇa (1956): Bāvan patte. Bambaī: Vorā aiṃḍ kaṃpanī
Caturvedī, Jag'dīś (2009/1999): Kanā̆ṭ ples. Naī Dillī: Rādhākr̥ṣṇa Prakāśan.
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3. Nachschlagewerke, Lexika und kritische Textausgaben
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4. Zeitungs- und Online-Artikel, Videos
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Vajpeyi, Ananya (2017): Eine homogene Gesellschaft bedroht die Demokratie. In: Süddeutsche Zeitung, 22.05.2017. Online unter: http://www.sueddeutsche.de/...3516975?reduced=true [letzter Zugriff am 4.7.2020].
Khattar, Sunil (2016): #Being Indian. The Banarasi Hindu (25.4.2016): https://www.youtube.com/watch?v=rAD6ChfCw7k oder „Banaras on Being Banarasi“ (25.3.2016): https://www.youtube.com/watch?v=uUzOMVUZntk [letzter Zugriff am 4.7.2020].
5. Filme
Aawaara (1951), R.K. Films, Dir. Raj Kapoor.
Ab Dilli door nahim (1957), R.K. Films, Dir. Amar Kapoor.
Jaagte Raho (1956), R.K. Films, Dir. Amit Maitra & Sombhu Mitra.
Mahanagar (1963), R.D. Banshal & Co., Dir. Satyajit Ray.
Raju ban gaya gentleman (1992), Sippy Films, Dir. Aziz Mirza.
Shree 420 (1955), R.K. Films, Dir. Raj Kapoor.
Slumdog Millionaire (2008), Fox Searchlight Pictures, Dir. Danny Boyle.
Tramp (1915), Essanay Studios General Film Company, Dir. Charlie Chaplin.
Anmerkungen zur Umschrift und Schreibweise von Namen
Einleitung: Zur Bedeutung der Stadt in der modernen Hindi-Literatur
1. Stadt schreiben. Populäre Bilder und Narrative von der indischen Megastadt (am Beispiel von Mumbai/Bombay)
1.1 Mumbai/Bombay: die indische Megastadt par excellence
1.2 Urbs Prima in Indis:88 Mumbai als Sinnbild des modernen Indiens
1.3 Traum und Illusion: Die māyāvī śahar
1.4 Die Stadt im Kali Yuga: Urbanisierung und Werteverfall
1.5 Zwischenfazit
2. Dämon, Gasse, Flaneur. Literarische Erkundungen des Stadtraums
2.1 Literarische Topographien
2.2 Stadtkörper
2.3 Schauplätze
2.4 Figuren- und Erzählperspektiven
2.5 Zwischenfazit
3. Urbane Utopien zwischen nationalem Einheitsideal und postkolonialer Kritik (1970-2000)
3.1 Gescheiterte Moderne? Hindi-Stadtliteratur als kritischer Diskursraum
3.2 Im Dschungel der Großstadt: Zivilisationskritische Erzählungen
3.3 (Alb)Traum Bombay: Utopische Erzählungen
3.4 Stadtschreiber der Nation: Auf der Suche nach dem postkolonialen Selbst
3.5 Zwischenfazit
4. Von Bürgern und Fremden: Städtische Zugehörigkeit und Identität (seit 2000)
4.1 nāgarik'tā: Eine begriffsgeschichtliche Annäherung
4.2 Innensichten auf Bürgerschaft: Banaras (Varanasi)
4.3 Außensichten auf Bürgerschaft: Delhi
4.4 Zwischenfazit
5. Schlussbetrachtung: Konservative Alternativen. Hindi-Stadtliteratur zwischen Ideal und Kritik der Nation
Autorinnen- und Autorenverzeichnis (Hindi)
Danksagung
Bibliographie
1. Primärliteratur (in Original und Übersetzung)823
2. Sekundärliteratur und Quellen
3. Nachschlagewerke, Lexika und kritische Textausgaben
4. Zeitungs- und Online-Artikel, Videos
5. Filme