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Mythos und Moloch. Die Metropole in der modernen Hindi-Literatur (ca. 1970-2010)
20 Nov 2020
1. Stadt schreiben. Populäre Bilder und Narrative von der indischen Megastadt (am Beispiel von Mumbai/Bombay)
1.1 Mumbai/Bombay: die indische Megastadt par excellence
Ein bis heute populärer Bollywood-Klassiker, Raj Kapoors Shree 420 (1955), drückt die Janusköpfigkeit Bombays, das 1995 in Mumbai umbenannt wurde, in einer Allegorie aus: Maya, die den sprichwörtlichen Lug und Trug im Namen trägt, verführt den ebenso mittellosen wie unbedarften Neuankömmling Raj mit ihrem ruchlosen Charme und dem verlockenden Angebot, in der feinen Gesellschaft und unter falschem Namen, Raja von Piplinagar, beim Glücksspiel ganz groß herauszukommen. Maya, genau wie der ganze Glanz und Luxus, der sie umgibt, entpuppt sich als unberechenbare, erbarmungslose ,Hure des Systems‘. Ihr Gegenpart ist die ehrliche und anständige Vidya („Wissen“), deren Liebe Raj um Haaresbreite verspielt, bis er schließlich den Wert eines aufrichtigen Lebenswandels erkennt und in einem genialen Coup den betrügerischen Geschäftsmann Seth Sonachand überführt und damit dutzende ehrliche Arbeiter von der Straße vor einem Betrug ungeahnten Ausmaßes bewahrt. Nun, was macht diesen alten Hut der indischen Filmgeschichte interessant? Die janusköpfige Stadt und andere Narrative aus Raj Kapoors Filmen haben mit ihrer Bildsprache den Mythos Bombay entscheidend geprägt.70 Nicht nur begegnet uns Bombay bzw. Mumbai auch heute noch in verweiblichter Form bei indo-englischen Autoren wie Salman Rushdie, wie im Folgenden zu sehen sein wird.71 Der Topos der māyāvī śahar, der mit dem Konzept von der Illusion (māyā) der sichtbaren Welt klassische philosophische Traditionen auf die trügerische Zauberstadt überträgt,72 bildet die Grundierung für populäre, auch global verbreitete Bombay-Sujets.73
Das Gegensatzpaar „Mythos und Moloch“74 gehört zum festen Repertoire, aus dem Reportagen, Filme oder Artikel über Mumbai (Bombay) schöpfen und auch unsere ‚westliche‘ Wahrnehmung dieser Stadt prägen.75 Filme wie Slumdog Millionaire (2008) tragen dazu bei, dass sich bestimmte Bilder von dieser janusköpfigen Stadt verfestigen, und zu einer Art Label oder Image gerinnen, wobei der englische Begriff, umfassender als der deutsche, sowohl den Modus der Darstellung als auch den der Wahrnehmung und Vorstellung einschließt. Die Linguisten George Lakoff und der Philosoph Mark Johnson haben in „Leben in Metaphern“ darauf hingewiesen, dass Metaphern nicht nur ein sprachliches Phänomen sind, sondern unser „alltägliches Konzeptsystem“ durchdringen, das unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln strukturiert.76 Genauso tragen populäre Topoi, also Denkfiguren, Sprachbilder oder Allgemeinplätze,77 entscheidend zur Wahrnehmung und Konstruktion von Wirklichkeit bei.
Wenn Texte über die Stadt die Stadt selbst (mit-) kreieren, dann findet das „Schreiben“ von Stadt auf verschiedenen Reflexions- und Abstraktionsebenen statt, angefangen bei akademischen Diskursen bis hin zu populären Debatten. Ziel dieses Kapitels ist es aufzuzeigen, dass populäre Bilder und Narrative die unterschiedlichsten Ebenen der Beschäftigung mit der indischen Megastadt in Texten durchdringen: Populäre Bilder „sickern“ durch alle Textgenres und Repräsentationsschichten. Dieses Kapitel untersucht stichprobenartig die Verbreitung und Ausformung von stereotypen Darstellungen von Mumbai (Bombay) in unterschiedlichen Textgattungen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten. Der Zugang, der hier gewählt wird, kann mit einer Probebohrung verglichen werden, die dem Zweck dienen soll, schichtweise die unterschiedlichen Textsorten zu sondieren, in denen die indische Textstadt konstruiert wird.78 Die erste Schicht repräsentiert Interessenschwerpunkte in der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der indischen Megastadt. Dazu zählen deutsch- und englischsprachige Studien über indo-englische Romane sowie populärwissenschaftliche Bücher. In Indien entstandene und publizierte Stadtbiographien und Essays über Mumbai (Bombay) bilden die zweite Schicht. Die dritte Schicht markiert den Übergang von anglophonen zu regionalsprachlichen Texten mit Großstadtbezug. Paratexte, also Vorworte zu Studien über Hindi-Stadtromane und zu Anthologien mit Großstadtgeschichten, bilden die Brücke zwischen alltagsweltlichen Vorstellungen und der literarischen Repräsentation. In allen Schichten herrscht, unabhängig vom Genre, eine erstaunlich große Durchlässigkeit für populäre Bilder.
Bertrachtet man diesen Prozess einmal „von unten“, wird der Einfluss lokaler Sprachbilder und Redeweisen in der globalen Bildproduktion sichtbar. Nicht nur erzeugen etwa Journalistinnen und Journalisten den kosmopolitischen Ruf von Mumbai (Bombay), indem sie eine geistige Verwandtschaft zu New York herstellen. Ein Beispiel ist der Geo-Artikel „Bombay. Die Stadtneurotiker“,79 der Woody Allens Filmklassiker Annie Hall (dt. Titel: Der Stadtneurotiker) aus dem Jahr 1977 zitiert. Umgekehrt zitieren sie auch ‚lokale‘ Bilder wie das der māyavī śahar, was so viel wie „Traumstadt“ oder auch „Stadt der Illusion“ bedeutet. Die urbs prima in Indis empfiehlt sich deshalb als exemplarischer Untersuchungsgegenstand, da ihre Popularität weit über nationale Grenzen ausstrahlt. Aus der Beschäftigung mit Mumbai (Bombay) ist ein umfangreiches Textkorpus hervorgegangen, das es ermöglicht, globale und lokale Bilder miteinander zu vergleichen.
Wenn die Kategorien von „global“ und „lokal“ als Bezugssystem zu Hilfe genommen werden, geht damit zumeist eine oben-unten-Hierarchisierung einher. Das Vorurteil, regionalsprachliche Literatur bleibe in ihrer Entstehung und Rezeption nur auf lokale, traditionelle Lebensbereiche beschränkt, wohingegen englischsprachige Literatur globaler Natur sei,80 leitet sich von einer globozentristischen Auffassung her. Diese gründet auf der Gegenüberstellung von einem transterritorialen space of flows und fixen Orten (places): „Das Lokale als Effekt des Globalen zu imaginieren, heißt, ‚Ort‘ als Produkt externer Beziehungen zu denken. Für diese Deutung gilt: Orte (das Lokale) verfügen über keinerlei kontextgenerierendes Potenzial, denn alles was zählt, ereignet sich irgendwo anders.‍“81 In Abgrenzung zu universalisierenden Globalisierungstheorien, welche die Ähnlichkeiten von Megastädten und global cities hervorheben,82 hat sich Anfang der 2000er Jahre rund um die Konzepte des städtischen Habitus bzw. Charakters83 und der „städtischen Eigenlogik“84 in der soziologischen Stadtforschung eine neue Stoßrichtung durchgesetzt. Martina Löws Kategorie der städtischen Eigenlogik verbindet gewissermaßen das Stadtbild mit dem urbanen Ethos: Die Stadt ist in ihren lokal verankerten praxeologischen Strukturen (Eigenlogik) und ihren ortsspezifischen Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (Doxa, Habitus) als auch in ihrem überregionalen Bezugsrahmen „ein sehr spezifisches räumliches Strukturprinzip“.85 Die städtische Eigenlogik bilde „ein Ensemble zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, wodurch sich Städte zu spezifischen Sinnprovenienzen verdichten.‍“86 Diese Sinnprovenienzen nehmen verschiedene „Ausdrucksgestalten“87 an. Zu diesen zählen die materielle Kultur genauso wie Redeweisen von Besuchern und Bewohnern, oder Texte, aus denen sich Rückschlüsse auf lokale Wahrnehmungen und Vorstellungen bis hin zur emotionalen Besetzung einer Stadt ziehen lassen.
Das bedeutet, dass populäre Topoi von und Narrative über Mumbai (Bombay) nicht nur gewissermaßen von oben nach unten – um noch einmal im Bild globozentrischer Deutung zu bleiben – durchsickern, sondern dass sich dieser Prozess auch andersherum, also bottom-up, vollzieht. Zwar gebrauchen alle Autorinnen und Autoren dieselben Sprachbilder, jedoch gewinnen diese global kursierenden Images – nicht zuletzt durch die Anbindung an ortsspezifische Wahrnehmungsmuster und individuelle Erfahrungen – an Kontrast und Kontur, je weiter wir uns der regionalsprachlichen Textebene nähern.
1.2 Urbs Prima in Indis:88 Mumbai als Sinnbild des modernen Indiens
Narrative über Mumbai (Bombay) als Sinnbild des modernen Indiens, aber auch als verrucht-legendärer Hort der Prostitution, kriminellen Machenschaften und des Drogenhandels treten ganz unverhüllt, selbst in den Titeln populärwissenschaftlicher und akademischer Publikationen zutage, wie das Beispiel „Mafia Queens of Mumbai: Stories of Women from the Ganglands“ nahelegt.89 Dabei überlappen sich die alltagssprachlichen Bedeutungen von „Modernität“ und „Moderne“. Das ist einmal die Vorstellung von der jüngeren Entwicklung Mumbais hin zu einer fortschrittlichen, wirtschaftlich starken Weltklassestadt, die in derselben Liga wie New York, Singapur oder Shanghai spielt.90 Zum anderen impliziert „Moderne“ die Gegensätzlichkeiten, die eine Megastadt ausmachen: Reichtum und Armut, Finanzsektor und Slum, Arbeitsplätze und Überbevölkerung, soziale Vielfalt und religiöse Konflikte. Und tatsächlich erzählt Mumbais Geschichte viel über das Nach- und Nebeneinander unterschiedlichster Einflüsse: Das Archipel, Heimat der Koli-Fischer, wurde von Hindu- und Moghul-Dynastien beherrscht, bis der Sultan von Gujarat es im 16. Jahrhundert an Portugal abtrat. Bis heute ist strittig, ob sich der Name Bombay vom portugiesischen buan bahia („guter Hafen“) oder vom Namen der lokalen Gottheit Mumba Ai ableitet. 1661 pachtete die East India Company die Inseln, nachdem sie als Teil der Mitgift für die Hochzeit der portugiesischen Prinzessin Catharina mit dem Thronfolger Charles II. in britische Hände übergegangen waren. Von da an stieg Bombay zu einem wichtigen Handelszentrum für den Baumwoll- und Opiumhandel der East India Company auf.91 Das industrielle und demographische Wachstum beförderte jedoch auch soziale Ausgrenzungen, die vor allem die zugezogene Marathen-Bevölkerung zu spüren bekamen, die im 19. Jahrhundert vor Hungersnöten aus dem Hinterland geflohen war.92 Meera Kosambi belegt, dass die Maratha-Migranten die Stadt vor allem als parasitären Ausbeuter sahen, der eine Gefahr für Reinheit und Tradition darstellte.93 Die Identifikation des modernen Indiens mit der kosmopolitischen Metropole geht laut Vinay Dharwadkar auf die Zeit nach der Unabhängigkeit zurück.94 Die 1950er und 60er Jahre sind auch die Zeit, an der sich z.B. auch Salman Rushdies Ideal vom „Bombay classique“ orientiert und das von kosmpopolitischem Flair, Toleranz und Chic geprägt war (wiewohl dieser kosmopolitische Lebensstil vor allem den Eliten vorbehalten war).95 Dieses Ideal vom multikulturellen Mumbai (Bombay) scheint nach wie vor die narrative Darstellung wie auch die populäre Wahrnehmung der Stadt v.a. in englischsprachigen Stadtbiographien wesentlich zu beeinflussen. Die historische Quelle, auf die Meera Kosambi verweist, macht aber auch deutlich, dass regionalsprachliche Bombay-Darstellungen das zerstörerische Potential der Großstadt für die gesellschaftliche Ordnung aus der Sicht von Migranten thematisieren. Dass dieser Narrativstrang bis heute äußerst lebendig ist, beweisen auch jüngere (Para-)Texte in Hindi, die von einem solchen zivilisationskritischen Ethos geprägt sind, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird.
Orientiert man sich jedoch zunächst einmal an dem oben erwähnten Bild der multikulturellen, modernen Metropole in anglophonen Texten, so stellt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler zeitgenössische Mumbai-Romane vor, die sie zur „neuen Weltliteratur“ zählt. Dazu gehören Kiran Nagarkars „Ravan und Eddie“ (1994), Suketu Mehtas „Bombay Maximum City“ (2004), Altaf Tyrewalas „No God in Sight“ (2005) und Jeet Thayils „Narcopolis“ (2012). Löffler zitiert eingangs zum Kapitel „Bombay/Mumbai – Der Moloch der Zukunft“ Doug Saunders „Arrival City“, in dem die indische Metropole als „die am stärksten multikulturell orientierte Stadt der Welt“96 bezeichnet wird. Auch in der Besprechung der Bücher stützt sie sich auf die literarischen Vorlagen aus den Romanen und Stadtchroniken, wenn sie Mumbai eingangs als „zwar chaotische, aber einzigartig tolerante, polyglotte und kosmopolitische Mega-City“ vorstellt.97 Aufschlussreich ist, dass die Autorin neben Themen wie „Kriminalität, Polizei-Korruption, Sex-Business und Filmwelt“98, die etwa für Suketu Mehtas „Maximum City“ zentral sind, zahlreiche Körpermetaphern zum Einsatz bringt. Sie spricht etwa vom „toleranten säkularen Habitus“,99 von der „einzigartigen Dynamik und Energie dieses Stadtkörpers“,100 und konstatiert: „[d]er reisende Reporter Mehta senkt seine Sonde tief in den Körper der Stadt und nimmt Stichproben.‍“101
Mit der metaphorischen Sprache bezweckt Sigrid Löffler gewiss, die Leserinnen und Leser auf unterhaltsame und anspruchsvolle Weise mit dieser Sparte der Weltliteratur vertraut zu machen. Einer Literaturkritikerin sei es außerdem unbenommen, Literatur mit literarischer Sprache zu erzählen. Dennoch wirft die oft unreflektierte Wiedergabe von Stadtbildern und -narrativen in Kombination mit der Bezeichnung der besprochenen Werke als „globale Literatur“102 vor dem Hintergrund dieser Untersuchung Fragen auf. Was bedeutet „global“ in Bezug auf die indo-englische Literatur? Inwieweit mögen auch populäre Vorstellungen aus der „lokalen“, regionalsprachlichen Sphäre eine Rolle spielen, oder umgekehrt Stadttexte in Hindi ganz ähnliche Bilder von Mumbai (Bombay) als der ‚kosmopolitischsten‘ indischen Metropole produzieren? Wie zu sehen sein wird, nimmt der Einsatz von Körpermetaphern zu, je weiter wir uns lokalen Vorstellungswelten bzw. „dominante[n] lokale[n] Sinnkontexte[n]“103 nähern. Bereits in anglophonen Stadtbiographien (city biographies) und Essay-Sammlungen (city writings) über Mumbai sind Körpermetaphern häufig anzutreffen.
Die beiden Stränge, die die Darstellung der indischen Megastadt, allen voran Mumbai, in den journalistischen und populären Medien in den letzten drei Jahrzehnten gekennzeichnet haben, lassen sich ansatzweise auch in der akademischen Beschäftigung nachweisen. Einerseits untersuchen kulturwissenschaftliche Studien, die den Global Studies nahestehen, die Einflüsse von Modernisierung und Globalisierung auf die Kultur der (englischsprachigen) urbanen Mittelklasse, etwa in den Publikationen „Popular Culture in a Globalised India“ und „Globalisation and the Middle Classes in India: The Social and Cultural Impact of Neoliberal Reforms“.104 Ein beliebtes Untersuchungsfeld urbaner Mittelklassekultur stellt dabei das Bollywood-Kino dar.105 Auf der anderen Seite werden großstädtische Slums, informelle Lebens- und Arbeitsbedingungen und Kriminalität aus einer lokalen, subalternen Perspektive analysiert, wie zum Beispiel in Vinit Mukhijas Studie über squatter Siedlungen in Mumbai.106 Darunter befinden sich auch einige Untersuchungen aus dem Bereich der Gender und Queer Studies, zum Beispiel „Why Loiter? Women and Risk on Mumbai Streets“.107 In beiden Fällen wird deutlich, wie stark verbreitet „Etiketten“ von Mumbai (Bombay) in der akademischen Beschäftigung sind, auch dann, wenn sie einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, wie es der Fall beim zuletzt genannten Titel ist.
Auch literaturwissenschaftliche Publikationen, die sich mit englischsprachigen Romanen beschäftigen, reflektieren widersprüchliche Bilder von Mumbai (Bombay). Teils werden diese Topoi und Narrative dekonstruiert, wie anhand eines Aufsatzes von Thomas Kullmann über „Rushdies Bombay“ nachvollzogen werden kann, teils werden diese aber auch in der Interpretation der Werke übernommen. Kullmann zitiert in der Einleitung seines Aufsatzes einen Reisebericht des englischen Journalisten G.W. Stevens, in dem neben den Kontrasten auch der Traumcharakter der Stadt heraufbeschworen wird.108 In einer kurzen Überblicksbeschreibung, die von drei Photographien begleitet ist, welche unter anderem das Gateway of India und das Taj Hotel zeigen, bietet Kullmann einen Blick auf die Metropole aus der Sicht des heutigen Besuchers, wobei dieser Blick durch markante Bilder, wie die prominente Postkartenansicht des Gateway of India, gelenkt wird. Der Autor erwähnt auch die „Vielfalt der Religionen Bombays“ und „die Unterschiede im Charakter einer Straße oder eines Viertels“.109 Schnell kommt er auf Rushdies literarische Beschäftigung mit der Stadt zu sprechen: „Besucher sind also mit eben jener Situation konfrontiert, die auch das große Thema der Romane Salman Rushdies ist: die chaotische Vielfalt Bombays, das Nebeneinander der Kulturen, die fortdauernde Bedeutung der Geschichte, die Schwierigkeiten, ihr zu entkommen.‍“110
Insbesondere das Bild von der multikulturellen Stadt und ihrer magischen Anziehungskraft sind gängige Topoi in verschiedenen Hindi-sprachigen Textgattungen. Thomas Kullmann verfolgt jedoch einen bestimmten Zweck, wenn er diese bekannten Zuschreibungen abruft. Im Folgenden weist er nach, wie viel Phantasie in Rushdies Bombay steckt, und entlarvt damit so manche Ortsbeschreibung als imaginär, wie hier in „Midnight’s Children“:
Rushdie nennt hier wohl einige Namen zuviel: Nachdem der Schulbus vom Marine Drive nach links abbiegt, fährt er sicher an Churchgate Station vorbei, in Richtung Flora Fountain im ‘old Fort district’, kaum jedoch an den abseits gelegenen Victoria Terminus und Crawford Market. Rushdie schmuggelt diese berühmten Namen offensichtlich wegen der Vielfalt der Bezüge ein, die sich mit ihnen verbinden […].111
Zum einen weist Kullmann darauf hin, dass diese Vorstellungen einen „reichhaltigen und konfliktträchtigen historischen und politischen Hintergrund“112 haben, wonach Rushdie in der Tradition modernistischer Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie James Joyce steht. Zum anderen stellt er fest, dass Rushdies Erzählungen vor allem in einer „mythisch-paradiesische[n] Welt“113 angesiedelt seien. Kullmann identifiziert Rushdies Bombay als konstruierte Welt zwischen Utopie und Dystopie114 und schlussfolgert, dass die Stadt selbst der Protagonist bzw. die Aussage des Romans sei, was aus mehreren Zitaten aus „The Ground Beneath Her Feet“ (2000) und „The Moor’s Last Sigh“ (1995) hervorgehe, z.B.: „Anyway, Bombay isn’t India. The British built her and the Parsis gave her her character.‍“115 Hier sei auf ein kleines Detail auf der Ebene des fiktionalen Textes hingewiesen: Das Pronomen „her“, das in der deutschen Übersetzung als „die Stadt“116 erscheint, verrät Einiges über die lokalen Einflüsse beim Weltschriftsteller Rushdie. Es bezieht sich nämlich auf den femininen Genus des Nomen baṃbaī bzw. mumbaī in Hindi und anderen indischen Neusprachen.117 Solche regionalsprachliche Einflüsse oder, in Martina Löws Gebrauch, „dominante lokale Sinnkontexte“118 sind ein Merkmal von Rushdies „chutneyfiziertem“ Sprachstil.119 Bemerkenswert ist, dass Rushdie in seinen Romanen selbst schon den erzählerischen, bildhaften Charakter der Metropole aufgreift:
Bombay was central, had been so from the moment of its creation: the bastard child of a Portuguese-English wedding, and yet the most Indian of Indian cities. In Bombay all Indias met and merged. In Bombay, too, all-India met what-was-not-India, what came across the black water to flow into our veins. […] It was an ocean of stories; we were all its narrators, and everybody talked at once.120
Dieses Zitat verdeutlicht einmal mehr, dass gängige Vorstellungen wie das der hybriden, multikulturellen Stadt Bombay in Romanen aufgegriffen oder gar erschaffen werden.121 Es verwundert daher zunächst, dass Claudia Anderson in ihrer Studie zu englischsprachigen Bombay-Romanen argumentiert: „Just as a city means different things to different people, writers always produce their own poetic transformations of a particular urban space. Therefore, if we compare various representations of the same city, it is impossible to single out a specific image and to convey a stable, coherent, and universal impression.‍“122
Dabei übersieht Anderson, dass sowohl sie selbst als auch die Autorinnen und Autoren der Romane mit Zuschreibungen wie dem „Pluralismus der Formen und der großen Vielfalt von Erfahrung“,123 der hybriden Natur und dem Mikrokosmos Indiens124 das zentrale Image von Mumbai (Bombay) als weltoffene und kosmopolitische Stadt zitieren. Sie weist ganz richtig darauf hin, dass die Mythos-Bildung bei Rushdie mit Niedergangsnarrativen durchzogen ist. Anderson bezeichnet diesen pessimistischen Tenor, wie er auch in Rohinton Mistrys (geb. 1952) „A Fine Balance“ (1997) zutage trete, als „decosmopolitanisation“.125 Allerdings diene dieser Tenor den Autoren dazu, sich der Chancen und Werte zu vergewissern, für die Mumbai (Bombay) stehe: „Although Rushdie, Mistry and Irving have fairly different backgrounds, this study has made transparent that they all believe in the same ideal: a secular, democratic society where different cultures mix and mingle in a creative way.”126
Kontrastierungen wie diese sind auch ein gebräuchliches rhetorisches Mittel in Stadtbiographien. Bereits der Begriff „Stadtbiographie“ (city biography) suggeriert, Städte bestünden nicht bloß aus leblosem Stein, Beton und Glas, sondern seien mit einer Persönlichkeit ausgestattet. Spricht daraus ein neues urbanes Ethos oder der Versuch gegen den schlechten Ruf des asiatischen Molochs anzuarbeiten, oder ist es gar Ausdruck für einen erstarkenden Bürgersinn? Martina Löw sieht zumindest in der wachsenden Anzahl von (europäischen) Stadtbiographien „ein beredtes Beispiel für die Suche nach dem Eigenen der jeweiligen Stadt.‍“127
In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist der Buchmarkt von (vorwiegend englischsprachigen) Publikationen regelrecht überschwemmt worden, in denen die Metropolen Indiens, darunter Delhi, Kalkutta, Mumbai, Allahabad, Chennai und Bangalore, in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.128 Die Mehrzahl dieser Bücher kann grob in zwei Gruppen unterteilt werden, das sind zum einen Stadtbiographien (city biographies) und zum anderen Memoiren- und Essaysammlungen (city writings). Der Sammelbegriff city writings ist hier an die Penguin-Reihe „Writings on…“ angelehnt und bezeichnet Anthologien und Reihen,129 die vor allem semi-literarische Texte in einer Länge zwischen vier bis fünfzehn Seiten enthalten, die als autobiographische Essays, Memoiren, Alltagsskizzen und Reiseberichte klassifiziert werden können, oder Anteile des jeweiligen Genres in sich vereinen. Da einige Anthologien auch (fiktive) Kurzprosa mit einschließen, verschwimmen zuweilen die Grenzen zwischen Essay-Sammlungen (city writings), Stadtbiographien (city biographies) und Stadtliteratur (city fiction/literature).
Während die Memoiren- und Essaysammlungen keiner einheitlichen Bezeichnung folgen, ist „Stadtbiographie“ im Englischen ein etablierter Begriff, unter den Bücher fallen, die die Geschichte einer Stadt aus einer populärwissenschaftlichen, journalistischen oder kulturgeschichtlichen Perspektive erzählen. Es steht zu vermuten, dass diese Bücher vor allem das einheimische (englischsprachige) Lesepublikum, aber auch Non Resident Indians und Touristen erreichen wollen, die ein kompaktes Interesse an der Stadtgeschichte haben. Vor dem Hintergrund des aktuellen Booms von Stadtbiographien stellt sich die Frage, was diese Bücher so erfolgreich macht, und welche formalen Kriterien und Erzählstrukturen zugrunde liegen, nach denen sie aufgebaut sind. Anhand Naresh Fernandes Bombay-Biographie wird deutlich, inwiefern dieses Genre populäre Bilder und Narrative zum Einsatz bringt, und als „Wahrheiten“ deklariert: „Among the truths Bombay holds to be self-evident is the fact that it is cosmopolitan.”130 Diese Wahrnehmung entspricht dem, was Martina Löw in ihrer Definition von städtischer Eigenlogik als unhinterfragte Gewissheit beschreibt: „Die Eigenlogik einer Stadt als unhinterfragte Gewissheit über diese Stadt findet sich in unterschiedlichen Ausdrucksgestalten und kann insofern anhand verschiedener Themenfelder rekonstruiert werden, zum Beispiel in den Redeweisen von Besuchern und Bewohnern, in graphischen Bildern dieser Stadt, in Schriftquellen über sie (vom Roman bis zur Reisereportage)“.131 Stadtbiographien sind wohl das Medium par excellence, um Bilder und Narrative von der Stadt zu formulieren. Durch Persönlichkeitszuschreibungen übertragen sie körperbezogene Konzepte auf die Stadt.132
Dabei hängt der Zugang und die Erzählweise stark vom Hintergrund des Autors ab. Während Naresh Fernandes in „City Adrift“ (2013) einen journalistischen Zugang mit autobiographischer Komponente wählt, fußt Gyan Prakashs „Mumbai Fables“ (2010) auf extensiver historischer Quellenrecherche. Trotz des wissenschaftlichen Niveaus macht es sich Prakash zur Aufgabe, seine Chronik unterhaltsam zu erzählen, wie schon die assoziationsreichen Kapitelüberschriften „The Colonial Gothic“ oder „Avanger on the Street“ andeuten. Dazu gehört es auch, die Stadtgeschichte, in Anekdoten verpackt, aus einer mehr oder minder autobiographischen Perspektive zu vermitteln, was der Bezeichnung Stadtbiographie eine weitere Ebene der Personalisierung hinzufügt. Diese wird zum einen durch den Autor hergestellt, der eine Verbindung zwischen seiner Biographie und der Stadthistorie herstellt, als auch durch das Stadt-(Lebe-)Wesen, das verschiedene Entwicklungsstadien durchläuft.
Fernandes Schilderung leistet durch diese Metaphorisierung einen Beitrag zur „kulturellen Realitätsbildung“.133 Zwar ruft auch er, ähnlich wie Löffler, einleitend zu jedem Kapitel utopische und dystopische Vorstellungen auf.134 Jedoch bindet er sie viel stärker an die Lebenswelt und -erfahrungen einer in Indien lebenden (englischsprachigen) Leserschaft an. Er beschreibt Mumbai (Bombay) als eine Stadt, die zwar jedem offen stehe, jedoch gleichzeitig unter der massiven Überbevölkerung leide. Das erste Kapitel, in dem er auf die überlastete Infrastruktur zu sprechen kommt, beginnt beispielsweise mit einem starken Untergangsmoment: „For months, the front pages had warned of imminent doom.‍“135 Im Zusammenhang mit Bombays Bedeutung als Umschlagplatz für den Baumwoll- und Opiumhandel sowie für das Banken- und Schiffswesen im 19. und 20. Jahrhundert kommt Fernandes auf die einzigartige Lage der Stadt zu sprechen. Die Tatsache, dass Bombay, ähnlich wie Rom, aber statt auf Hügeln auf sieben Inseln erbaut wurde, bildet das Fundament für eine „vom Tellerwäscher zum Millionär“-Erzählung, die auf die Stadt selbst gemünzt ist: „The laborious process of knitting together the islands over the centuries not only made travel across the settlement less cumbersome, it altered Bombay’s fate, transforming a malarial swamp into a global city.‍“136
Jedoch scheint die Fassade dieser Erfolgsstory, folgt man Fernandes Ausführungen, angesichts der vielfältigen Probleme der Stadt zu bröckeln. Die exklusiven Wohnkomplexe (gated communities), laut Autor Ausdruck eines extremen Individualismus, stünden in krassem Widerspruch zu den inadäquaten Wohnsituationen der überwiegenden Bevölkerung.137 Das Gateway of India versinnbildliche die Botschaft, alle Siedler, „no matter how tired or huddled, are welcome“.138 Vor diesem Hintergrund kritisiert Fernandes die Stadtmodernisierung (re-development) als Mittel der Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit vom Stadtraum.139 In einer zugespitzten Formulierung wird der Bezug zwischen dem Geist von Bombay hergestellt, symbolisiert durch das Gateway of India und durch Geisterhäuser, die den Modernisierungsplänen zum Opfer fallen: „The preposterous property rates have even squeezed out Bombay’s ghosts. The plots occupied by haunted houses have proved too valuable for them to be abandoned to the spirits.‍“140
Bereits hier zeigt sich der Einfluss von Narrativen aus regionalsprachlichen Erzählschichten. Baufällige kolonialzeitliche Häuser (banglows), in denen Gespenster hausen, ist ein in regionalsprachlichen Filmen und literarischen Werken häufig anzutreffender Topos. In dem erfolgreichen bengalischen Film Bhooter Bhabhishyat („Die Zukunft der Geister/Vergangenheit“) aus dem Jahr 2012 wird z.B. von einem Banglow in Kalkutta erzählt, das abgerissen werden soll, um auf dem Gelände eine Shopping Mall zu errichten. Allerdings hat in der Zwischenzeit eine illustre Gruppe von Gespenstern aus unterschiedlichen Epochen Schutz in dem leerstehenden Haus gesucht und verteidigt es mit Gruseltricks gegen geldgierige Immobilienhaie. Einen ähnlichen Stellenwert als ‚authentisches‘ kulturelles Symbol141 bzw. als Erinnerungsort schreiben zeitgenössische Hindi- und Urdu-Schriftsteller alten herrschaftlichen Häusern, banglows und havelis, zu. Naiyer Masud (1936-2017) und Sara Rai (geb. 1956) verwandeln verwilderte Grundstücke und leerstehende Häuser zu Schauplätzen, die eine Verbindung zur Vergangenheit der Stadt herstellen.142 Das historische Erbe der Stadt wird bei Rai etwa als kostbares Gut geschätzt, das vor kurzsichtiger Modernisierungswut bewahrt werden muss.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass Literatur, Film und Stadtbiographien als Medien kollektiver, ja auch nostalgischer, Erinnerung dienen und zugleich ein urbanes Ethos vermitteln. So richtet sich Fernandes Ausblick in der Form eines Appells an alle Bewohner der Stadt: „The re-islanding of Mumbai does not bode well for its future. A city can flourish only if it has common ground to make common cause.‍“143 Den Prozess einer erneuten Verinselung, den er der Stadt attestiert, führt Fernandes auf ein verloren gegangenes demokratisches Bewusstsein, verarmte soziale Werte und die „pay-as-you-go“-Einstellung der Mittelklassen zurück.144 Mehr noch, seine Kritik dürfte auch als Seitenhieb auf den Vision-Mumbai Bericht von McKinsey (2003) verstanden werden, in dem empfohlen wird, „islands of excellence in world-class housing and commercial complexes“145 zu schaffen.
Warum macht Fernandes diese Metapher zum zentralen Topoi für seine Stadtbiographie? Fernandes Einschätzung ist Teil einer Deutung, die viele Autorinnen und Autoren von Stadtbiographien und city writings über Mumbai (Bombay) gleichermaßen teilen. Sie basiert auf der Erzählung vom Niedergang der urbs prima in Indis, die mit einem Set von Attributen einhergeht, über die weitgehend Übereinstimmung zu herrschen scheint. In der Anthologie „Mumbai. City of Dreams“ bezeichnet Harsh Sethi die Metropole als Bastion der Zivilgesellschaft, wenn er von „civic consciousness and pride“146 spricht. Ein weiteres stereotypes Bild ist das der „most vibrant, multicultural and welcoming city“.147 Die Nachnamen der Autorinnen und Autoren des Bandes unterstreichen zusätzlich den pluralistischen Charakter der Stadt, womit der Personalisierung Mumbais eine weitere Bedeutungsebene hinzugefügt wird. Sie haben wie de Cunha katholisch-portugiesische Wurzeln, gehören der Gemeinschaft der Parsen an (Guzdan und Godrej), stammen – dem Namen nach zu urteilen – ursprünglich aus Gujarat oder dem Punjab (Mehta, Sethi), oder sind gar britische Staatsbürger (Loyd).
Andererseits diagnostizieren viele der Autorinnen und Autoren eben diesem „spirit of Bombay“ einen schleichenden Verfall:
It is not as if the ‘decline’ of Bombay, now Mumbai – the growth of crime and resultant insecurity; an increasing ghettoization of different communities […]; the erosion of its once-famed tolerance and welcoming spirit – can be traced only primarily to the rise of the Shiv Sena. Many other factors – demographic, economic and political – have come together to transform this metropolis, possibly to the worse.148
Interessanterweise werden diese pessimistischen Beobachtungen rhetorisch in das Appell an die Bürger Mumbais überführt, für die Werte der Stadt einzutreten: „[a]ll Mumbaikars […] have a responsibility to preserve and nourish Bombay’s big heart.‍“149
Auch Fernandes Stadtbiographie und der Mumbai-Band aus der von Malvika Singh herausgegebenen Seminar-Reihe zitieren populäre Topoi und Narrative wie das vom Untergang des kosmopolitischen Stadtcharakters. Das ambivalente Stadtbild Mumbais (Bombays) erfährt in den Stadtbiographien allerdings eine stärkere inhaltliche Ausfüllung. Die Janusköpfigkeit der Metropole gewinnt an Kontur, Allgemeinplätze wie die der Überbevölkerung werden stärker in lebensweltliche Zusammenhänge gestellt und historisch erklärt (Insellage und Landgewinnungsmaßnahmen, Stadtmodernisierung und Grundstücksspekulation). Die Rede vom Niedergang der kosmopolitischen Stadtkultur gewinnt in regionalsprachlichen Textschichten mit der Einbindung mythologischer Untergangsszenarien (kali yuga), urbanen Legenden aus der Populärkultur, wie sie in Filmen, Liedern und Gedichten vorkommen, als auch individuellen Erfahrungen vom Aufstieg und Scheitern in der Stadt der Illusion (māyāvī śahar) weiter an Kontur und Schärfe.
1.3 Traum und Illusion: Die māyāvī śahar
In einer weiteren sprachlichen und geographischen Engführung des Blicks auf die Darstellung Mumbais (Bombays) werden nun nicht-fiktionale Begleittexte in Hindi vorgestellt.150 Ihre Einbindung ist für diese Untersuchung deshalb gewinnbringend, da Paratexte erstens die Brücke zwischen ‚global‘ kursierenden und ‚lokalen‘, regionalsprachlichen Stadtbildern in Hindi-Texten bilden, sie zweitens individuelle Erlebnisse und Erfahrungen des Autors mit Stadt und Urbanität sowie kulturelle Wertediskurse abbilden und drittens Auskunft darüber geben, wie die Schriftsteller das Verhältnis von Literatur und Welt bewerten, das heißt, welche Funktion sie der fiktionalen Darstellung von Stadt zuschreiben: „Als Textrahmen stehen sie zwischen einem Text und seinem Umfeld und vermitteln zwischen beiden. Paratexte verraten viel über Herkunft, Intention, Leserschaft und Kontext der Texte, die sie umrahmen, und erschließen allgemein gesprochen ihre soziale Dimension.‍“151
Barsati Kahar, der selbst 1975 nach Bombay gekommen war und am dortigen Khalsa College Hindi unterrichtet hat, erläutert im Vorwort zu seiner Doktorarbeit, das mit „Was noch zu sagen wäre“152 überschrieben ist, sein persönliches Interesse an der Darstellung Bombays bzw. Mumbais im Hindi-Roman seit 1950 (bis 1999). Voller Zuneigung sagt er über seine Wahlheimat: „Diese Stadt hat mich nicht nur zum Kämpfen animiert, sondern ich habe in der Zeit hier auch die Kunst zu leben gelernt.‍“153 Die Motivation für seine literarische Beschäftigung mit der Stadt begründet Kahar mit der Dankbarkeit, die er Bombay gegenüber hegt: „Ich habe in dieser Großstadt bei Null angefangen. Aber kraft unermüdlichen Ringens und Mühens habe ich es doch weit gebracht. Ich bin dieser Stadt, die mir jede mögliche Hilfe bot und mich angespornt hat, weiterzukommen, zu großem Dank verpflichtet.‍“154
Der Autor macht sowohl im Vorwort als auch im ersten Kapitel keinen Hehl aus seiner grundweg positiven Einstellung gegenüber Bombay. Allerdings soll diese ‚authentische‘ Perspektive nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem kosmopolitischen Bekenntnis um ein verbreitetes Selbstverständnis vieler Bombayiten handelt, die sich als Bestandteil einer weltoffenen und grundliberalen Metropole ansehen, wie es z. B. schon in der oben vorgestellten Stadtbiographie von Naresh Fernandes angeklungen ist. Kahar beginnt das erste Kapitel155 mit dem Satz: „Mumbai gilt nicht nur als eine bedeutende Stadt in Indien, sondern auf der ganzen Welt.‍“156 Neben dieser schon bekannten Zuschreibung der „Weltstadt“ bedient Kahar weitere gängige Stereotype, die auch in Essaysammlungen und Stadtbiographien über Bombay vorkommen. Besonders prominent ist das Bild von der Stadt der Träume, die jeden Fremden willkommen heißt, und in der jeder es schaffen kann, sofern er sich redlich bemüht: „Mumbai ist die Stadt der Träume, die Stadt, um Träume zu verwirklichen. Hier hätscheln die Menschen täglich ihre Träume, sie werden verwirklicht, aber auch zerstört.‍“157 Das Aufstiegsnarrativ taucht, wie schon zuvor in personalisierter Form im Vorwort, in verallgemeinerter Form noch mehrmals im ersten Kapitel auf: „Diese Stadt vereinigt alles in sich, egal ob eigen oder fremd. Wer sich redlich bemüht, wird es hier eines Tages ganz weit bringen. Bummelfritzen und Faulenzer schmeißt die Stadt hochkant raus.‍“158 Bemerkenswert ist die verkörperte Darstellung Mumbais. Bei Kahar tritt deutlich und direkt die Vorstellung vom städtischen Habitus zutage. Natürlich helfen solche klischeehaften, teils schockierenden Zuschreibungen, das besondere „Wesen“ dieser Metropole zu erfassen. Kahar nimmt im Folgenden noch Feinjustierungen vor und beschreibt auch die dunklen Seiten Mumbais in aller Anschaulichkeit. Wie auch die Stadtbiographen spricht Kahar den Wohnungsmangel, die Umweltverpestung und „asoziale Tendenzen“ (asāmājik gatividhiyāṁ) an, die innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte, also seit Beginn der 1990er, drastisch zugenommen hätten. Er bezieht sich weiter auf die Auswüchse der Kriminalität (Bandenkriege, Mord und Raubüberfälle) und gewaltsame Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen (communal riots), die in das kollektive Gedächtnis eingegangen seien.159 Dennoch gibt Kahar trotz dieser Entwicklungen seine optimistische Haltung gegenüber Mumbai zu keiner Zeit auf: „Mumbais Schönheit ist mit einem Flicken Hässlichkeit versehen.‍“160 Mit anderen Worten: Der Kern der Stadt ist gut, nur hier und da ist der Lack ab – ein Zeichen für Echtheit. Auch an dieser Stelle zitiert er ein gebräuchliches Markenzeichen, das auf der Kontrastierung von Mythos und Moloch gründet: „Auf der einen Seite riesige Hochhäuser und auf der anderen der größte Slum [der Welt], Dharavi. Trotzdem tut das der Anziehung, die Mumbai auf die Menschen ausübt, keinen Abbruch. Jeder einzelne hier liebt Mumbai, ja liebt es von ganzem Herzen.‍“161
Im Folgenden fasst Kahar dieses erste einleitende Kapitel zusammen: „Basierend auf der vorliegenden kritischen Erörterung kann man feststellen, dass der Charakter dieser Metropole im Vergleich zu anderen Metropolen mannigfaltig war und ist. In den anderen Megastädten (Kalkutta, Chennai, Delhi) tritt die lokale Färbung stärker hervor.‍“162 In den anderen Großstädten, so Kahar, dominiere ein typischer Lokalkolorit (sthānik raṃg), anhand dessen man die jeweilige Stadt identifizieren könne. In Mumbai hingegen beschwerten sich die „einheimischen“ Marathi-Sprecher darüber, dass die kulturellen Einflüsse aus den anderen indischen Bundesstaaten ihre eigene Kultur dominierten.163 Der Autor spitzt das auf die folgende „Wahrheit“ (sac) zu: „Es ist nicht zu leugnen: Mumbai hat den Charakter eines Klein-Indiens.‍“164
Auch gewinnt die ambivalente Wahrnehmung der māyāvī śahar, der trügerischen Stadt, auf der regionalsprachlichen Ebene weiter an Kontur und Schärfe. Ähnlich wie in dem anfangs zitierten Kapoor-Film Shree 420 tritt Bombay mal als fürsorgliche, mal als grausame Geliebte in Erscheinung, deren Anziehungskraft über die harte Realität hinwegtäuscht. Diese Vorstellung ist eine interessante Mischung aus zwei regionalsprachlichen Traditionen: Während māyā (Skt. „Schein“) ein Konzept aus der indischen Philosophie zitiert, das unter anderem den Schein der materiellen Welt (prakr̥ti) bezeichnet, ist die grausame, ablehnende Geliebte ein wiederkehrendes Motiv in der Urdu-Lyrik des 18. Jahrhunderts.165 Allgemeinplätze wie die māyāvī śahar werden in den Hindi-sprachigen Vorworten mit Einzelschicksalen illustriert. Im Vorwort zur Anthologie „Bombay-1“ (baṃbaī-1, 1999),166 die ursprünglich als erste von zwei Bänden konzipiert war, zitiert der Herausgeber Suraj Prakash (geb. 1952) zum Beispiel den „ungekrönten König“ der Fimwelt, Bhagwan Dada (1913-2005), der über Nacht seinen gesamten Reichtum verlor, und Haji Mastan (1926-1994), der sich vom Kuli zum Boss der Unterwelt hochgearbeitet hatte.167 Zitate aus bekannten Filmsongs wie Muhammad Rafis beliebtem Lied yah hai bambaī merī jān (1956) und populäre Legenden werden für den Leser zu einem dichten Assoziationsteppich verwoben.
Der Herausgeber wählt übrigens genau jenes Gedicht (naz̤m) des Urdu-Dichters Ali Sardar Jafri (1913-2000) als Epigraph, das auch Kahar seinem ersten Kapitel über Mumbais Charakteristika voranstellt:
Ich möchte mal wissen,
was deine kühlen Gewölbe an sich haben
Bombay,
dass man „Awadh am Abend,
Banaras am Morgen“
für dich verlassen hat und
in deinen Straßen geschlafen,
in deinem Regen gebadet hat
und dich trotzdem, oh Bombay,
nie wieder loslassen will…168
Dieses Gedicht greift dasselbe urbane Ethos auf, das bereits bei Kahar angeklungen ist. In konzentrierter Form drückt es die zutiefst emotionale, annähernd erotische Beziehung des Sprechers zu Mumbai (Bombay) aus. Auch Suraj Prakash beschwört den ambivalenten Mythos der Stadt herauf. Das Vorwort, das mit „Die Stadt zerplatzter Träume, wunder Füße und guten Mutes: Bombay“ überschrieben ist, ruft Bilder und Inkarnationen der Metropole ab, die uns bereits in den Stadtbiographien und city writings sowie in Kahars Studie über Bombay-Romane begegnet sind. Einleitend verweist Prakash auf die Vielgesichtigkeit der Stadt: „Bombai, Bombay, Mumbai, Mumbay... Sie hat zig mal so viele Gesichter wie Namen, diese Künstlerin der Illusion: Bombay.‍“169 Die Stadt, die allen und niemandem gehöre, halte für jeden Menschen, so Prakash, eine andere Bedeutung bereit.170 Im Folgenden kommt der Herausgeber explizit auf die berauschende Anziehungskraft zu sprechen, die schon in Jafris Gedicht besungen wird:
Mumbai ruft alle dazu auf, sich zu bemühen, doch nicht alle lässt sie einen Teil von sich werden. Bombay ist barsch, Bombay bringt einen zum Weinen, Bombay macht nervös und Bombay quält. Und trotzdem hat sie diese unbeschreibliche Anziehungskraft, die einen nicht mehr gehen lässt. Weder den erfolgreichen noch den erfolglosen Mann. Jemand hat mal gesagt, dass beide hier bleiben, wenn sie erst einmal da sind, und auch dazu verdammt sind hier zu leben und zu sterben... Alle Wege führen nach Bombay, aber keiner wieder heraus.171
Die personifizierte Stadt erscheint hier durch und durch ambivalent. Der Grat zwischen Erfolg und Scheitern ist schmal. Prakash spitzt es in einer filmreifen Wendung zu:
Das heißt dann also nichts anderes als: Je größer der Traum, desto größer der Sprung und desto größer die Welt unter Ihren Füßen. Je größer der Traum, desto größer aber auch die Splitter, die sich ins Fleisch bohren, dass es nur so blutet, sollte er in Scherben gehen.172
Doch auch in den misslichsten Lagen erweist sich Bombay als fürsorgliche Mutter, die ihr hilfloses Kind in den Arm nimmt und dem Obdachlosen ein Heim bietet:
Selbst wer nichts hat außer Bombay, der muss nicht mit leerem Magen schlafen gehen. Bombay wird ihm in ihren nächtlichen Armen Schutz bieten und ihm wenigstens den halben Bauch füllen. Auch wer kein Dach über dem Kopf hat, den nimmt Bombay zu sich.173
Auch zieht sich die Rede vom Aufstiegsversprechen durch das Vorwort hindurch. In Prakashs Sinne müsste es wohl „Vom Bürgersteig zum Filmset“ heißen. Neben allgemeinen populären Bildern von Bombay (Glamourwelt, Show-Business, Unterwelt und kosmopolitischer Charme) bezieht sich Prakash auf Motive, Orte oder Schicksale, die sowohl dem realen Leben als auch den im Band abgedruckten Kurzgeschichten entstammen. Zentrale Orte wie der local train, den Prakash als Herzschlag der Stadt bezeichnet, sowie die Bar und der Bürgersteig, wo viele den Neuanfang in der Stadt wagen, sind zentrale Schauplätze in den Geschichten.174 Prakash verankert seine Beschreibung in lokalen Lebenswelten und eröffnet ein breites Spektrum an Schicksalen und Erfahrungen, die zwischen Aufstiegsglück und krachendem Scheitern jenen Mythos erschaffen, der das Bild von Mumbai (Bombay) so entscheidend prägt. Mit teils drastischen Ausführungen aus der Perspektive des Zuzüglers verfolgen Kahar und Prakash gewiss auch didaktische Ziele. Utopische, darunter auch dystopische, Darstellungen sprechen dafür, dass die Paratexte dem Leser als Handreichung dienen sollen, um Hoffnungen und Ängste in Bezug auf großstädtisches Leben zu reflektieren, aber auch, um die Unterschiede zwischen modernen und traditionellen Werteordnungen zu erklären.
Auffällig ist, dass der Einfluss kulturpessimistischer Sichtweisen auf städtisches Leben in dem Maße zunimmt, je weiter sich die Autoren von der Textstadt Mumbai (Bombay) entfernen und die literarische Beschäftigung mit Urbanisierung allgemein betrachten.
1.4 Die Stadt im Kali Yuga: Urbanisierung und Werteverfall
Ein Blick in fünf Hindi-sprachige literaturwissenschaftliche Studien, die Hindi-Stadtromane der 1970er bis 1990er Jahre untersuchen, zeugen einerseits vom Einfluss stadtkritischer Stimmen in den Werken des sozialkritischen Realismus (siehe auch Kapitel 3.1). Andererseits offenbart er auch den konservativ-traditionalistisch geprägten Interpretationsrahmen, den Wissenschaftler wie Ashok Bachulkar auf ihren Untersuchungsgegenstand anwenden, um die indische Urbanisierung nach dem Muster der mythologischen Niedergangserzählung vom kali yuga, dem letzten großen Zeitalter, zu interpretieren. Das zivilisationskritische Ethos, das bei Bachulkar in krassem Widerspruch etwa zu den kosmopolitischen Bombay-Bildern bei Kahar steht, ruft uns auch in Erinnerung, dass Autoren und -Kritiker die Werke der Hindi-Literatur in die Nähe zum nationalen Projekt rücken und eine starke „moralisch-normative Ausrichtung“ aufweisen, die sich Francesca Orsini zufolge bereits in den 1930er Jahren ausgebildet hatte.175 Betrachtet man Bachulkars Studie im größeren literaturgeschichtlichen Kontext, schreibt sie sogar eine Tradition kritischer Bombay-Texte des 19. Jahrhunderts fort, in denen Migranten aus dem Kernland des heutigen Maharashtra die Metropole als Hort der Dekadenz und des Werteverfalls beschreiben. Eine solche ablehnende Haltung gegenüber der Großstadt war im Übrigen bis weit ins 20. Jahrhundert unter sehr vielen indischen Schriftstellern verbreitet. In der bengalischen Literatur etwa galt die damalige Hauptstadt Britisch Indiens, Kalkutta, als mindestens fremdartig, wenn nicht gar als Strafe der Geschichte, und über sie zu schreiben, kam einem Verrat an dem ‚genuin‘ Indischen (dem Dorf) gleich.176
Wie stark der Einfluss gerade von Gandhis Anti-Stadt-Propaganda, der hier nachzuhallen scheint, auf die Hindi-Literatur(kritik) nach wie vor ist, veranschaulichen wissenschaftliche Studien zum Stadtroman in Hindi. Die fünf Studien erschienen im Zeitraum zwischen 1981 und 2012. Bereits die Titel der vorliegenden Arbeiten deuten darauf hin, dass die Autorinnen und Autoren die Großstadt in erster Linie als Schauplatz (pr̥ṣṭh'bhūmī) verstehen: „Urbanisierung und der Hindi-Roman“ von Kshama Goswami (1981), „Die Großstadt im modernen Hindi-Roman“ von Kusum Ansal (1993), Ashok Bachulkars „Die Wahrnehmung der Großstadt im Hindi-Roman“ (2006), Priya Nayars „Der Hindi-Roman nach 1960 und die urbane Wahrnehmung“ (2009) und „Die Großstadt im Spiegel von Hindi-Romanen (unter besonderer Berücksichtigung von Mumbai)“ von Barsati J. Kahar (2012).177
Die ersten Kapitel enthalten eine Einführung in die Geschichte der Urbanisierung in Indien. Bemerkenswert daran ist, dass die Analyse der Werke nicht erzähltheoretischen Fragestellungen folgt, sondern soziologischen.178 Zentrale Gesichtspunkte, an denen Urbanisierung und Stadtleben festgemacht werden und die anhand der Romane untersucht werden, sind die sich wandelnden Beziehungen zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Familie (angefangen bei Zweierbeziehungen bis hin zur Großfamilie),179 kaputte Familien (khaṇḍit parivār) und der Verfall gesellschaftlicher Werte.180 In diesem Zusammenhang werden auch Beispiele großstädtischer Lebensformen wie die „wilde Ehe“, Gleichgeschlechtlichkeit und Prostitution angeführt.181 Goswami, Ansal und Bachulkar begründen die Vernachlässigung der Kindererziehung unter anderem mit der Emanzipation der Frau.182 Weitere Themenbereiche sind die urbane Klassengesellschaft,183 neue Arbeitsbeziehungen,184 Einsamkeit und psychische Probleme.185
Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen also gesellschaftliche und zwischenmenschliche Beziehungen, die besonders die negativen Auswirkungen und zersetzenden Tendenzen des modernen Stadtlebens zu spüren bekommen. Zwar werden auch die Chancen des Stadtlebens aufgeführt, etwa das Aufweichen der Kastengrenzen, die individuellen Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten, doch rücken diese angesichts der vielfältigen, oben genannten Probleme (samasyāeṁ) deutlich in den Hintergrund. Stellenweise verschwimmt bei den Analysen die Grenze zwischen einer textbasierten Literaturstudie und einer verallgemeinernden Gesellschaftskritik, die mit Literaturbeispielen unterfüttert ist.186 Traditionalistische Vorstellungen vermischen sich bei Bachulkar mit einer undifferenzierten Zivilisationskritik, wie ein Vergleich der dörflichen und städtischen Lebensformen (S. 29-36)187 zeigt:
In der Dorfgesellschaft haben die Männer das Sagen. Frauen haben keine vergleichbaren Machtbefugnisse. Wenn es zu einem Streit zwischen Mann und Frau kommt, selbst wenn sie sich prügeln, vertragen sie sich am nächsten Morgen auch wieder. Das ist unser Beitrag zur Institution der Ehe. […] In den Großstädten haben die Menschen den Glauben an die Ehe verloren. Wenn das Kind geboren ist, übertragen die Eltern dem Kindermädchen die Verantwortung und gehen außer Hauses ihrer Arbeit nach oder frönen ihren Hobbys.
Die essentialistisch anmutenden Gegenüberstellungen von Stadt- und Landleben gehen häufig mit moralischen Urteilen einher: „Wenn jemand im Dorf etwas Schlechtes tut, muss er die harsche Kritik des ganzen Dorfes einstecken. Wenn jemand eine gute Tat vollbringt, wird es sich keiner nehmen lassen, diesem Dörfler auf die Schulter zu klopfen. Hier herrscht kollektive Einheit.‍“188 Solche Zitate verdeutlichen, dass Bachulkars Untersuchung stark von traditionalistischen Vorstellungen durchzogen ist, in denen der großstädtische Lebenswandel vor allem durch Selbstsucht und einen alle Bereiche erfassenden Werte- und Kulturverfall gekennzeichnet ist.
Trotz der analytischen Schwächen bietet uns Bachulkars Arbeit über die Hindi-Großstadtliteratur aus den 1980er und 1990er Jahren wichtige Einblicke in populäre Vorstellungen über die Geschichte der Urbanisierung in Indien selbst. Hier spielt die mythologische Vorstellung vom „goldenen Zeitalter“ eine Rolle, dem in nachfolgenden Epochen ein gradueller Niedergang beschieden war. Das Verfallsnarrativ, das uns schon in den anglophonen Stadtbiographien begegnet ist, bezieht sich hier weniger auf einen spezifischen Stadtcharakter, sondern umfassender auf die moderne (Stadt-) Gesellschaft allgemein.
Mit der Betonung des Werteverfalls und der zahlreichen negativen Folgen der Urbanisierung greifen Bachulkar und andere Autoren mythische Vorstellungen vom kaliyuga-Zeitalter auf. Das Zeitalter des Dämonen Kali189 gilt in der hinduistischen Zeitrechnung als das letzte der vier großen Weltalter (yuga), das die Welt in Chaos und Gewalt (adharma) stürzt und nach 4,32 Millionen Jahren, einem vollendeten yuga-Zyklus, das Weltende einleitet.190 Es kündige sich „in gesellschaftlichen Missständen, wie Überbevölkerung, schlechter Gesetzgebung, Zunahme der Kriminalität usw., als auch in Veränderungen in der Natur wie Dürrekatastrophen, Überschwemmungen oder Missgeburten“191 an. Als sichere Zeichen für einen drohenden Untergang gelten mangelnde Solidarität, das Zerbrechen der Familienbanden, Ehebruch, Vergnügungssucht und Freizügigkeit der Frauen. Laut Beschreibungen im Bhāgavatapurāṇa und Brahmavaivartapurāṇa ließen sich die Männer sowohl von ihren Frauen als auch von den Verwandten der Frauen dominieren und degenerierten zu Weiberknechten.192 Bachulkar orientiert sich im oben skizzierten (mytho-) historischen Abriss an dieser Vorstellung vom goldenen Zeitalter und dem graduellen Werteverfall in den folgenden Epochen, der in der Zeit nach der Unabhängigkeit vorerst seinen Höhepunkt erreicht.193
Insgesamt deutet der pessimistische Blick auf die Großstadt und ihre literarische Darstellung auf eine konservative und zivilisationskritische Perspektive des Autors hin. Dies wird auf zwei Ebenen deutlich, auf einer inhaltlichen und einer paratextuellen. Auf der inhaltlichen Ebene sind die Kapiteleinteilung und die thematischen Schwerpunktsetzungen ein Indiz für eine deterministische Deutung von Stadtliteratur als Zeugnis für den kulturellen Niedergang im Zeitalter der Moderne. Bereits im einleitenden Kapitel über die Geschichte der Urbanisierung in Indien seit der Induskultur konstruiert der Autor eine lineare Geschichtstradition, bei der die Blütezeit der indischen Städte mit der der alten hinduistischen Dynastien identisch ist.194 Erst mit der Ankunft fremder Eroberer naht das Ende dieser goldenen Epoche, und es deutet sich ein Untergangsszenario für die städtische Kultur an. Bachulkar stützt sich bei der Beschreibung der „klassischen“ Perioden auf mytho-historische Quellen wie das Rāmāyaṇa und Mahābhārata.195 Die vormodernen Zeiten wie die Maurya-Periode oder die Zeit von Harsha bezeichnet Bachulkar als „Kulturen“ bzw. „Zivilisationen“ (sabhyatās). Die 900-jährige Geschichte muslimischen Einflusses in Indien, angefangen bei den Eroberungsfeldzügen von Mahmud Ghazni im 10. Jahrhundert, handelt Bachulkar im Teil „Mittelalter“ (madhyayug) ab.196 Er behauptet, dass mit dem Niedergang hinduistischer Königreiche auch der Niedergang der indischen Städte begann.197 Ein retardierendes Moment vor dem endgültigen Untergang bildeten nur noch die Moghul-Herrscher Akbar und Shahjahan, die den „alten Städten“ zu einem letzten Glanz verhalfen. Einen scharfen Einschnitt in diese organische Entwicklung der Stadtkultur in Indien, wie der Autor sie beschreibt, bildet der Beginn der britischen Kolonialzeit (briṭiś kāl).198
Auch auf der paratextuellen Ebene wird deutlich, dass es Bachulkar in erster Linie um eine Gesellschaftskritik geht, der die besprochenen Hindi-Stadtromane als Beweisgrundlage dienen. Sowohl das Vorwort als auch der Klappentext verdeutlichen die Zielsetzung der Publikation, die großstädtischen Lebensumstände anhand von Romanen zu illustrieren:
Der Autor erklärt den Entwicklungsprozess der Urbanisierung, indem er die großstädtische Gesellschaft, Werteordnung, Kultur, Politik und Ökonomie in den Fokus rückt und repräsentative Werke von etwa sechszehn wichtigen Romanschriftstellern der 1990er Jahre, die hauptsächlich das großstädtische Leben beschreiben, studiert und einer kritischen, vorurteilsfreien Betrachtung unterzieht.199
Über die Gründe für die pessimistischen, gar dystopischen Sichtweisen sowohl auf Stadt und Urbanisierung als auch auf deren literarische Darstellung lässt sich nur spekulieren. Zum einen bieten der biographische Hintergrund des Autors und sein akademisches Umfeld einen Schlüssel zum Verständnis. Ashok Bachulkar wuchs im Dorf Kagani im Bundeststaat Maharashtra auf. In einem weiteren Buch, das er auf Marathi verfasst und in dem er den „Niedergang der dörflichen Ordnung“ zur Zeit des Marathenreichs (1600-1818) untersucht, weist er sich einmal mehr als Experte für historische Verfallsszenarien aus. Sein Interesse an nationalen Themen ist möglicherweise an der Shivaji University in Kolhapur (Maharashtra) geweckt worden. Die Universität ist nach dem Feldherrn benannt, unter dessen Führung sich die Marathen seit dem 17. Jahrhundert der Vorherrschaft der muslimischen Moghulherrscher widersetzten und das Großreich Anfang des 19. Jahhrhunderts empfindlich schwächten. Von Maharashtra gingen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse für hindu-nationalistische Erneuerungsbewegungen aus. Gruppierungen und Parteien wie die 1966 gegründete Shiv Sena, „Śiva[jī]s Armee“, ist dafür bekannt, eine anti-pluralistische Politik zu betreiben.200
Inwieweit die Universität von Kolhapur sich mit der Politik der Shiv Sena identifiziert, kann hier nicht geklärt werden. Gewiss wäre es falsch, von der Benennung einer Universität nach einem Volkshelden automatisch auf eine hindunationalistische Positionierung zu schließen. Es soll hier auch nicht darum gehen, Bachulkars Verständnis und Lesart von Stadttexten zu diskreditieren. Schließlich weist der Autor viele der aufgegriffenen Probleme der modernen Stadtgesellschaft (Atomisierung der Gesellschaft, Einsamkeit, Prostitution, Gewalt, Armut, Korruption etc.) in den besprochenen Werken – wenn auch selektiv – mit Zitaten nach. Die Werke der Hindi-Schriftsteller und -Schriftstellerinnen der post-1960er (sāṭhottar) Generation, die er für seine Untersuchung heranzieht, hatten sich schließlich bewusst von der individualistischen psychologischen Perspektive der Vorgängergeneration der Nayī Kahānī abgewandt und kritisch Stellung zu den bestehenden Verhältnissen bezogen (Kapitel 3.1), worin ein Grund für die zivilisationskritischen Sichtweisen liegen dürfte. Ungeachtet dessen steht Bachulkar in seiner Auffassung von Hindi-Literatur selbst in der Tradition des sozialkritischen Realismus, der Kunst eine gesellschaftsbildende Funktion zuschreibt.201
Doch die Bewertung von Urbanität und urbaner Wahrnehmung, wie sie auch in der zeitgenössischen Hindi-sprachigen Literatur und -Literaturkritik zutage tritt, ist stark von einer kulturpessimistischen bzw. traditionalistischen Sichtweise geprägt. Diese lenkt auch Bachulkars Erkenntnisinteresse, wenn er etwa auf Basis der literarischen Beispiele pauschale Aussagen über das Stadtleben trifft, welches er immer im Gegensatz zum „heilen“ Dorfleben konzipiert. Anders als bei den Mumbai-Schilderungen von Kahar und Prakash, die von einem überwiegend stadtfreundlichen Ethos getragen sind, fallen Betrachtungen von Urbanität oder Stadt in den Hindi-Studien allgemein düster aus. Diese Diskrepanz ist mit dem Blickwinkel des Betrachters zu erklären: Jemand wie Kahar, der der Stadt aufgrund seiner Lebensgeschichte verbunden ist, nimmt die Stadt eher in ihrer Eigenlogik bzw. als Persönlichkeit mit zwei Gesichtern wahr. Jemandem wie Bachulkar, der von außen auf Stadt(literatur) blickt, scheinen eher die Unterschiede zur traditionellen, dörflichen Gesellschaftsordnung aufzufallen.
In den beiden Sichtweisen zeigt sich, dass die Rezeption von Hindi-Stadtliteratur ein umstrittenes Feld ist: Auf der einen Seite spricht aus ihr ein weltoffenes, liberales Ethos, das die intergrative Kraft der Metropole nach dem Motto „If you can make it here, you can make it anywhere“ betont. Dem gegenüber stehen kulturpessimistische, konservative Sichtweisen, welche die negativen Auswirkungen von Urbanisierung und Moderne hervorheben, weil viele Autorinnen und Autoren sie mit gesellschaftlichem Werteverfall in Verbindung bringen. Hindi-Literatur ist somit nicht nur eine wichtige Ressource für die Reflexion und Produktion von Stadtbildern. Die Beschäftigung mit ihr hat auch eine visionäre politische Funktion: Sie ist ein kritischer Diskursraum, in der sich die Befürworter eines individuellen, kosmpopolitischen Lebensstils denen eines von Überfremdungsängsten geprägten Wertekonservatismus gegenüberstehen.
1.5 Zwischenfazit
Die in diesem Kapitel vorgenommenen Probebohrungen in verschiedenen Textsorten haben gezeigt, dass populäre Sprachbilder und Redeweisen alle textlichen Konstruktions- und Reflexionsebenen durchdringen: Die Stadt erzeugt Narrative und umgekehrt erzeugen Narrative auch das Bild der Stadt. Dabei nehmen Texte über Mumbai (Bombay) ortspezifische Wahrnehmungsmuster auf und sind zugleich in einen überregionalen Bezugsrahmen eingebettet. So werden populäre Vorstellungen wie die von der hybriden kosmopolitischen Metropole in unterschiedlichen Texten konstruiert. Jedoch fällt auf, dass Stadtbilder wie das von der modernen, weltbürgerlichen urbs prima in Indis oder personifizierte Darstellungen in regionalsprachlichen Texten in Form und Ausgestaltung ausgeprägter sind als in global verbreiteten Texten über Mumbai (Bombay). Zum Beispiel wird der Topos der Traumstadt in vielen englischsprachigen Texten oft nur zitiert, um Vorstellungen von der schillernden asiatischen Megastadt zu wecken, die trotz zahlreicher Probleme im Grunde einen liberalen, kosmopolitischen, ja „westlich-modernen“ Charakter hat. Je weiter man aber in Hindi-sprachige Schichten vordringt, gewinnt dieser Topos an Kontur, Kontrast und Dramatik hinsichtlich der Beschreibung alltäglicher Erfahrungswelten einheimischer Leserinnen und Leser. Durch die Perspektive des Migranten und/oder Angehörigen der unteren Mittelschicht, der mit dem Leben in der Metropole große Aufstiegserwartungen verbindet, reflektieren Autorinnen und Autoren persönliche Erlebnisse, Hoffnungen, Erwartungen und Ängste gegenüber einer bestimmten Stadt und dem modernen Lebensstil, für den sie steht. Dabei wird auch deutlich, wie produktiv ältere regionalsprachliche Erzähltraditionen und Denkfiguren (māyāvī śahar, kali yuga) an dem Prozess mitwirken, „zusammenhängende […] Wissensbestände und Ausdrucksformen zu spezifische[n] Sinnprovenienzen202 zu einem Stadtbild zu verdichten. Regionalsprachliche Narrative über individuelle Schicksale, die in Verbindung mit realen Schauplätzen und daran geknüpften Erfahrungen und Gefühlen vom schmalen Grat zwischen Chance und Scheitern berichten, verleihen diesem Bild Tiefe.
Beim Vergleich englischsprachiger und regionalsprachlicher Stadtbilder besteht gewiss die Gefahr, in die von Rashmi Sadana beschriebene Authentizitätsfalle zu tappen, der zufolge regionalsprachliche Werke durch ihre provinzielle Verwurzelung näher am „echten“ Leben dran wären als englischsprachige, die aus der Sicht einer urbanen Elite romantisierende Bilder von der hybriden Metropole projizierten.203 Gleichwohl machen die Beispiele deutlich, dass es durchaus Unterschiede in der Darstellung gibt, die sich in der teils pathetischen, teils krassen Ästhetik der Bildsprache niederschlagen. Sie lassen vermuten, dass eine Hindi-sprachige Leserschaft durchaus andere Erfahrungen mit und Empfindungen gegenüber der Stadt und der Literatur, die sich mit ihr beschäftigt, teilt, als die englischsprachiger Stadtbiographien oder -romane. Welche urbanen Erfahrungen und Wahrnehmungen (jenseits populärer Klischees) Hindi-Autoren ganz konkret in ihren Werken transportieren, und mit welchen erzählerischen Mitteln sie diese in den Raum der Textstadt übertragen, soll im Folgenden erörtert werden.
1. Stadt schreiben. Populäre Bilder und Narrative von der indischen Megastadt (am Beispiel von Mumbai/Bombay)
1.1 Mumbai/Bombay: die indische Megastadt par excellence
1.2 Urbs Prima in Indis:88 Mumbai als Sinnbild des modernen Indiens
1.3 Traum und Illusion: Die māyāvī śahar
1.4 Die Stadt im Kali Yuga: Urbanisierung und Werteverfall
1.5 Zwischenfazit