Typesetting
Mythos und Moloch. Die Metropole in der modernen Hindi-Literatur (ca. 1970-2010)
20 Nov 2020
2. Dämon, Gasse, Flaneur. Literarische Erkundungen des Stadtraums
2.1 Literarische Topographien
Das zweite Kapitel untersucht die erzähltechnischen Mittel, mit denen sich Autorinnen und Autoren lokale Alltagserfahrungen und Lebenswelten erschließen. Denn gerade an zentralen Orten und Landmarken wie dem Marine Drive in Mumbai oder dem Connaught Place in Delhi prallen Klischeevorstellungen und subjektive Erfahrungen aufeinander. Hier sinnen die Protagonisten darüber nach, was die Stadt der Träume für sie bereithält. Aus Beschreibungen urbaner Kontaktzonen wie der Gasse, der Straße, von Plätzen und Verkehrsmitteln erfahren wir, wie der Einzelne zur Menschenmenge steht, welche Gerüche, Geräusche er wo wahrnimmt, welche Orte er anziehend findet und welche er meidet.
Die Analyse literarischer Raumbilder leistet eine lokale Kontextualisierung von urbanen Orten wie dem Bürgersteig, dem Vorortzug (local train) oder dem Teestand. Gerade an solchen unscheinbaren Orten, aber auch während alltäglicher Beobachtungen, in Gesprächen und beim flanierenden Nachdenken kristallisiert sich das urbane Ethos heraus. Literarische Topographien geben Aufschluss über den Wandel in den Wahrnehmungsmustern und literarischen Darstellungstechniken im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeugen von einem Prozess der Aneignung der Stadt mittels narrativer Mittel: Zunächst einmal erschließen die Autorinnen und Autoren den – oft aus der Erzählperspektive des Fremden – unbekannten Stadtraum durch Landmarken und zentrale Orte und strukturieren so die Wahrnehmung der Protagonisten. Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre erzeugen Personifikationen eine größere Nähe zum Organismus Stadt, indem die Literatinnen und Literaten ihn etwa als leidenden Menschen imaginieren oder ihre Charaktere in den Stadtraum „einschreiben“.
Der in den letzten Jahren in den Kulturwissenschaften vielfach ausgerufene topographical turn,204 der „kleine Bruder“ des spatial turn, täuscht darüber hinweg, dass diese Wende keineswegs eine Neuheit in den Geisteswissenschaften darstellt, sondern an eine lange Tradition der Beschäftigung mit Räumlichkeit in philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskursen anknüpft. Dieses Denken über und in Räumen wurde jedoch spätestens seit 1800 von den seither dominierenden Zeitmodellen, genauer gesagt, dem klassischen Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, abgelöst.205 Im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung spitzte sich das Raumproblem wieder zu und es setzte sich die bis heute in den Sozial- und Kulturwissenschaften verbreitete Auffassung durch, dass Raum keine physische Vorbedingung sei, sondern sozial organisiert und kulturell geschaffen werde.206 In der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Raum steht vor allem seine Repräsentation im Mittelpunkt vieler Betrachtungen. Versteht man Raumdarstellungen in der Literatur als kulturelle Bedeutungsträger, so kann die Analyse literarischer Topographien207 zum Verständnis von Stadtbildern beitragen.
Ansgar Nünning zufolge stehen dem Autor bei der Gestaltung des Raums drei Mittel zur Verfügung: Beschreibung, Bewusstseinsdarstellung und Bildlichkeit.208 Diese literarischen Gestaltungsmittel bilden die Grundlage für die Gliederung dieses Kapitels in die Unterpunkte „Stadtkörper“ (Bildlichkeit), „Schauplätze“ (Beschreibung) und „Erzähl- und Figurenperspektive“ (Bewusstseinsdarstellung). Zum Mittel der Beschreibung merkt Nünning an, dass es besonders wichtig sei, da es „die leserseitige Konkretisierung der erzählten Welt“ steuere und entscheidend zum Realismus-Effekt und zur Illusionsbildung beitrage. Wenn man die Art der Beschreibung analysiert, ist vor allem danach zu fragen, „welche Schauplätze, Gegenstände, Situationen und Ausschnitte der Wirklichkeit […] in einem narrativen Text ausgewählt und dargestellt bzw. erzählerisch gestaltet“209 werden. Gewiss darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass der literarische Raum Bestandteil eines fiktionalen Wirklichkeitsmodells ist und vom ‚realen‘ Raum außerhalb des sprachlichen Kunstwerks unterschieden werden muss.210 Man denke etwa an utopische Werke, in denen eine von der Realität abweichende Stadtlandschaft imaginiert wird, wie bei Jitendra Bhatiyas (geb. 1946) Science Fiction Dystopie „Bis zur nächsten Finsternis“ (Kapitel 3.3.2). Wohl eher rhetorisch wirft Roger Lüdeke die Frage auf, „ob ästhetische Diskurse womöglich spezifische Spiel-Räume eröffnen, die sich den lebensweltlichen Raummodellen, auf die sie Bezug nehmen, wiedersetzen und inwieweit den literarisch funktionalisierten Raumrepräsentationen ein besonderes transgressives oder reflexives Potenzial bezüglich ihrer eigenen Repräsentationsbedingungen […] zuzugestehen ist.‍“211 Selbst Beschreibungen, die den Stadtraum aus einer realistischen Wahrnehmungsperspektive heraus abbilden, lassen bei näherem Hinsehen große narrative Spielräume erkennen. Schließlich muss sich jeder Autor fragen: Wie umgehen mit der fragmentierten individuellen Wahrnehmung, durch die die Stadt immer nur ausschnittsweise erfasst wird? Erst durch die Sichtweise des Protagonisten bzw. durch die Erzählperspektive werden der Stadtraum oder einzelne Ausschnitte davon erst „sichtbar“ gemacht.
Für die narrative Bewusstseinswiedergabe stehen unterschiedliche Mittel und Wege zur Wahl, die sich aus dem Zusammenspiel von Figuren- und Erzählperspektive einerseits und dem gewählten statisch oder dynamisch angelegten Ausschnitt des Raums andererseits ergeben. Eine Möglichkeit ist, reale oder symbolische Orte als kognitive trigger einzusetzen, um beim Leser geographisches und kulturelles Hintergrundwissen aufzurufen. Nun bleibt es selten bei der Aneinanderreihung von Ortsnamen, um die Vorstellung von Stadtraum zu erzeugen. Um den urbanen Erfahrungsraum zu eröffnen und im besten Fall räumliche Wahrnehmung wiederzugeben, gilt es, eine knifflige technische Hürde zu überwinden: Der als Vorbild dienende, in der Realität dreidimensionale Raum muss in einen zweidimensionalen Text übertragen werden. Dies kann – hier kommt die dritte Repräsentationstechnik zum Einsatz – durch die Erzählperspektive erreicht werden. Indem Autorinnen und Autoren (im Rückgriff auf ihre persönliche Wahrnehmung) urbanen Raum in verschiedenen „Ausschnitten“ oder „Skalen“ konstruieren, erschließen sie alltägliche lokale Lebenswelten, etwa das häusliche Umfeld (Haus, Gasse), Nachbarschaftsbeziehungen (Gasse, Straße, Viertel), politisch-öffentliches Leben (soziale Zentren wie der Paan-Laden, geographische Knotenpunkte wie Kreuzungen) sowie religiöse Zentren (Ghat, Tempel etc.). Dass es sich bei diesen Skalen nicht um starre Raum(an)ordnungen handelt, sondern um ein Instrument der Erzählperspektive, wird am dynamischen Wechsel der Skalen deutlich: Wie im Film kann die ganze Stadt erst aus der Vogelperspektive betrachtet und im nächsten Moment durch Hineinzoomen in einer Art Close-up-Einstellung im Detail gezeigt werden.
Eine zweite Erzählperspektive ist in der Figur des Flaneurs, Tramps oder Spektators angelegt: In der Bewegung erschließt der Stadtspaziergänger nach und nach den Raum. Seine Erlebnisse, Empfindungen und Erinnerungen werden durch den Körper gefiltert dargestellt. Aufschlussreich ist auch die soziale Dimension dieser Figur: In jüngerer Zeit verschmilzt der Typus des Flaneurs mit dem des „weisen Verrückten“ (engl. wise-fool), der normative Vorstellungen von urbanem Fortschritt und Wohlstand durch sein unangepasstes Verhalten hinterfragt. Daran anknüpfend wird als dritte narrative Technik die sensorische Wahrnehmung im Stadtraum untersucht. Was empfindet der Einzelne in der Menge? Welche Gerüche und Geräusche herrschen in welchen Lokalitäten der Stadt vor? Sensorisches Erleben gibt Auskunft über das Verhältnis des Einzelnen zur Stadt, darüber, ob er sich fremd oder zuhause fühlt, sicher oder bedroht, und in welchen Beziehungen er zu anderen Menschen steht, die in der Stadt leben und arbeiten.
Drittens erzeugen auch Mittel der Bildlichkeit – Metaphern, Personifikationen, Allegorien – Vorstellungen von Stadt(raum). Eine Möglichkeit, die fragmentierte Wahrnehmung zu überkommen, ist es, die Stadt in personifizierter oder metaphorischer Form darzustellen. Diese Verkörperungsstrategie erfüllt mehrere Funktionen: Als Container oder imaginärer Ort bietet die Stadt Raum für utopische Ideen. Zum anderen tritt sie als eigenständiges Charakterwesen, handelnde Person oder zerstörerischer Dämon in Erscheinung.
2.2 Stadtkörper
Die verkörperte Stadt begegnete dem Leser bereits in mehreren Zitaten englischsprachiger Texte, etwa von Stadtbiographien mit ihrem personalisierten Zugriff auf Mumbai oder Delhi (Kapitel 1). Die bildliche Darstellung der Stadt als Körper oder Organismus erfüllt den Zweck, sie in ihrer Gesamtheit bzw. in ihrer Eigenlogik zu erfassen. Personifikationen helfen, „eine Fülle von Erfahrungen mit nichtpersonifizierten Entitäten [zu] begreifen, indem wir diesen Erfahrungen menschliche Motivationen, Merkmale und Tätigkeiten zugrunde legen.‍“212 Dieser kognitive Trick ermöglicht es, die Grenzen der individuellen Wahrnehmung zu sprengen und sich der unüberschaubar großen Einheit Metropole narrativ „habbar“ zu machen: „Körper und Stadt teilen die enge Verflochtenheit von scheinbar gegebener Materialität und diskursiver Aneignung.‍“213
Personifikationen sind überdurchschnittlich oft in Gedichten anzutreffen. Es können zwei Arten von literarischen Stadtkörperbildern unterschieden werden. Zum einen dient die Stadt als Projektionsfläche, imaginärer Ort oder Container. Als Allegorie, Metapher oder Symbol verweist sie dann auf etwas Anderes und kann wie in Harish Nawals (geb. 1947) Delhi-Satiren als pars pro toto das Herz eines Landes symbolisieren, oder eine geschlossene, intime Sphäre, wie in Sanjay Kundans (geb. 1969) Gedicht „Schuhe“ (jūte), beinhalten. Zum anderen tritt die Stadt in personifizierter Gestalt als Organismus oder Protagonist in Erscheinung. Die städtischen Leibhaftwerdungen fallen mannigfaltig aus: Mal leidet Delhi unter Hitze und Trockenheit und wartet sehnsüchtig auf Regen, mal verschlingt die Stadt als Dämon den Menschen.
2.2.1 Die Stadt als metaphorischer Container
Vor allem in Gedichten steht die Stadt als Metapher oder Allegorie für eine Vision, die das lyrische Ich – oft in ironischem oder sarkastischem Gestus – beschreibt. Sudha Jain (geb. 1935) modelliert im Gedicht „Die Rosenstadt“ (gulāboṃ kā śahar, 1985) eine nach ästhetischen Maßstäben ideale Stadt in einen Körper hinein.214 Indiens „schöne Stadt“ (sundar nagar) wird in der ersten Strophe als strahlende Grazie präsentiert, die Attribute aus der Natur (See, Rosen, Schmetterlinge) und der Zivilisation (Villen, Gärten etc.) harmonisch in sich vereint:
Diese Stadt
ist eine wahre Schönheit
auf dem Kopf ein lieblicher See
im Herzen
ein duftender Rosengarten
prächtige Villen
in den Villen Gärten
in den Gärten lachende Rosen
Das hier ist die Rosenstadt.
Allerdings währt die Illusion von der Traumstadt nicht lange, und die scheinbar perfekte Kulisse bekommt erste Risse, als bereits in der zweiten Strophe Zweifel an der Echtheit der Rosenstadt laut werden.
In jedem Zimmer gedeihen Rosen
die Farbe importiert, der Duft importiert
die Sprache importiert, der Gang importiert
die Stadt lebt in einer gekauften Umgebung
Das ist Indiens
schöne Stadt
das hier ist die Rosenstadt
Das ist die Stadt
der hübschen Schmetterlinge
wo kein Schmetterling je altert
er hat von den ewigen Früchten
Puder, Haarfärbemittel und
Lippenstift genascht und
das Alter an der Nase herumgeführt.
In der Rosenstadt –
von Farben angelockte Schmetterlinge
das hier ist die schöne Stadt der Schmetterlinge.215
In den nächsten Strophen werden weiterhin die Bewohner der Rosenstadt, Künstler, Intellektuelle und Schauspieler, in ihrer Selbstbezogenheit aufs Korn genommen:
Schließlich ist das die Stadt der Intelligenzija
Intellektuelle über Intellektuelle
soweit das Auge reicht
manche sind im Bild verewigt
manche haben sich in sinnlose
Diskussionen verrannt und
jonglieren mit Wörtern herum
manch einer an seinem Stuhl
festklebt
ein anderer an seiner Rolle
Schließlich ist dies hier
die Stadt der Schauspieler.
Bombastisch große Theater
bombastisch große Clubs
Im Haus Clowns
Schauspieler Künstler
Das hier ist Indiens
schöne Stadt
Das ist die Rosenstadt.216
Die Rosenstadt wird zur Allegorie, um die Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetisch vollkommenen Kunstwelt durchzuspielen. Dabei scheint weniger die Körperlichkeit der Stadt im Vordergrund zu stehen, die in der ersten Strophe noch evoziert wird, als vielmehr ihre Eigenschaft als Container, der unterschiedliche Deutungen zulässt: Man kann das Gedicht als Kritik an einer unauthentischen Kunstwelt lesen, oder aber als Anspielung auf eine wie auch immer geartete ‚Clownerie‘ in der Politik und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. Bemerkenswert ist, dass sich in diesem Gedicht schon Ansätze einer Globalisierungskritik wiederfinden, wie sie u.a. von rechten politischen Gruppen geäußert wird. So weit zu gehen, die kodierte Container-Symbolik als ideologischen Kommentar zum fragwürdigen Zustand der Stadt, Gesellschaft oder Nation zu lesen, der sich in die Nähe zur Rhetorik des krankenden „Volkskörpers“ begibt, würde dem Gedicht eine Auslegung überstülpen, die seiner potentiellen Mehrdeutigkeit nicht gerecht würde. Die Stadt eignet sich aber durchaus als Mikrokosmos des Staates bzw. der Nation. In dem Gedicht „Stadt der Visionen“ (yoj'nāoṃ kā śahar) aus dem gleichnamigen Gedichtband von Sanjay Kundan etwa fungiert śahar als Container für große Ideen technokratischer Planer, deren große Versprechungen von wiedergewonnener nationaler Größe oder dem Beseitigen sozialer Missstände uneingelöst bleiben.217
In anderen Beispielen versinnbildlicht die Stadt eine geschützte, intime Sphäre.218 Im Gedicht „Schuhe“ (jūte) aus dem oben zitierten Band zieht Kundan die Stadt als Vergleichsgröße heran, um die berufliche und private Lebenssphäre zu beschreiben. Die Schuhe verkörpern die Zwänge der fremden Stadt, wohingegen das Ausziehen der Schuhe daheim für die Rückkehr in die ārām kā śahar, die Stadt der Ruhe und Gemütlichkeit, steht:
Immer wenn ich meine Schuhe ausziehe
fühlt es sich so an als kehrte ich aus einer fremden Stadt
zurück in die meinige
das hier ist die Stadt der Muße
wo alles so gemütlich zugeht
als nippe man am Tee. […]219
Als intime Sphäre taucht die Stadt auch in den populären Mini-Geschichten im Band „Stadt der Erinnerung“ (yād śahar, 2013) von Nilesh Mishra (geb. 1973) auf,220 die ursprünglich als Hörfunkgeschichten beim Sender Big FM ausgestrahlt wurden. Das Vorwort zu beiden Bänden ist mit der Zeile „In mir wohnt eine kleine Stadt…“221 überschrieben. Die Stadt steht für einen imaginären Erinnerungs- und Sehnsuchtsort (kālpanik śahar),222 der mit romantischen und nostalgischen Geschichten und, mehr noch, mit dem Erzählen von Geschichten in Verbindung steht. Auf der Rückseite beider Bände wird direkt auf die allegorische Dimension der Bezeichnung yād śahar Bezug genommen: „Die Stadt der Erinnerung ist die Stadt jedes Einzelnen, in der alle Erinnerungen zuhause sind, die einen beim Zuhören ins Haus der Oma, auf den Schulhof, den Campus, oder in die Gassen des Liebesstädtchens katapultieren…“.223
Die metaphorische oder allegorische Funktion des Stadtkörpers öffnet vor allem in Gedichten einen reichen und teils widersprüchlichen Assoziationsraum. Auf der einen Seite werden idyllische Zustände, die mithilfe der Stadtmetapher evoziert werden, ironisch gebrochen (vgl. Sudha Jain, Sanjay Kundan). Auf der anderen Seite dient die Stadt als Container für nostalgische Erinnerungen (vgl. Nilesh Mishra) oder für eine geschützte intime Sphäre wie in Sanjay Kundans „Schuhe“. Während die Stadt dort dazu genutzt wird, einer Idee oder Allegorie einen Raum zu geben, erfüllt die Darstellung der Stadt als Person den Zweck, den Charalter einer konkreten Stadt herauszuarbeiten.
2.2.2 Die Stadt als Person
Die Personifikation ist eine gängige rhetorische Figur in unterschiedlichen Repräsentations- und Textschichten, um über den Charakter einer Stadt zu schreiben, wie das Vorwort zu Kahars Studie über Bombay-Romane gezeigt hat, das den Topos der sorgenden „Mutter Stadt“ zitiert (vgl. Kapitel 1). Seit Beginn der 2000er Jahre und verstärkt seit den Hundertjahrfeierlichkeiten im Jahr 2011 ist die indische Hauptstadt Neu-Delhi in den Fokus journalistischer, künstlerischer und kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt.224 Dem städtischen Charakter bzw. der Eigenlogik Delhis spürte bereits kurz vor dieser Welle der auf Hindi schreibende Autor Harish Nawal in humoristisch-essayistischen Skizzen nach.225 In „Herzensstadt Delhi“ (dillī dil'vāloṃ kī) erkundet der Autor das Wesen Delhis und seiner Bewohner, die in Anspielung auf dillī als dil'vāle, „Leute mit Herz“, tituliert werden (die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: „Delhi, Stadt der Leute mit Herz“). Statt die lokalen Eigenheiten zu rühmen, nimmt der Autor das Fehlen derselben aufs Korn:
Was ist typisch für Delhi? Rein gar nichts. Sobald es in Simla ein bisschen schneit, ziehen sich hier die Leute ein Tuch vor die Nase. Kaum dass unten in Tamilnadu der Ministerpräsident die Stirn runzelt, wirft der Premierminister gleich das Handtuch. Wird es in Massoori warm, werden in Delhi die Cooler installiert. Beim kleinsten Nieser der Marxisten in Kalkutta berufen die Roten in Delhi Volksversammlungen ein.226
Und weiter:
Es heißt, Delhi gehöre den Menschen mit Herz, aber demnach müssten hier alle herzkrank sein. Der eine hat sich in den Stuhl der Stadtverwaltung verliebt, ein anderer in die Kuppel des Parlaments. Der nächste will von ganzem Herzen in die Herzensakademie eingeladen werden, wieder ein anderer die Quote oder einen Freifahrtsschein. Das ist eine Herzenssache und nichts zum Scherzen.227
Delhis Charakter speist sich in dieser satirischen Glosse hauptsächlich aus den typischen Eigenschaften ihrer Bewohner, die in Nawals Portrait mehr egoistisch als herzlich erscheinen, weshalb sich Stadtpersonifikationen nur in Gemeinplätzen niederschlagen, etwa in der pars-pro-toto Metapher vom Herz der indischen Nation: „Delhi ist das Herz Indiens und Delhis Herz ist entzwei gebrochen – der eine Teil ist als Chandni Chauk bekannt, der andere als Connaught Place.‍“228 Die zweigeteilte Stadtlandschaft steht für die jüngere Geschichte der Hauptstadt: Alt-Delhi auf der einen Seite markiert im kulturellen Gedächtnis die Blütezeit Delhis unter der Moghul-Herrschaft,229 deren Ruhm bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert zu schwinden begann und mit der britischen Vormacht endgültig verlosch. Neu-Delhi auf der anderen Seite, das 1911 als neue Hauptstadt Britisch-Indiens gegründet wurde, symbolisiert als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum das Herz der unabhängigen Republik. Der Autor sucht die Gründe für den fehlenden Lokalpatriotismus der Hauptstädter im topographischen Bruch, der auf die Kolonialzeit zurückgeht. Delhi, das in der Herz-Metapher als pars-pro-toto für die Nation steht, weist keine spezifischen äußerlichen Merkmale oder Charakterzüge auf. Kommt die städtische „Identität“ zur Sprache, dann definiert diese sich vor allem über die alltäglichen Praktiken, Denk- und Verhaltensweisen ihrer Bewohner.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die Stadt als konkrete Person auftritt. Der Gedichtzyklus „Delhi im Regen“ bzw. „Delhi in der Regenzeit “ (bāriś meṃ dillī) von Sunita Jain (1941-2017) präsentiert Delhi, gemäß des grammatikalischen Geschlechts im Hindi, als Frau. Ganz explizit wird etwa im Gedicht „Auf Delhis Straßen“ (dillī kī saḍ'koṃ par) die Körperlichkeit der Stadt hervorgehoben:
Die sanfte Kühle der frühen Morgenstunden
auf dem müden Körper meiner Stadt
Der Kanon der Vögel
in den eingestaubten Bäumen
Über der Schulter des Osten
hing ein vom ersten Licht des Tages
gewaschenes Handtuch
Doch, der Tag stieg nur ängstlich herab
auf Delhis Straßen.230
Im thematisch verwandten Prosagedicht „Delhi im Regen“ (bāriś meṃ dillī)231 von Jain entspinnt sich ein Dialog zwischen der nach Wasser dürstenden Stadt und einer Wolke (bādal), die im Hindi männlichen Geschlechts ist. Entfernt erinnert das Gedicht an den „Wolkenboten“ (meghadūta) des berühmten Sans­k‍rit-Dichters Kalidasa, in dem ein im Exil lebender Naturgeist, ein Yaksha, eine Wolke überredet, seiner Liebsten in der Ferne einen Gruß von ihm zu übermitteln.232 In Jains Gedicht wartet Delhi sehnsüchtig auf die regenverheißende Wolke, die jedoch nur noch sporadisch vorbeischaut:
1
Das waren desolate Zeiten,
als Delhi auf dem Bürgersteig schlief.
Die Stirn klebrig vor Hitze
Mund und Kehle staubtrocken.
Wie kam die Wolke, wann regnete sie ab?
Delhi stand auf, lupfte die Kleider.
Je durchnässter sie war
desto mehr umklammerte sie
ihr zerlumptes Kleid.
2
Ohne sich vorher anzukündigen
war die Wolke reingeplatzt
in Delhis Stille.
Es schüttete wie aus Kannen
mit Händen und Füßen
schützte Delhi die Bäume
vorm Umstürzen.
Nie zuvor hatte es in Delhi
so viel Wind und Regen auf einmal gegeben
noch dazu mit solcher Heftigkeit
einer, der sich schon auf den Weg gemacht hat
kommt so schnell nicht mehr zurück
Jetzt können Sie sehen,
wie man Delhi hier und dort auf der Leine trocknet
3
Die Wolke fragte Delhi
wo sitzt der Schmerz, wo tut’s weh?
Delhi streckte stumm
ihre Hand aus.
Sie sah Linien darauf verlaufen
kreuz und quer durch Delhi.
Daraufhin schwiegen beide –
die Wolke
und Delhi.
4
Delhi sprach
die Wolke hörte zu,
Selbst wenn Delhi nichts sagte
hörte sie hin.
Wie lange schon schweigt Delhi
in der Hoffnung, erhört zu werden.
5
Die Wolke sagte schon oft,
„Du bist so weit weg, Delhi
vielleicht schaff ich’s nicht mehr zu dir.‍“
Delhi sagte nichts dazu.
Die Wolke war ja nicht die Erste
Vor ihr waren schon viele andere gegangen,
etwa die Bäume, die fest in Delhi verwurzelt sind. Fort.
Mit den Bäumen auch die Vögel.
Fort auch die Schlüssel,
die nie wieder kommen werden.
Hängen geblieben sind rostige Schlösser,
liebestolle Tauben haben sich eingenistet in Schächten und Luken
[…]
Noch im Gehen sagte sie wieder
„Ich schaff’s nicht mehr zu dir, Delhi.‍“
Auch wenn ihr zum Weinen zumute war
riss Delhi sich am Riemen.
Ohne ein Wort zu sagen harrte sie aus
auf ihren vor Hitze geschwollenen Füßen.
[…]
8
Die Wolke wird sie vergessen
Delhis Straßen,
die Wolkenkratzer und Flyovers.
Vergessen auch dieses Fremde
und Raue an Delhi.
Vergessen auch jenen Ort,
und die Luft,
die Tulsipflanze,
die vom Regen heruntergefegten Blätter
des Neembaums.
Vergessen wird die Wolke auch
das Delhi, das von Delhi übrig blieb,
wonach ihr so gedürstet hatte.
Die Wolke war glücklich.
Sie schrieb ein Gedicht.233
Das abrupte, lakonische Ende lässt ahnen, wie die seltsam unausgewogene Beziehung zwischen Wolke und Delhi endet. Die bedrohte Natur, von der in der 5. Strophe die Rede ist, ist ein Hinweis darauf, dass das Gedicht auch als Kommentar zu den schwierigen klimatischen Bedingungen in der Hauptstadt verstanden werden kann, in der es in den Frühlings- und Sommermonaten extrem heiß werden kann und – nicht zuletzt infolge des Klimawandels – das Eintreffen des Regens immer unberechenbarer wird.
Jain, eine international beachtete Autorin, die Lyrik und Prosastücke auf Englisch und Hindi schreibt,234 hat gemeinsam mit Vimala Shyama drei Jahre nach Erscheinen des Delhi-Gedichtbandes unter dem Titel „Confluence of Season“235 eine zweisprachige Übersetzung von Kalidasas Jahreszeiten-Zyklus R̥tusamhāra vorgelegt. Wenn sich Jain auch auf Kalidasas Werke bezieht, so haben wir es bei ihr mit einer völlig anderen Frauenfigur zu tun. Die Stadt ist, anders als bei Kalidasa, keine hinreißend geschmückte Braut, welche die Regenzeit gleichsam einem Liebhaber erwartet, sondern ein gebeuteltes Wesen in Lumpen, das von seinem Liebhaber, der Wolke, erst stürmisch heimgesucht und dann von ihm im Stich gelassen wird. In „Delhi im Regen“ werden besonders der Leidensaspekt und die Abhängigkeiten hervorgehoben, in denen sich die hitzegeplagte und nach Regen dürstende Hauptstadt befindet.
Eine weniger passive und statische Verkörperung Delhis findet man in einem weiteren Gedicht aus Jains Zyklus, „Regenbogen über Delhi“ (indradhanuṣ dillī meṃ). Darin erscheint Delhi in Gestalt eines Kindes, das sich über einen Regenbogen freut:
Es ist schon eine halbe Ewigkeit her,
dass Delhi einen Regenbogen gesehen hat
An dem Tag damals tauchte er plötzlich auf
und erstreckte sich über der Yamuna
riesig groß
und in alle seine sieben Farben getaucht!
Delhi hüpfte wie ein kleines Kind
klatschte in die Hände und rief,
„Guck, guck da am Himmel.‍“
Doch niemand hielt inne.
Auf der Straße rannte alles gerade so weiter
die Sitze der Mopeds pickepackevoll.
Der Gemüsemann wog gerade Gemüse
mit falschen Gewichten
und der Fahrradhändler
hatte die Regenbündel fest im Blick.
Wobei
als Delhi ein zweites Mal nach oben schaute,
auf der Brust zitterte schmetterlingsgleich
der Regenbogen des Monsuns –
da war er auch schon verschwunden
hinter dunklen Gewitterwolken.236
Sunita Jain lässt Delhi in ihrem Gedichtzyklus deshalb so plastisch vor Augen treten, da sie der Metropole nicht nur eine menschliche Gestalt verleiht, sondern sie auch mit einem Gefühlsleben ausstattet. Damit erzeugt sie den Eindruck einer persönlichen Bindung zwischen Individuum (lyrisches Ich, Leser) und Stadt. Von dieser Art der Aneignung hat bereits Swadesh Bharati in seinem Roman „Der Stadtfreund“ (nagar-baṃdhu) aus dem Jahr 1985 Gebrauch gemacht, in dem die bengalische Hauptstadt Kalkutta in einer poetisierenden Einleitung eine aktive Rolle zukommt (Kapitel 3.4.1).237 Die ehemalige Hauptstadt Britisch-Indiens wird nämlich zum Zeitzeugen und gleichzeitig zum „Macher“ ihrer eigenen Geschichte. Indem der Autor die Stadt personifiziert darstellt, hebelt er das Narrativ von der Gründung Kalkuttas durch die Briten aus und bietet stattdessen eine alternative Deutung an, die eine von der Kolonialzeit emanzipierte Stadt(geschichte) zum Gegenstand hat. Bharati benutzt den Stadtkörper als allegorisches Mittel, um die Stadt und ihre Geschichte aus einem alternativen Blickwinkel zu betrachten.
Das Verhältnis zwischen Stadt und Individuum, das haben die vorangehenden Beispiele gezeigt, wird durch die personifizierte Darstellung auf eine zwischenmenschliche Interaktionsebene gehoben und lässt gerade in Gedichten große Assoziations- und Interpretationsspielräume zu. Weniger groß ist der Interpretationsspielraum bei einem Aspekt des großstädtischen Organismus, der mit Hartherzigkeit und Vernichtung assoziiert wird, wie im nächsten Unterkapitel beschrieben.
2.2.3 Dämon Stadt
Die Stadt als Dämon erinnert stark an die literarische und filmische Darstellung der Großstadt als Moloch238 in der europäischen Lyrik und Erzählliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Insbesondere im deutschen Expressionismus (1910-1920) kam der Topos als Reaktion auf die industrielle Revolution auf: „Seit der Industriellen Revolution setzen sich Ausgestaltungen durch, in denen die Stadt das Wesen eines bedrohlichen Ungeheuers annimmt. Sie ist der Moloch, der seine Schöpfer verschlingt. Sie ist die Gesteinsmasse, die die Menschen erdrückt.‍“239 Die Thematisierung von individueller Existenzangst, „Menschheitsangst“, löste laut Elisabeth Frenzel die vom Naturalismus geprägten Milieuschilderungen ab. Städte wurden nun in ihrer grotesken und schockierenden Natur wahrgenommen.240 Entsprechend schlug sich die Dämonisierung der Großstadt in vielen Titeln nieder, etwa „Das große Ungeheuer“ (1901/04) von Karl Henckell, „Die Dämonen der Städte“ und „Der Gott der Stadt“ (1911) von Georg Heym, die „Steinerne Stadt“ von Georg Trakl (1914), Johannes R. Bechers „Die hungrige Stadt“ (1927), Bertold Brechts „Von der zermalmenden Wucht der Städte“ (um 1925), sowie die Anthologie deutscher Großstadtgedichte „Im steinernen Meer“ (1910).241 Auch der Filmregisseur Fritz Lang knüpfte in seinem Meisterwerk „Metropolis“ (1927) an diese Bildsprache an.
Warum ist dieser Topos auch in der Hindi-Literatur so verbreitet? Ein Grund ist sicher die große Beliebtheit Bertold Brechts unter marxistisch beeinflussten Schriftstellern der sozialkritischen Schule,242 worauf verstreute Hinweise in den Werken selbst hindeuten (vgl. auch Kapitel 3.1).243 Zum anderen scheint die literarische Repräsentation der Großstadt als gefräßiges Monster einer universalen Wahrnehmung (post)industrieller Gesellschaften zu entsprechen. In einer längeren Passage von Swadesh Bharatis „Stadtfreund“, die leicht variiert auch auf dem Buchrücken abgedruckt ist, wird Kalkutta als ein quälender Dämon beschrieben:
In den Wolkenkratzern dieser Stadt gibt es unzählige Schubfächer. Gefangen in diesen Schubfächern erduldet der Mensch in einem fort den großstädtischen Stumpfsinn und die Qualen, während die Stadt wie ein auf Krücken gestützter Monster-Dämon genüsslich die Existenz zahlloser Menschen zermalmt, die sich abrackern.244
Die Unbarmherzigkeit der Großstadt richtet sich vor allem gegen die Wanderarbeiter aus ländlichen Regionen in Awadh, Bihar oder Nepal, die nicht nur das glamouröse Nachtleben in Bars, Clubs und Hotels ermöglichen, sondern mit ihrer Arbeitskraft die Infrastruktur und den Dienstleistungssektor der Stadt überhaupt „am Laufen“ halten. Sie sind die Nahrung der ewig hungrigen Stadt.245 Wanderarbeiter in Delhi werden z.B. in der Kurzgeschichte „Der nicht angeklungene Ton“ (an'had nād) von Sudip (geb. 1942) Opfer einer blutrünstigen Stadt. Ganz konkret äußert sich der Blutrausch der Stadt in der Ausbeutung einer Gruppe von Wanderarbeitern, die auf einer Baustelle in Delhi lebt, und von denen sich der „Stadtkörper“ (śahar kā śarīr) ‚ernährt‘: „Die Stadt ist ein Dämon, dem ständig nach Blut dürstet. Sein Durst kann nie gestillt werden, Leute, nie…“246 So fordert der Blutdurst der Stadt am Ende auch ein Menschenopfer: Der Waisenjunge Miru, ein ausgelassener und fröhlicher Junge, der mit den Wanderarbeiterfamilien in dem temporären „Dorf“ lebt, stirbt beim Versuch, einen Drachen herunterzuholen, der sich in einem Stromkabel verfangen hat.
Neben dem für das Proletariat, hier Wanderarbeiter, besonders spürbare System der Ausbeutung zeigt sich die hässliche Fratze der Stadt auch in der Anonymität und Kälte unter ihren Bewohnern. In der Erzählung „Gasse Nr. 13“ (galī nambar terah) von Gyanprakash Vivek beschreibt der Erzähler die Stadt von Anfang an mit den Attributen eines Lebewesens: „Ich bin in dieser Stadt. Sie ist gleichzeitig in mir. Wenn ich die Stadt anschaue, schaut sie gebannt zurück, wie Wasser in einem Fluss, das die Reflexionen auf seiner Oberfläche betrachtet.‍“247 Der Protagonist Abhishek ist aus Delhi in eine nahe Kleinstadt gezogen, die er anfangs als verschlossen und provinziell erlebt; er vergleicht sie mit einem Schüler, der einschüchtert vor dem gestrengen Lehrer (Delhi) steht.248 Dabei sollte der Umzug ja gerade der Versuch sein, den Klauen der Großstadt zu entkommen: „Als ich der Großstadt entflohen und in diese Kleinstadt gekommen war, hatte ich gehofft, den brutalen Kiefern der Großstadt gerade noch mal entkommen zu sein, dabei bin ich geradewegs in die Mühlen dieser Stadt hier geraten.‍“249 Klauen, Schlund und Kiefer sind die äußeren Merkmale, die den Moloch charakterisieren. Die Stadt zermalmt den Menschen in der Regel, sie kann ihn aber auch ausspucken, was dann keineswegs einem Befreiungsschlag gleichkommt, sondern eher einem Rausschmiss desjenigen, der sich nicht behaupten kann, ob aus Pech oder Faulheit ist belanglos.250
In den Kiefern (jab'ṛe) bündeln sich diffuse Ängste des Einzelnen vor dem unbarmherzigen Moloch Stadt. Kunwar Narayans (1927-2017) Gedicht „Stadt und Mensch“ (śahar aur ād'mī)251 beschreibt, wie eine Dämonenstadt (daitya-śahar) einen Menschen in ihren blutbesudelten Kiefern zermalmt. Die Pointe ist, dass dem städtischen Organismus das menschliche Blut nicht bekommt:
Eine Dämonenstadt hat den Menschen
mit ihren blutbesudelten Kiefern zermalmt
und sich dann auf ihn draufgesetzt
Jetzt geht es nicht mehr nur um das Leben des Menschen,
sondern auch um das der Stadt
Sie hat den Menschen
auf übelste Weise zugerichtet
Doch das andersartige Menschenblut
hat etwas mit ihr gemacht
Oft hat man sie
wie einen kranken Mann
vor Schmerz wimmern hören.252
Dadurch, dass die Stadt zum Opfer ihrer eigenen Gefräßigkeit wird, löst sich in Narayans Gedicht die starre Täter-Opfer-Hierarchie auf; das Töten hat nun auch für die Stadt negative Konsequenzen. Die Metropole ist nicht mehr nur der übermächtige Dämon, der Willkür walten lässt, sondern sie erleidet selbst menschliche Qualen. Der provokante Vergleich „wie ein kranker Mann“ macht deutlich, dass sich das Machtverhältnis zwischen dem Stadt-Dämon und dem Individuum verschoben hat. Narayans Gedicht provoziert mit der Idee, dass sich die Stadt mit der Vernichtung ihrer eigenen Kinder ins eigene Fleisch schneidet. Das wirft die Frage nach dem urbanen Ethos auf: Die Hierarchie früherer ‚Moloch‘-Darstellungen wird – ähnlich wie bei zeitgenössischen Stadtbiographien, in denen versucht wird den städtischen Charakter zu definieren – durch einen Wahrnehmungswandel der Stadt als ‚normales‘ menschliches Wesen aufgebrochen.
Die verschiedenen Personifikationsformen der Stadt sind nicht nur ein narratives (und kognitives) Verfahren, um einen Zugriff auf das unüberschaubare Gebilde der Metropole zu erlangen. Sie erlauben uns auch, städtisches Erleben näher zu beleuchten. Einmal eröffnet die Stadt, vor allem in Gedichten, einen Raum für Ideen, Visionen und Utopien. In Sudha Jains Allegorie auf die Rosenstadt trügt der schöne Schein; alle Äußerlichkeiten entpuppen sich als falsche Importware, die Intellektuellen und Künstler der Stadt zeichnen sich in erster Linie durch ihr selbstbezogenes Gehabe aus.
Auch Sanjay Kundan legt in „Die Stadt der Visionen“ den Finger in die Wunde der Diskrepanz zwischen Realität und Traum. Das lyrische Ich beäugt skeptisch unrealistische Versprechungen und größenwahnsinnige Visionen politischer Planer. Gleichzeitig dient ihm die Stadt-Metapher an anderer Stelle dazu, die gemütliche private Lebenssphäre (ārām kā śahar) in Abgrenzung zum Arbeitsalltag auf einen Vorstellungsraum zu projizieren.
Zum anderen dient der Stadtkörper als narratives Mittel, um die Stadt in Gestalt einer Person oder eines Dämons, abzubilden. Sunita Jain erzeugt in ihrem „Delhi im Regen“-Zyklus durch die Vermenschlichung der Hauptstadt und deren Leidensfähigkeit eine große Nähe zwischen lyrischem Ich, dem Leser und der Stadt. Eine ähnliche Wirkung haben Harish Nawals satirische Glossen, die Delhis Charakter ergründen. Bewohner und Stadt sind hier untrennbar miteinander verbunden. Diese neue persönliche oder gar symbiotische Beziehung zur Metropole spiegelt sich auch in der sich wandelnden Wahrnehmung der Stadt als blutrünstiger Dämon wider: Während bei Bharati (1985) und Sudip (1995) Menschen – insbesondere Arbeitsmigranten – dem Moloch jederzeit zum Opfer fallen können, büßt er in Narayans Gedicht (2002) einen Teil seiner Übermacht ein: Der Stadtdämon fällt seinem eigenen Blutrausch zum Opfer.
Anhand personifizierter Stadtdarstellungen können wir eine Bandbreite ambivalenter Gefühle ablesen, die der Einzelne der Stadt gegenüber hegt. Es fällt auf, dass seit der Zeit um 2000 in unterschiedlichen Genres (Lyrik, Stadtbiographien und Memoiren, Glossen) besonders Delhis ‚Persönlichkeit‘ in den Mittelpunkt literarischen Schaffens gerückt wird, womit die Fremdheit der Metropole dem Wunsch nach Identifikation zu weichen scheint. Ein ähnliches Muster von Nähe und Distanz zwischen Stadt und Mensch lässt sich auch bei der Beschreibung von Schauplätzen beobachten.
2.3 Schauplätze
Vom Grad der Vertrautheit der literarischen Figur mit einer konkreten Stadt oder Urbanität allgemein hängt ab, was sie von ihr wahrnimmt. Ein erprobter Städter bewegt sich hauptsächlich in seinem gewohnten Umfeld, der Straße, dem Markt, seiner Nachbarschaft (mohallā). Dementsprechend konzentrieren sich die Beobachtungen eher auf das Alltägliche in einem begrenzten Teil der Stadt, häufig dem Wohnort. Im Gedicht „Zu den Märkten“ (bāzāroṃ kī taraf) von Kunwar Narayan geht der Erzähler ohne die Absicht etwas zu kaufen, eben nur zum Müßiggang, auf den Bazar.253 Bei Jitendra Bhatiyas Thriller „Der Augenzeuge“ (pratyakṣdar'śī) verweisen Toponyme, reale Ortsnamen wie Mominpur, Macchli Bazar, Iqbalpur oder Kalighat auf den geographischen Radius, innerhalb dessen sich die Handlung ereignet.254 In manchen Prosawerken, insbesondere in Romanen jüngeren Datums (v.a. ab 1990), meiden die einheimischen, oftmals älteren Protagonistinnen und Protagonisten das Städtische ihrer Umwelt, also den Verkehr, Lärm, Schmutz, die Menschenmassen und die Enge, indem sie die meiste Zeit des Tages im Haus oder in der Wohnung innerhalb einer gated community,255 verbringen und nur hinausgehen, um Einkäufe zu erledigen oder um in den ruhigen und kühleren Abendstunden im Park spazieren zu gehen, wie Krishna Sobtis (geb. 1925) betagte Hauptfiguren im Roman „Melodie der Zeit“ (samay-sar'gam).256
Ein Fremder hingegen wird andere Dinge sehen als jemand, der in der Stadt zu Hause ist. In Texten, die aus der Perspektive des Neuankömmlings erzählt sind, stechen einzelne Bestandteile der urbanen Topographie auffällig oft heraus. Zu prominenten Motiven zählen etwa Gebäude mit Wiedererkennungswert, also Wahrzeichen oder landmarks, die sich zumeist im Zentrum der Stadt befinden. In den Werken des sozialkritischen Realismus der 1970er und 80er Jahre (Kapitel 3.1) sind neben Hochhäusern auch qualmende Fabrikschlote Erkennungszeichen für große Städte.257 Die v.a. männlichen Autoren dieser Schule waren dem ungeschönten Beschreiben realer Verhältnisse und Schauplätze verpflichtet, um damit auf die Ausbeutung der Arbeiterklasse aufmerksam zu machen. Warum sich Schriftsteller mal für ein realistisches Setting und eine bestimmte Stadt entscheiden, mal den städtischen Schauplatz absichtlich anonym halten, hat Gründe, die sich nicht alleine aus dem Erfahrungshorizont der Figur erklären lassen.
2.3.1 Reale und fiktive Schauplätze
Ob die Handlung von Textstädten in erfundenen Räumen spielt oder ob Referenzen auf textexterne reale Schauplätze enthalten sind, läuft nicht zwangsläufig auf eine entweder-oder-Frage hinaus. Die Literaturwissenschaftler Matías Martínez und Michael Scheffel verweisen auf „unbestimmte reale Orte“, deren „‚realistischer‘ Charakter und spezifische Beschreibungen“ den Eindruck eines konkreten realen Ortes erwecken.258 Geetanjali Shrees Roman „Unsere Stadt in jenem Jahr“ spielt in einer anonymen Stadt mit einem solchen realistischen Charakter. „Unsere Stadt“ weist alle typischen materiellen und strukturellen Merkmale einer (nord)indischen Großstadt auf: Es gibt einen Bahnhof, eine Brücke, Gassen und Straßen, Viertel, Märkte und einen Glockenturm.259 Dass sich die Autorin einer eindeutigen namentlichen und damit geographischen Festlegung entzieht, ist sicherlich beabsichtigt, wenn die Gründe dafür auch vielschichtig sein können. Eine Erklärung könnte sein, dass die komplexe Konfliktsituation zwischen Hindus und Muslimen exemplarisch durchexerziert werden soll.260 Der Roman nimmt auf die gewaltsamen Unruhen (communal riots) Bezug, die nach der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya (Uttar Pradesh) durch fundamentalistische Hindus im Jahr 1992 in einigen nordindischen Städten ausbrachen. Der Streit um die Moschee, die der Überzeugung vieler Hindus nach auf dem Geburtsplatz des Gottes Rama errichtet wurde, war ein kritischer Schlüsselmoment in der Geschichte des – bis auf die Pogrome während der Teilung 1947 – weitgehend friedlichen Zusammenlebens von Hindus und Muslimen im säkularen Staat Indien. Danach kam es immer wieder zu schweren Ausschreitungen, wie 2002 in Ahmedabad (Gujarat), bei denen hunderte Menschen, darunter viele Muslime, ermordet wurden.
Shrees Roman thematisiert die soziale, religiöse und politische Entmischung einer Stadt in den 1990er Jahren, in der eine Brücke zum trennenden Element zwischen der muslimisch geprägten Altstadt und dem Universitätscampus wird und sinnbildlich für das Scheitern der säkularen Stadtkultur steht. Die Bruchlinie des Konflikts verläuft entlang stadttopographischer Grenzen: Eine Brücke verbindet die muslimisch geprägte Altstadt und sozialem Brennpunkt,261 mit dem Universitätscampus auf der anderen Seite. In der Altstadt, in der mehrheitlich Muslime leben und das von engen Gassen, Schmutz und hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist, sind Unruhen, communal riots, ausgebrochen. Diese verschärfen sich durch ein Hindu-Kloster, das sich direkt hinter dem an der Universität angrenzenden Park befindet, in dem seit neuestem hindunationalistische Propaganda in Form religiöser Lieder und Belehrungen aus Lautsprechern dröhnt und in Prozessionen sichtbar wird. Die Geographie der Stadt ändert sich durch die zunehmende räumliche und gefühlte Präsenz des Klosters.262 Sein wachsender Einfluss sedimentiert sich in der Infrastruktur: Vor dem Kloster entsteht z.B. eine nach der im Kloster verehrten Hindu-Göttin Jagadambe benannte Überführungsstraße (Flyover).263 Die Straße wird zum potentiell gewaltvollen Raum, der den Nährboden für religiöse Hetze und Gewalt bereitet. Geetanjali Shree zeichnet in die Stadtlandschaft das Portrait einer Gesellschaft, die von Umbruch, Ungleichheit und Gewalt zerrissen ist. Die Topographie wird zum Abbild für die Spannung zwischen Säkularismus und religiösem Fanatismus,264 die in den vergangenen Dekaden in Gewalt umgeschlagen ist. Dass die Brüche eines solchen Konflikts nicht nur durch die Öffentlichkeit gehen, sondern sich auch im Privaten vollziehen, schildert Shree anhand ihrer Hauptfiguren. Im Zentrum der Geschichte stehen die drei Freunde Sharad, Shruti und Hanif, die in ihrem akademischen, journalistischen und literarischen Wirken (Hanif und Sharad lehren an der Universität, Shruti ist Schriftstellerin) über die religiösen Zusammenstöße von Hindus und Moslems in ihrer Stadt berichten und aufklären wollen. Mit der wachsenden Gewalt und dem Scheitern ihres selbsterwählten Auftrags, die Stimme gegen Vorurteile und sozio-politische Missstände zu erheben, geraten sie selbst in den Sog vergifteter Gefühle. Ihr humorvoller und unbeschwerter Umgang miteinander schlägt bald in zynische Hilflosigkeit um. Es geht Shree weniger darum, einen historischen Konflikt anhand realer Ereignisse zu rekonstruieren, als vielmehr zu erzählen, wie die Risse des Konflikts in den öffentlichen und privaten Raum gleichermaßen hinein wirken.
In einigen Kurzgeschichten lassen eingestreute Straßennamen den lockeren Bezug zu einer realen Örtlichkeit erkennen, wobei sie nicht zentral für das Verständnis der Handlung sind, sondern eher als Hinweis auf die Authentizität des städtischen Schauplatzes zu verstehen sind. Erfolgreiche Krimi-Autoren wie Surendra Mohan Pathak (geb. 1940) pflegen einen exzessiven Umgang mit realen Ortsbezeichnungen, um das Setting so realistisch und das Geschehen so packend wie möglich zu machen.265 Dabei kommt es nicht so sehr auf die korrekte Wiedergabe der jeweiligen topographischen Zusammenhänge an als vielmehr auf die von Martínez und Scheffel beschriebenen kognitiven trigger oder Zeichen, die „das geographische und kulturelle Hintergrundwissen der Leser aufrufen, das die expliziten Rauminformationen des Textes ergänzt.‍“266 Ein hervorstechendes Beispiel für einen Roman, dessen Plot unauflöslich mit dem Stadtraum verwoben ist, ist „Umweg nach Kalkutta“ von Alka Saraogi. Der Protagonist Kishor Babu läuft die Straßen von Bada Bazar (baṛā bāzār) ab, jener Gegend von Nord-Kalkutta, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hat, und taucht damit in seine eigene Vergangenheit ein, die gleichzeitig mit der der bengalischen Metropole verwoben ist: „Kiśor vagabundiert durch die Schauplätze seines Lebens. Damit verbindet er die Gegenwart des ausgehenden Jahrtausends mit seiner eigenen und mit der Vergangenheit seiner Familie. Die Straßen und Plätze verlieren so ihre lediglich ortsangebende Funktion und gewinnen tiefere, meist abgründige Konnotationen.‍“267 Die Toponyme und detaillierten Wegbeschreibungen suggerieren dem Leser nicht nur, er begleite Kishor Babu auf dessen Streifzügen durch das ‚alte‘ und ‚neue‘ Kalkutta, sondern sie fungieren darüber hinaus als kognitive trigger, um die metaphorischen Schichten der Textstadt freizulegen.
2.3.2 Wahrzeichen und Erinnerungsorte
Der Connaught Place in Delhi, das Gateway of India in Mumbai und Park Street in Kalkutta zeichnen sich nicht nur durch ihre topographische Lage als zentrale Orte aus, sondern sind darüber hinaus auch mit einer zeichenhaften bzw. symbolischen Bedeutung versehen. Wahrzeichen oder Landmarken sind Orte mit einem hohen Wiedererkennungswert. Sie zählen zu den fünf Elementen, aus denen sich Kevin Lynch zufolge die kognitiven Stadtpläne (mental maps) zusammensetzen, mithilfe derer wir uns im urbanen Raum bewegen und orientieren. Zu Beginn von „Connaught Place“ (kanāṭ ples, 1999) von Jagadish Chaturvedi (1929-2015) werden die Eindrücke des jungen Jatin mittels erlebter Rede geschildert, als er am Bahnhof von Neu-Delhi ankommt und anschließend mit dem Scooter zu seiner Unterkunft gefahren wird, wo er sehr freundlich empfangen wird. Unterwegs staunt er über die imposanten Gebäude, die Kühe auf den Straßen, die breiten Boulevards und Kreuzungen.268 Solche Orte funktionieren als kognitive trigger, „ein geografisches und kulturelles Hintergrundwissen des Lesers aufrufen“.269 Aber auch für die Protagonisten selber bieten sie Orientierung und Halt in der Fremde.270
In den Textstädten überlappen sich die Orientierungsfunktion mit weiteren semiotischen Bedeutungen, die etwa einem Erinnerungsort zugeschrieben werden. Gewiss sind diese Bedeutungen unterschiedlich stark ausgeprägt, je nachdem, wie präsent die Orte in der literarischen Wahrnehmung und im kulturellen Gedächtnis verankert sind. Ein prominenter Fall ist das Dreigestirn aus Gateway of India, Tajmahal Hotel und Marine Drive, auch bekannt als Queen’s Necklace, das Mumbais kosmopolitisches Image und den Mythos von der Traumstadt speist: „Running along Mumbai’s arcing southwestern shoreline, Marine Drive calls to mind the visual drama of the city by the sea. This is where one can observe the imagination to create the city as a society of immense openness – open to the sea, exposed to influences from far and wide, a dream city of cosmopolitan desire.‍“271 Auch Nariman Point, Juhu und Chaupati Beach werden in Filmen und Erzählungen über Mumbai (Bombay) mit Erholung und Freizeit, Unterhaltung, Zeitvertreib und romantischen Treffen in Verbindung gebracht. Bei der visuellen und narrativen Präsenz dieser national bedeutenden Orte überrascht es, dass sie, wie das Gateway of India und der Connaught Place, zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Monumente der britischen Herrschaft in Indien errichtet worden waren. Nariman Point entstand sogar erst in den 1970er Jahren im Zuge von Landgewinnungsmaßnahmen.272 Gleichzeitig arbeiten sich einige Autoren am Klischee des ikonischen Wahrzeichens ab. Sie heben das inhärent Ambivalente dieses Sehnsuchtsorts heraus, indem sie es mit der Einsamkeit ihrer Charaktere oder den Schattenseiten der Stadt, wie Armut und Prostitution, kontrastieren.273 Doch bei dieser Art der Entmystifizierung muss es nicht bleiben. Im Gegenteil, sie kann auch zum Ausgangspunkt für eine Begegnung werden, wie Manoj Rupra (geb. 1963) sie in der Erzählung „Unstrument“ (sāz-nāsāz) schildert (Kapitel 3.4.2). Das paradoxe Gefühl von Einsamkeit, das sich für den Einzelnen angesichts des lebhaften Rauschens der Großstadt einstellt, löst sich mit dem Auftritt eines Saxophonisten auf:
An dem Abend damals lag ich auf der Kaimauer am Nariman Point, die sich über einige Kilometer erstreckt und Ozean wie Stadt ihre Grenzen spüren ließ. Außer mir saßen noch so ein paar Leute wie ich auf der Mauer. […] Von meiner neutralen Position aus sah ich den Monsunwolken dabei zu wie sie sich balgten und dachte bei mir, ach Mensch, wenn ich doch auch einen Freund hätte in dieser Stadt! Bevor ich nach Bombay gekommen war, hatte ich ein aktives Leben voller Freundschaften und Kontakte, während mich hier trotz der alles durchdringenden Nähe nichts wirklich berühren konnte. Als ich gerade versuchte, den großstädtischen Lebensstil mit meinem kleinstädtischen Leben zu vergleichen, hörte ich plötzlich ein Saxophon.274
Zentrale Orte wie Marine Drive haben eine Anker-Funktion, die dem – auch in existentieller Hinsicht – orientierungslosen Subjekt Halt geben sowie Gedanken und Erinnerungen stimulieren. Ein solcher Ort ist auch das berühmte Gateway of India, das noch zu Kolonialzeiten, zwischen 1911 und 1924, zur Erinnerung an den Besuch von King George V. im Jahr 1911, errichtet wurde. Es nimmt in den Geschichten häufig die Funktion eines Erinnerungsortes ein. In der Science Fiction-Dystopie „Bis zur nächsten Finsternis“ (ag'le aṁdhere tak) von Jitendra Bhatiya (geb. 1946) symbolisiert es das „alte“ Bombay, so wie der Hauptprotagonist es in Erinnerung hat, nachdem er aus einem mehrere Jahrzehnte andauernden Koma erwacht (Kapitel 3.3.2). Während das direkt dahinter befindliche Tajmahal Hotel zu einer Ruine verkommen ist, hat das Gateway of India Terror und Umweltzerstörung getrotzt:
Wir fuhren wieder mit der Rolltreppe hinauf und da, wo alles in ein angenehmes Licht getaucht war, kamen wir aus dem Tunnel hinaus ins Freie. Dazu kam, dass der Anblick dessen, was ich links von mir sah, mein Herz fast stillstehen ließ. Gar nicht weit vor mir ragte ein vertrautes Gebäude empor: Das Gateway of India. Keine Ahnung, was in diesem schwachen Moment in jener fremden Stadt in mich fuhr, als ich wie von Sinnen losrannte und das Symbol britischen Imperialismus, dieses leblose Ding aus rotem Backstein unter meinen Händen spürte und fürchterlich in Tränen ausbrach, weil mir so war, als nähmen mich Bhaskar oder Javed Ahmad oder Nirmala in den Arm.275
Eine ähnliche Überlappung von nationalem und persönlichem Erinnerungsort ist in Mridula Gargs (geb. 1938) „Gegen den Strich“ (vilom) zu beobachten.276 Die Hauptfigur, eine Frau mittleren Alters, kehrt nach Bombay zurück, wo sie vor vielen Jahren einmal gelebt hat. In ihrer Bestürzung, dass sie nichts wiedererkennt, begibt sie sich zum Gateway of India, dem mnemonischen Fels in der Brandung städtischer Veränderung, so hofft sie jedenfalls. Doch bis auf bittere Erinnerungen an ihren damaligen Liebhaber kann sie keine Verbindung zum Bombay ihrer Vergangenheit herstellen: „Vielleicht bin ich einfach am falschen Ort. Das Gateway of India war bisher nur Zeuge meines Verlusts, deshalb ist es wohl aus meinem Bewusstsein gestrichen.‍“277 Das Gateway of India ist in beiden Geschichten mehr als nur ein narrativer Anker, um die Vergangenheit der Protagonisten lebendig werden zu lassen. Es wird auch als nationaler Erinnerungsort zitiert und gleichzeitig produziert: „Wegen ihrer Breitenwirkung“, so Christoph Heyl, „kann die Belletristik so bei der Platzierung von Erinnerungsorten in der Stadt zu einem überaus wirkmächtigen Faktor werden“.278 Beide Beispiele verdeutlichen, dass ein ikonischer Ort wie das Gateway of India nicht alleine durch seine historische Bedeutung zu einem Wahrzeichen avanciert, sondern dass er in kulturelle Sinnprovenienzen eingebunden ist, die aus Erfahrungen und Ausdrucksweisen schöpfen, wie auch die Literatur sie erzeugt.
2.3.3 Zentrale urbane Lokalitäten
Abgesehen von zentralen Orten im engeren Sinne, also Wahrzeichen oder Landmarken, sind noch eine Reihe anderer bedeutsamer Lokalitäten zentral für die Hindi-Stadtliteratur, da mit ihnen bestimmte lebensweltliche Tätigkeiten, „Kollektivvorstellungen“,279 Erfahrungen und Werte verknüpft sind. Eine Lokalität (locality) ist Henrike Donner und Geert de Neve zufolge die „konkrete Manifestation räumlicher Konzepte, Erinnerungen und Praktiken, die soziale Beziehungen formen“ sowie ein „Ort […] individuellen Wirkens“.280 In den hier besprochenen Hindi-Texten zählen dazu Gasse, Straße und Bürgersteig, Haus, Innenhof und Dachterrasse, Bazar, Paan- und Chaiwala, Coffee House, Bar, sowie Bahnhof und Vorortzug, um nur die wichtigsten zu nennen. Auffällig ist, dass von diesen Schauplätzen nur Haus, Innenhof und Dachterrasse eindeutig der Sphäre des Privaten zuzuordnen sind, wobei selbst dort die Übergänge fließend sein können: Die Dachterrasse bildet etwa eine Brücke vom Privaten zum Öffentlichen, denn sie erlaubt dem Beobachter, visuell am städtischen Geschehen teilzunehmen, ohne mit der Masse in Berührung zu kommen.
Öffentlicher Raum (public space) ist – sowohl in Indien als auch in den Textstädten – von überlappenden Zonen von Privatem und Öffentlichem geprägt281 und schließt daher semi-private Räume wie die Gasse oder Straße mit ein. Das gilt vor allem dann, wenn entweder kein privater Wohnraum existiert, oder, und das ist die Regel, die Protagonistinnen und Protagonisten der Einsamkeit der eigenen (provisorischen) Unterkunft entfliehen wollen und Ablenkung oder Anschluss suchen.282 Zum anderen bietet die traditionelle Nachbarschaft (mohallā), wie sie in Altstädten oder in Vierteln mit einer hohen Minoritätsdichte zu finden ist, eine erweiterte Lebenssphäre, in der öffentlicher und privater Raum ineinander verschränkt sind.283 Erst jüngere Werke lassen eine stärkere Trennung von privat und öffentlich, und einer damit einhergehenden sozioräumlichen Abgrenzung erkennen.284 Auffällig ist, dass es sich dabei um Werke von Frauen handelt, deren Erfahrungsraum traditionell stärker auf das Häusliche beschränkt ist. Sicher wäre es lohnenswert, den Gründen für diese Entwicklung in einer gesonderten Untersuchung nachzugehen, doch im Folgenden sollen solche städtischen Lokalitäten betrachtet werden, die eine Übergangszone zwischen öffentlich und privat schaffen, und in deren literarischer Bearbeitung Vorstellungen des Lokalen und lokaler Erfahrung entwickelt werden. Die Gasse (galī), Straße (saṛak), die Kreuzung (caurāhā, cauk) und der Bazar (bāzār) konstituieren auf unterschiedlichen Skalen die räumliche Einheit des mohallā oder Viertels, in dem sich das alltägliche private wie öffentliche Leben größtenteils abspielt. Begreift man Skalen, wie Martina Löw, als relationales Konzept, kann dies hilfreich sein, um „das Lokale als Bezugssystem neben dem Nationalen und dem Globalen zu fassen […].‍“ Daraus folgt, dass „das Lokale in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung eine Maßeinheit zur Analyse des Denkens und Handelns ist, aber auch in seiner räumlichen Ausprägung als spezifizierbarer Ort gedacht wird. Dieser Ort ist jedoch nie ‚rein‘ lokal. Vielmehr ist es die Art des Zusammentreffens von Lokalem und Globalem, die Orte so einzigartig und distinkt werden lässt.‍“285 Mit Bezug auf andere Konzepte wie Glokalisierung286, das im Kern auf der Annahme beruht, dass auch Orte das Globale konstruieren, hebt Löw die Dialektik von Lokalem und Globalem hervor: Beide Prozesse verliefen parallel und simultan.287 So weit der Stand der neueren Stadtforschung. Beim Blick in die Hindi-Literatur wird klar, dass die Autorinnen und Autoren diesem Konzept durchaus widersprechende Ansichten davon entwickeln, in welchem Verhältnis das Lokale zum Globalen steht und umgekehrt. Besonders gut lässt sich das anhand von Beschreibungen der Gasse beobachten.
Die Gasse repräsentiert als kleinste Einheit (nach dem Haus) zwei Seiten der Medaille Tradition. Zum einen steht die dunkle, enge Gasse für Rückständigkeit, Kriminalität, Armut, Dreck und Überbevölkerung.288 Als Jitendra Bhatiyas „Augenzeuge“ auf eigene Faust versucht, den Anführer der Bande aufzuspüren, der in seinem Viertel auf offener Straße einen Mord begangen hat und nun ihn und seine Frau bedroht, gerät er immer tiefer in eine enge und stockdunkle Gasse hinein, während er ein Mitglied der Bande verfolgt: „Kaum dass ich mich durch das dichte Gewirr aus ärmlichen Hütten geschlagen hatte, gelangte ich auf der anderen Seite in einen Dschungel eng aneinander gedrängter Häuser. Hier stützte eine Mauer der alten Behausungen die andere und in den engen Wegen dazwischen herrschte tiefste Dunkelheit.‍“289 Auch die Gassen in Shrees „Unsere Stadt in jenem Jahr“ werden mehrfach als Nährboden für die brandstiftende Propaganda identifiziert, die schließlich in kommunalistische Gewalt umschlägt: „Die Stadt, vor der du dich fürchtest, existiert nicht. Die dunklen Gassen, die brüllenden Menschen, das ganze Labyrinth, nichts davon ist real.‍“290
Auf der anderen Seite ist die Gasse der Inbegriff eines traditionell klein­st‍ädtischen Lebens(stils), wie Nasira Sharma (geb. 1948) ihn in „Steingasse“ (patthar galī)291 oder Gyanprakash Vivek (geb. 1949) es in „Gasse Nr.13“ (galī nambar terah) beschreiben. Viveks Erzähler dokumentiert mit Sorge die Veränderungen, die in der Kleinstadt vor sich gehen, in die er gezogen ist:
Dort, an der Kreuzung in der Mitte der Gasse, da war früher der Chat Pakori Imbiss – dieser vollgeräucherte pechschwarze Laden! Seine Samosas waren gerade auch deshalb so gut, weil er sie immer bei niedriger Flamme frittierte. Heute ticken die Leute anders und auch der Charakter der Gasse ist ein anderer. Nicht nur die Gasse, die Geschäfte auch. […] Vielleicht wechseln ja gerade alle Gassen in der Stadt ihre Kleider.292
Gyanprakash Viveks Novelle „Gasse Nr. 13“ (1998) greift die populäre Vorstellung auf, das Globale sickere in die Ebene des Lokalen hinein, wo sie einen gesellschaftlichen Mikrokosmos verändere. Die Novelle wird aus der Perspektive Abhisheks erzählt, der seit kurzem in einer Kleinstadt nahe Delhi lebt. Er ist aus der Metropole weggezogen, weil die Mieten in der Kleinstadt günstiger sind und das Umfeld insgesamt eine höhere Lebensqualität verspricht. Abhishek berichtet, wie er allmählich der Stadt und ihren Bewohnern näher kommt, zunächst nur durch Geräusche, die er von seiner Wohnung aus wahrnimmt, später durch Begegnungen in der Gasse, der Straße und auf dem Markt. Die Stadt wird erst zu seiner Stadt, als er seine Nachbarn kennenlernt. Die Menschen, mit denen Abhishek Bekanntschaft schließt, spiegeln die Diversität der indischen Gesellschaft wider, wobei die Darstellung nicht frei von einer gewissen Schematik ist. Dazu zählen Kinder mit berufstätigen Eltern, ein literaturinteressierter Jugendlicher auf Arbeitssuche, ein Moslem, der dem Alkohol zuspricht, eine behinderte Frau mit einer tragischen Liebesgeschichte, eine kauzige Christin, die in einem kolonialzeitlichen Haus lebt, sowie skrupellose neureiche Geschäftsleute, die Amerika nacheifern. Bald erkennt Abhishek, dass die Gasse, in der er wohnt, selbst eine Stadt ist: „Diese Gasse ist eine Stadt, die Möglichkeit einer Stadt. […] Ja wirklich, die Gasse hier ist ein Gesicht, das Antlitz der ungleichen Niveaus in unserem Land.‍“293 Weiter heißt es: „Diese Gasse kommt mir vor wie ein lebendiges Dokument aus Gesichtern. Langsam lese ich in den Gesichtern wie in einem Buch. Allmählich frage ich mich, ob wir in der Gasse wohnen oder doch die Gasse in uns wohnt. Gassen der Zuversicht, die neue Richtungen einschlagen.‍“294
Doch diese Hoffnung endet, als die Kleinstadt sich modernisiert und ihr soziales Gefüge aus dem Gleichgewicht gerät. Allmählich verschwinden die kleinen, traditionellen Garküchen und Läden etwa des Paanwalas und Vaidyas, einem ayurvedischen Arzt, und damit auch Solidarität, Ehrlichkeit und niedrige Preise. In die ayurvedische Praxis zieht nun ein Maklerbüro ein. Die Gasse ist zum Markt geworden.295 Während Abhishek die Straße betrachtet, spricht ihn ein Schuhflicker an. Er erinnert sich an die alten Tage, als es noch ruhiger zuging und nicht alle durch die Gegend hasteten, als es noch mehr Bäume in der Stadt gab und das Haus der Christin Maria noch nicht ganz heruntergekommen war. Kumar macht jetzt Karriere in Delhi und vernachlässigt seine früheren Kontakte und familiären Pflichten. Abhishek bedauert, dass es nun, fünf Jahre nach seinem Umzug, weniger Grün gibt und manche alte Häuser verfallen, während ständig neue Geschäfte eröffnen. Als er beruflich nach Chandigarh umziehen muss, fällt ihm der Abschied dennoch schwer: „Vom Zug aus blickte ich der Stadt nach. Ich erinnerte mich an eine Stadt. Eine Stadt, in der eine Gasse war. Eine Gasse, in der ich das Fest menschlicher Beziehung gefeiert habe.‍“296
Vivek beschreibt das Ideal eines lokalen Gefüges, das sich über Beziehungen und traditionelle Hierarchien definiert, und das von schleichenden ökonomischen Einflüssen von außen gefährdet ist. Symptomatisch steht hierfür das Maklerbüro, das in die ehmemalige ayurvedische Praxis einzieht. Die Gasse – der Inbegriff des Lokalen – manifestiert sich als erstrebenswerte Form städtischen Zusammenlebens. Sie ist eine Lokalität, die über ihre geographische Bedeutung hinaus als Keimzelle traditionellen urbanen Zusammenlebens im weiteren Familienkreis (joint family) oder in engen Nachbarschaftsbanden verstanden wird. Gassen oder Nachbarschaften (mohallās) dient auch in anderen Geschichten als gesellschaftlicher Mikrokosmos, in dem die städtische Modernisierung immer auch vor dem Hintergrund gesehen wird, in welche Richtung sich die Nation entwickelt.297 Der Erzähler nimmt die Auswirkungen der wachsenden Urbanisierung und Kommerzialisierung als Bedrohung für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt und für die Diversität des Lokalen wahr, welches das Zentrum seiner Welt bildet.
Die Gasse steht für traditionelle Werte und gesellschaftliche „Einheit in Vielfalt“ – dem Wahlspruch für das unabhängige Indien – die zu zerbrechen drohen. In diesem Licht liest sich Viveks Geschichte wie eine Homogenitätserzählung, die sich durch „kulturkritische Selbstanklage und Idealisierung des ‚Einen‘, das in Fragmente zu zerfallen droht“, auszeichnet.298 Eine solche Darstellung steht dem stadtsoziologischen Konzept von der Dialektik des Lokalen und Globalen, die sich wechselseitig beeinflussen und hervorbringen, entgegen. Die lokale Lebenswelt (Gasse) ist bei Vivek eine authentische Sphäre, in die das Globale einbricht. Auch der moralisierende Gestus, in dem die Novelle erzählt wird, unterstreicht eine konservative Sichtweise auf die zunehmende Kommerzialisierung der städtischen Lebenswelt, wie sie in den Neunziger Jahren, der Entstehungszeit der Erzählung, gerade für die unteren Mittelschichten stark spürbar gewesen sein dürfte.
Mit einem ganz ähnlichen Thema – dem kulturellen und sozio-ökonomischen Wandel unter dem Eindruck des globalen Tourismus in der Provinzstadt Varanasi (Banaras) – beschäftigt sich ein anderes Buch, das wenige Jahre nach Viveks Novelle erschien: Kashinath Singhs „Mohalla Assi“ (Kapitel 4.2). Auch Singh (geb. 1937) erschließt die heilige Stadt am Ganges aus einer lokalen Perspektive.299 Im Gegensatz zu Vivek tut er dies aber auf eine satirische und erzählerisch sehr viel vielschichtigere Weise, bei der die simplifizierende Hierarchie von global und lokal permament durchbrochen und verdreht wird. Das Lokale wird nicht nur zum Empfänger globaler Einflüsse wie dem Tourismus, sondern produziert diese aktiv mit. In der selbstironischen Darstellung des Erzählers wird das Viertel Assi durch den Vergleich mit Paninis Grammatik (aṣṭhādhyāyī) zum Nabel der Welt erklärt, während der Stadt Banaras lediglich die untergeordnete Funktion eines Kommentars (bhāṣya) zukommt und der Rest der Welt, v.a. Amerika, gar zu dessen Subkommentar (ṭīkā) degradiert wird.300 Das Viertel wird durch diesen Vergleich nicht nur zum geographischen Mittelpunkt der Welt, sondern auch zur autoritativen Instanz für die Deutung der heiligen Stadt am Ganges. Ein Großteil der Handlung ist in und um einen Teeladen herum angesiedelt, der zum Gradmesser für das urbane Ethos wird. Heinz Werner Wessler resümiert:
Assī is the microscopical image of traditional Banāras as a whole, and Pappū’s tea shop is again Assī in a nutshell. […] Mastī [Joy of life, J.H.] is present in Kashinath Singh’s novel, but at the same time the world and its problems are very much alive in the talk among the costumers in the teashop. Their interactions are full of comments not only on local but also on national and international politics. ‚The experts may have explained globalization, liberalization, multinationalism – and many other kinds of -izations in their own way, but Lāṛherām has understood it in his own way.‘301
Auf der lokalen Ebene werden regionale, nationale und internationale Belange diskutiert und vor dem Hintergrund des florierenden Geschäfts mit Touristen entsteht ein eigenes, lokales Verständnis von westlich geprägten Konzepten wie das der Globalisierung. Die Frage, ob Singh mit seinem Roman nicht über ein urban village schreibt, ist daher mit Skepsis zu begegnen. Zwar lässt die große Bedeutung von Gemeinschaft vermuten, dass sich der Mohalla Assi aus einem Netz zwischenmenschlicher Beziehungen und Abhängigkeiten konstituiere,302 jedoch deckt obiges Zitat die street cleverness auf, mit der die Bewohner mit wirtschaftlichen und sozio-politischen Transformationen umzugehen verstehen, indem sie abstrakte Prozesse wie Globalisierung und Liberalisierung in ihrem eigenen, lokalen Verständnis interpretieren.
Singhs Roman macht deutlich, dass Orte des Konsums wie der Paan- und der Tee-Laden zu wichtigen öffentlichen Knotenpunkten des sozialen und politischen Lebens der Einheimischen gehören. Diese Orte sind integraler Bestandteil des urbanen Alltags.303 In Jitendra Bhatiyas „Deadline“ (samay-sīmānt, Kapitel 3.1) trifft Subhash, der Hauptprotagonist, beim abendlichen Herumlaufen am Paan-Laden seinen Bekannten Birju, mit dem er daraufhin durch die Nacht zieht: Beim Paan- und Chaiwala laufen zudem Informationen über Personen aus der Gegend zusammen.304 Er bietet Raum und Zeit für Konsum, Müßiggang und ausgedehnte Nachbarschaftspflege, was natürlich Klatsch und Tratsch mit einschließt. Mehr als das, die Teebude ist bei Singh ein politischer Ort, wo über politische Ereignisse (z.B. die Ram Janmbhumi-Kampagne, der die Zerstörung der Babri-Moschee 1992 folgte, die Mandal-Commission sowie regionale und nationale Wahlen) debattiert werden, und wo Wahlkämpfe ausgetragen werden.305
Was die Teebude für ein eher kleinbürgerliches Publikum ist, ist das Kaffeehaus für das großstädtische Milieu von Intellektuellen, Künstlern, Geschäftsleuten und Studenten. Jagadish Chaturvedi erzählt in „Connaught Place“ aus der Perspektive eines Neuankömmlings, der in den Coffee House-Zirkel eingeführt wird, wie Neu-Delhi in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit eine magnetische Wirkung auf junge Hindi-Literaten und -Kritiker ausübte.306 Der Roman steckt voller Anspielungen auf reale Persönlichkeiten der damaligen Zeit, darunter Shrikant Varma und Ravindra Kaliya,307 und auch die Widmung des Autors richtet sich an all jene, mit denen er „denkwürdige Abende“ im Tea House verbracht hat.308 Die Ortsbezeichnung „Connaught Place“ verweist daher nicht nur auf das geographische Zentrum Delhis; es steht auch für die Zeit der 1950er und 60er Jahre, in der Tee- und Kaffeehäuser die Hotspots der Literatenszene waren.309 Als bedeutende Versammlungsorte für örtliche Künstler und Intellektuelle stehen sie in der Tradition einer bengalischen Institution, dem sogenannten aḍḍā („Treffpunkt“ oder „Versammlungsort“). Der Begriff bezeichnet regelmäßig stattfindende Zusammenkünfte der respektablen Gesellschaft (bhadralok) im kolonialen Bengalen zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch wenn die aḍḍāvālas ganz bewusst den Vorbildern, nämlich Salons und Kaffeehäusern in Paris, London und Berlin nachfolgten, bildeten sich doch ganz eigene lokale Umgangs- und Kommunikationsformen aus, mit der Europa, Dipesh Chakrabarty zufolge, metaphorisch „provinzialisiert“ wurde.310
Ravikant Sharma skizziert in einem Aufsatz, wie das Coffee und Tea House in Delhi um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Magneten des öffentlichen Lebens wurde: „Writing about coffee (or tea) houses, in other words, is writing about a key public space that made literary and journalistic imaginary of a modern city possible.‍“311 Durch die Netzwerke, die sich rund um eine Tasse Chai oder Kaffee sponnen, entwickelten sich die Tee- und Kaffeehäuser im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu wichtigen Kreativzellen für die auf Hindi schreibenden Literaten, Journalisten, Karikaturisten und andere Bild- und Sprachkünstler, von denen einige autobiographische Erinnerungen an das Coffee House der ersten postkolonialen Jahrzehnte zeugen. Zum Beispiel zollen Nirmala Jain (geb. 1932) mit „Delhi, Stadt für Stadt“ (dillī śahar dar śahar) und Baldev Vanshi (geb. 1937) in „Delhi Tea House“ (dillī ṭī hāuz) dieser Zeit ihren Tribut.312 Vanshi, Herausgeber der umfangreichen Anthologie mit Essays und Memoiren, setzt die Geschichte des Delhi Tea House mit der Geschichte literarischer Aktivitäten in der Hauptstadt gleich. An einer Stelle beschreibt Vishnu Prabhakar lakonisch, wie die Anhänger der einzelnen literarischen Schulen (Nayī Kavitā, Nayī Kahānī, Akahānī etc.) zu je zwei, drei Leuten, peinlich getrennt voneinander, unterschiedliche Tische besetzten.313 Über derlei Lagerbildungen hinaus beschreiben Autoren wie Ravindra Kaliya das Delhi Tea House vor allem als einen geselligen Ort mit verbindender Wirkung: Die Besucher – Bürokraten, Intellektuelle, die politische Elite – versammelten sich hier am Feierabend,314 genossen die Geselligkeit und tauschten sich über Literatur, Politik und das aktuelle Weltgeschehen aus. Das Tea House bot einen Ort, wo sich auch Zugezogene, darunter auch viele Flüchtlinge nach der Teilung, zu Hause fühlen und sich an den Debatten der jungen Republik beteiligen konnten (wenngleich das Publikum vor allem aus Männern bestand).315
Gerade in jüngerer Zeit sind den Tee- und Kaffeehäusern literarische Denkmäler gesetzt worden, was wohl mit ihrem Verschwinden zu tun hat. Sharma reiht den Verlust dieser Institution in Delhi und anderen Städten in eine Entwicklung ein, bei der weniger rentable Geschäfte und mittellose Bürger seit den 1980er Jahren zugunsten städtischer Modernisierungs- und Prestigeprojekte wie der Asian Games (1982) und großer Ketten wie Barista verdrängt werden.316 In einer dichterischen Elegie auf die Institution des Coffee House widmet Rajkumar Kumbhaj (geb. 1947) die ersten drei Strophen ihrem einzigartigen Kosmos:
I
Hier gab es mal ein Coffee House
das in der Zeit zurückgeblieben ist, echohaft
dort, wo das Coffee House bis gestern stand
ist jetzt ein Schutthaufen
die Gedanken, die dort verschüttet sind, erblicken nie wieder Tageslicht
sie bilden das Fundament der Kultur
II
Im Coffee House gab es viele Ecken
in der einen Ecke saßen immer ein paar vom Typ Unternehmer
in der einen wurde getratscht, in der anderen gekumpelt
während in einer Ecke die weltgrößten Motzer saßen
residierte in einer anderen die vermeintliche High Society der Stadt
in einer Ecke Makler, Bauherren und Verteidiger
wiederum in einer anderen ein paar Mädchen
die mit ihren paar Freunden selige Stunden verbrachten
selbst als der Kaffee schon kalt war
ging die Unterhaltung aus Blicken weiter
Im Coffee House gab es viele Ecken
In einer Ecke saßen auch die Intellektuellen
die in ihre Kaffeetassen eine ganze Regenzeit zusammenweinten
und glücklich waren.
III
Dieses Coffee House von einst,
das beherbergte unzählige Meinungensverschiedenheiten
und in diesen unzähligen Meinungsverschiedenheiten
bestand doch immer Einigkeit darüber,
dass es immer Uneinigkeit geben müsse.
[…]317
Der Dichter, obwohl er die goldene Ära des Coffee House selbst nicht miterlebt hat, ehrt es als kulturelles Zentrum, wo die Städter im Sinne von Jürgen Habermas Handlungsraum eine demokratische Streitkultur pflegten und öffentliche Diskussionen anregten.318 Es war, wie Sharma es zusammenfasst,
a physical network of networks, the middle class intellectuals were capable of reaching out to and connecting with a wider national, South Asian and global world – in ways real and imaginary. The source of this creative energy was self-consciously aesthetic and political on the one hand and individualistic and collective on the other. Going there was not just pastime: as an adda it was a serious practice and site of intellectual exchange and critical pedagogy in the fields of journalism and literature.319
Dabei existiert das United Coffee House in Delhi nach wie vor. Heute ist es allerdings, im Unterschied zu den 1950er Jahren, als sich dort auch Menschen mit sehr wenig Geld in der Tasche versammelten, in erster Linie ein hochpreisiges Restaurant mit Nostalgie-Charme, das sich mittellose Künstler nicht leisten können. Uday Prakash dürfte daher in seiner Kürzestgeschichte „Hölle“ (narak) eher auf das Indian Coffee House auf der Baba Kharak Singh Road, etwas abseits von Connaught Place, meinen, auf dessen Dachterrasse zwei Schriftsteller über ihre Kollegen herziehen:
Das Coffee House befand sich auf dem Flachdach eines fünfstöckigen Gebäudes.
Sie saßen sich gegenüber, die Kaffeetassen vor sich auf dem Tisch.
„Er hat wieder einen Schrott zusammengeschrieben,“ sagte der eine, und sah den anderen an.
„Er kann nichts anderes schreiben als Schrott“, setzte der andere nach.
„Hast du gelesen, was er geschrieben hat?“, fragte der erste beiläufig.
„Nein. Du?“
„Ich lese keinen Schrott von schrottigen Leuten“, sagte der erste filmreif.320
Nach kurzem Überschlag kommen sie zu dem Schluss, dass eigentlich auch alle anderen durch die Bank weg miese Typen sind, denen man besser nicht über den Weg traut:
„Ja, echt du, in welcher Hölle sind wir da nur gelandet?“, sagte der erste noch deprimierter.
Sie sahen sich an. So wie Engel sich ansehen.
Dann lächelten sie sich an. So wie sich Engel in der Hölle anlächeln.321
Prakash nutzt in dieser bissigen Skizze das legendäre Coffe House als Kulisse für Lästereien unter Schriftstellern, womit der Mythos vom Ort kritischen Meinungsaustauschs, den Rajkumar Kumbhaj in seinem Gedicht heraufbeschwört, ausgehöhlt wird. Wäre diese Geschichte, die den Schriftsteller als größten Gegner seiner Zunftgenossen entlarvt, in Mumbai (Bombay) oder Kalkutta angesiedelt, hätten sich die zwei Dichter vielleicht in einer Bar getroffen. Neben local train, Gehweg und Unterwelt zählt Suraj Prakash die „Bierbar“ (bīyar bār) zu einem der zentralen Orte in Mumbai-Textstädten, an dem man Freud und Leid mit einem Glas Schnaps begeht.322 Tatsächlich scheinen Alkohol, Bars und Clubs ein integraler Bestandteil der urbanen Erfahrungswelt und eines geselligen, ausgelassenen Lebensstils vorwiegend in Mumbai (Bombay), mitunter auch Kalkutta, zu sein. Manoj Rupras Saxophonist ist Stammgast in einem Club, in Swadesh Bharatis „Stadtfreund“ (Kapitel 3.4.1) findet die Begegnung der zwei Hauptfiguren am Silvesterabend in einer Bar in Kalkuttas beliebter Ausgehmeile Park Street statt, in Bhatiyas „Deadline“ führt eine nächtliche Taxifahrt zu einem Etablissement, in dem Alkohol ausgeschenkt wird. Im Gegensatz zu Delhi323 wird Alkoholkonsum in Mumbai (und Kalkutta) einem institutionalisierten und gepflegten urbanen Lebensstil zugerechnet, ein Umstand, der auf die koloniale Geschichte und die Bedeutung der beiden jüngeren Städte als Handelszentren mit multi-ethnischer Bevölkerung zurückzuführen ist. Somit steht die Bar nicht zuletzt für den kosmopolitischen Stadtcharakter.
All diese literarischen Schauplätze – ob es sich nun um Wahrzeichen (landmarks) handelt, um reale oder fiktive Schauplätze, oder um zentrale Orte des städtischen Lebens – erschließen Stadtraum und urbane Erfahrung auf zwei Ebenen. Einmal werden stereotype Topoi durch die Einbeziehung realer und fiktionaler Lokalitäten um eine subjektive Wahrnehmungsperspektive erweitert. Landmarken und Wahrzeichen ermöglichen sowohl der Figur als auch dem Leser, sich in der fiktionalen Stadtlandschaft, der Textstadt, zu orientieren. Durch die Kontrastierung populärer Orte mit (inter)subjektivem Erleben – der einsame Neuling in Rupras „Unstrument“ sehnt sich in der Fremde nach einem Freund – brechen stereotype Bilder wie das des romantischen Freizeitmagneten Marine Drive auf. Gerade an beliebten Orten gleicht das Individuum die Verheißungen der Metropole mit seiner oft ernüchternden Lebenswirklichkeit ab. Durch ihre Figuren reflektieren die Autorinnen und Autoren die ikonische Bedeutung städtischer Wahrzeichen und besetzen sie mit eigenen, populären Klischee teils widersprechenden „Sinnprovenienzen“, d.h. Erlebnissen und Erzählungen, die das Stadtbild ausmachen. Auf einer sozialen Ebene geben zentrale Orte Aufschluss über lebensweltliche Erfahrungen und Praktiken, urbane Beziehungsgeflechte und den Umgang mit städtischem Wandel: An sozialen Knotenpunkten wie der Teebude pflegen die Bewohner den nachbarschaftlichen Austausch und führen rege politische Debatten, wie bei Kashinath Singh. Globale Entwicklungen werden im Zwiegespräch (und Widerstreit) mit lokalen Praktiken und Überzeugungen sichtbar. Literarische Topographien geben nicht nur Aufschluss über die Strukturierung der Textstadt durch bedeutende Lokalitäten, sondern auch über die sozio-ökonomische, historische und politische Bedeutung dieser Orte für ihre Bewohner angesichts globaler Einflüsse und eines Wandels auf allen Ebenen urbaner Lebenswelt, der als immer rapider erlebt wird (siehe auch Kapitel 4).
Um urbanes Leben aus einer individuellen Wahrnehmungsperspektive zu beschreiben, gehen Autorinnen und Autoren ganz nah an das erlebende Subjekt heran und geben dessen Gefühle und Gedanken wieder. Die Erzählperspektive ermöglicht es, Raumbilder über die Bewusstseinsvorgänge des Erzählers bzw. die Wahrnehmung der Charaktere herzustellen.
2.4 Figuren- und Erzählperspektiven
Die Position des Betrachters und die Blickwinkel und Sichtachsen, die damit verbunden sind, dienen als erzählerisches Mittel, um den Stadtraum in unterschiedlichen Ausschnitten durch die Figur oder/und den Erzähler zu erschließen. Michel de Certeau hat zwei Positionen unterschieden, von denen aus wir die Stadt wahrnehmen und betrachten. Die eine Position zeichnet sich durch ihre Fixierung im geometrischen Raum aus, das heißt, die Stadt wird von einer erhöhten Position aus betrachtet wie eine Karte (carte).324 Die andere Position ist dynamisch, denn sie entsteht durch die Gehbewegung am Boden (parcour) und beschreibt einen „relationalen Raum der Bewegung“.325 Anhand dieses bildhaften Vergleichs erläutert de Certeau den Unterschied zwischen dem ordnungssystembezogenen Ort (lieu) und dem durch Erfahrung konstituierten Raum (espace).326 Eine Panoramaaussicht auf die Stadt bietet sich von einem Turm oder, im südasiatischen Kulturraum viel naheliegender, von einem Flachdach aus. In „An der Kante“ (kagār par) greift Sara Rai den Landkartenvergleich auf:
Auf dem Dach pfiff der Wind. Er stellte sich an die Brüstung des Daches. Ihm war, als flöge sein Herz mit dem Wind. Bald ließ er den Blick weit schweifen wie ein Herrscher, der von den Höhen seiner Festung aus sein gesamtes Reich überblickte. Vor ihm lag wie eine aufgefaltete Karte Delhi. In der Mitte das quadratische Wirrwarr unzähliger kahler, kastenförmiger Häuser, in der Ferne ragten die berühmten Gebäude aus dem Smog: Das Ashok Hotel, India Gate und Rashtrapati Bhavan.327
Der Blick von oben schafft Distanz zur Stadt, die in ihrer starren Form wie eine Land- oder Postkarte erscheint. Visuelle Teilnahme bei gleichzeitiger Distanz bietet auch der Fensterblick in „Gasse Nr. 13“ oder der Blick über die Nachbarschaft (mohallā) hinüber zum Hafen von Khidirpur, im Südwesten vom Zentrum Kalkuttas gelegen, in Bhatiyas „Augenzeuge“.328 Der Blick aus dem Fenster oder von der Dachterrasse herunter in die Gasse oder Straße hat als point of view einen festen Platz in der Hindi-Literatur.329 Nirmal Verma (1929-2005) nutzte diesen Blickwinkel in „Der verlorene Strom“,330 um aus der Perspektive eines Schulmädchens das Treiben in einer kleinstädtischen Gasse zu beobachten und Geschichten rund um die Bewohner dieser Gasse zu erzählen. In einem Essay erörterte Verma im Zusammenhang mit der Genrefrage und der Art und Weise, wie und wo in Indien Geschichten entstehen und (weiter-)erzählt werden, die Bedeutung der Dachterrasse.331 Bei Rajendra Yadav (1929-2013) ist das Dach der Ort, an dem der Konflikt zwischen individuellen Ambitionen und sozialen Zwängen offen zutage tritt. Yadav erzählt in seinem Kurzroman „Der ganze Himmel“ (sārā ākāś) vom rebellischen Samar Thakur, der seine junge Braut, mit der er unfreiwillig verheiratet wurde, ignoriert.332 Die Dachterrasse ist bei Yadav und anderen jedenfalls ein Ort, an dem sich junge Erwachsene – das gilt auch für Mädchen und junge Frauen – der sozialen Kontrolle der Großfamilie entziehen können und sich frei fühlen können.333
Eine andere Möglichkeit, das städtische Setting von oben einzufangen, ist ein im Raum nicht klar positionierter allgegenwärtiger Erzähler wie im Gedicht „Ein Abend in Delhi“ (dillī meṃ ek śām) von Vidya Sharma (geb. 1941):
Der erste Abend im Kartik334
Die Kreuzung mit den Apotheken
Langsam senkt sich die Dunkelheit herab
und Menschen kehren von der Arbeit heim
überall Fahrzeuge und Gewusel.
Von Osten lugt der Mond herein
traurig-verschwommen – ein Funken Hoffnung – oder
ist es dieses Aufgekratzte, wenn einmal die Müdigkeit überwunden ist
verlegen lacht er runter
und heftet sich ans Himmelszelt
Unten auf der Erde sputen sich alle
schnell heim ins Nest,
kentern im Sprung, kletternd, taumelnd den Bus,
schleppen alles Gewicht bis zur Straße
haben sie es einmal rein geschafft
und sind in Gleichheit eingeschnürt
nehmen sie jeden Quadratzentimeter in Beschlag
wie Wasser, das den Boden überschwemmt.
Die Leute, die hier sitzen und stehen,
sind trotz aller Unterschiede
gleich.
Und dort oben
nervös von der Hektik
sieht der Mond beim Versuch zu lachen
noch gelber und trauriger aus
Alle sind müde und abgekämpft, wer guckt da schon
hoch in den Himmel?335
Eine extravagante Möglichkeit, um von oben einen Blick auf das große Ganze zu gewinnen, zeigt die Titelgeschichte von Rais Band „In der Wildnis“ (biyābān meṃ) auf. Eine Schriftstellerin, die unter einer Schreibblockade leidet, macht es sich zur Aufgabe, die stille und etwas zurückgebliebene Tochter ihrer Haushälterin aus der Reserve zu locken. Bei einem Spaziergang steigen die beiden heimlich in einen Bus, der ausrangiert am Straßenstand steht, und erleben ein Abenteuer der phantastischen Art. Als die Frau zum Spaß am Lenkrad dreht, hebt der Bus plötzlich ab:
Mehr noch überrascht mich, dass ich spüre, wie der Bus langsam von der Erde abhebt und höher und höher steigt. Mein Herz hüpft. Wir schauen hinunter, ein stilles Mädchen und eine stille Frau. Wir können die Straße sehen, die Schule, unser Haus, das ganze Viertel mit all den vielen Menschen, die dort leben. Wohl nie zuvor hatte ich einen besseren Blick auf das alles gehabt.336
Der magische Realismus dieser Passage verdeckt kaum die Tatsache, dass dynamische Blickwinkel auf die Stadt ein altbewährter Kniff aus der Trickkiste der Erzähltechniken sind. Denn viele Erzählungen, die im urbanen Umfeld angesiedelt sind, arbeiten mit verschiedenen Erzählmodi und -ebenen,337 die es ermöglichen, aus dem Hauptschauplatz herauszuzoomen um eine größere Einheit der Stadt in den Blick zu nehmen oder umgekehrt. Sara Rai macht sich diese Technik in „Labyrinth“ (bhūlbhulaiyāṁ) zunutze, um eingangs den größeren Kontext und Schauplatz, die Stadt Varanasi (Benares), vorzustellen, und anschließend in mehreren „Einstellungen“ immer weiter in die Stadt hineinzuzoomen:
Das hier ist Benares, die heilige Stadt Kashi, auf der Spitze von Shivas Dreizack, mit keiner alten Stadt der Welt vergleichbar. Seit Anbeginn der Zeit blüht hier der Handel mit Leben und Tod. Die Stadt Benares lebt, sie gewährt Toten und Sterbenden eine Zuflucht. Im Labyrinth der Gassen Menschenmassen. Dieser Ozean besteht aus Menschen, die nur noch dem Sterben entgegenleben. Wer in Benares stirbt, wird in den Himmel kommen, ins Paradies gelangen. Diese Überzeugung ist so alt wie die Wahrheit. Selbst ich habe nach all der Zeit hier begonnen daran zu glauben. So ist doch der Glaube die letzte Wahrheit.338
Rai zitiert hier die mytho-historische Bedeutung der heiligen Stadt am Ganges.339 Mark Twain behauptete, sie sei „älter als die Geschichte, älter als die Tradition, älter sogar als die Legende“340 und zitierte damit das Narrativ von der uralten, ewigen Stadt. Wenngleich Varanasi auf eine nachweislich 1500-jährige Geschichte zurückblickt, ist die heutige Stadt architektonisch und symbolisch v.a. eine Rekonstruktion des 18. Jahrhunderts.341 Der Legende nach schwebt sie im Äther und wird von Shivas Dreizack gestützt.342 Neben dem mythologischen Alter greift Rai im obigen Zitat einen weiteren Topos auf, der das Stadtbild von Varanasi prägt, und schon in Reiseberichten des frühen 19. Jahrhunderts auftaucht, wie Diana Eck mit Verweis auf Bischof Reginald Heber dokumentiert: das Gewirr der Gassen.343 Rais Erzählerin verengt das Blickfeld in einer kosmischen, dann irdischen Draufsicht graduell auf die Stadt Benaras, die aus einem Labyrinth von Gassen und Menschenmassen besteht. Auch im nächsten Absatz wird so verfahren: Nach der mythologischen Beschreibung als Stadt der Geister wird der Blick auf Tempelkuppeln, Minarette und Türme gelenkt. Dieser Einstellung folgen schließlich mehrere Details, die nur durch Skalierung erfasst werden können, wie die abgetretene Steintreppe des Wasserreservoirs:
Es ist die Stadt der Geister. Vor Jahrhunderten verstorbene Frauen breiten stumm ihr dichtes Haar über dem Himmel aus. Die Luft wird schwer vom Atmen der Schatten. In der Röte der untergehenden Sonne senken sich diese Schatten auf Tempelkuppeln, Minarette und Türme. Das Wasser im Bassin unterhalb der abgetretenen Steintreppe hat sich von Lehmfarben in Dunkelgrün verfärbt […].344
Noch ein weiteres Mal findet in der Einleitung ein solcher Wechsel der Ebenen statt, indem der Erzähler erneut aus dem physischen Stadtausschnitt herauszoomt und die Aufmerksamkeit der Leser auf die mythologische Bedeutung lenkt:
Dieses dichte Gewebe der Stadt: Wie eine Seite in einem Geschichtsbuch. Das ist die Handschrift der Zeit selbst. Das Leben der Menschen hier zieht in seinem ganz eigenen Trott darüber hinweg. Inmitten der Betriebsamkeit des Lebens, welches von einem ins nächste Jahrhundert reicht, hausen in den Nischen die Geister.345
Hier endet schließlich die einführende Passage zu Varanasi, in der die Schichten von Historie, Mythos und Erinnerung in die Palimpsest-Metapher vom Geschichtsbuch übertragen werden. Der eigentliche Schauplatz der Erzählung, ein zweihundert Jahre altes, halb verfallenes feudales Haus (havelī), wird näher herangeholt und als die nun vorherrschende narrative Skala ganz konkret in der Stadttopographie verankert: „Ich, Kulsum Bano, wohnhaft im Noor Manzil, 18/20 Ausanganj, hinter dem Kabir Chaura Hospital“.346 „Labyrinth“ erzählt die Geschichte von Kulsum Bano und ihrem Aufwachsen als Spross einer feudalen muslimischen Familie in eben diesem herrschaftlichen havelī. Der Großteil der Erzählung spielt sich daher auch innerhalb der Mauern des Hauses und dem dazugehörigen Innenhof ab; die urbane Umgebung wird fast vollständig ausgeblendet. Mit der Beschränkung des urbanen Schauplatzes auf das Innere des Hauses erreicht die Autorin eine stärkere Konzentration auf die introspektive Welt der Ich-Erzählerin.347 Gleichzeitig verstärkt die Einbettung in mytho-historische Stadtnarrative die Selbststilisierung der Hauptfigur Kulsum Bano zu einem menschgewordenen Benaras: als eine, die schon immer da gewesen, die so „ewig“ ist wie die Stadt selbst.
Was geschieht, wenn das Individuum die Mauern des geschützten Privatraums verlässt und sich ins Getummel von Gassen, Straßen und Plätzen stürzt? Welche narrativen Techniken werden angewandt, um urbane Erfahrung und Wahrnehmung zu beschreiben? Im ersten Teil des folgenden Unterkapitels wird es darum gehen, wie Gerüche, Geräusche und Empfindungen in der Hindi-Literatur zum Raumerleben beitragen. Im zweiten Teil stehen drei prominente literarische Figuren – Flaneur, Tramp, Spektator – im Mittelpunkt der Betrachtung, durch deren Körper sowohl die urbane Umwelt als auch die Erfahrungen der Protagonistinnen und Protagonisten gefiltert und vertextlicht werden.
2.4.1 Sensorisches Stadterleben
Nasira Sharma schildert in der Erzählung „Steingasse“ eine Rikscha-Fahrt, die die junge Farida durch die Gassen und Straßen der Nachbarschaft (vermutlich in Alt-Delhi) führt. In schneller Abfolge werden mittels erlebter Rede die sensorischen Eindrücke quasi in Echtzeit348 dokumentiert, die während der Fahrt auf Farida einprasseln. Durch ihre performative Intensität steht diese Passage in starkem Kontrast zur übrigen Erzählung, die hauptsächlich innerhalb des Hauses spielt und die Enge zum Ausdruck bringt, in der die junge Farida aufwächst:
Nachdem sie Saleha an der Ecke rausgelassen hatte, war Farida allein in der Rikscha. Als sie an dem Toddy-Lokal vorbeifuhren, wurde ihr mulmig zumute. Zerbrochene Tonbecher, der feuchte Geruch von Selbstgebranntem, Hunde, alle möglichen verkommenen Typen. Hätten sie Saleha nicht absetzen müssen, wären sie wohl andersherum gefahren. Kaum zu glauben, welch ein Betrieb in dieser Gasse herrschte! Da waren Pfannen, Schneider, Kornröster, ein Getreideladen, Wäscher, Esel, Häuser, Kinder, Tempel, Moscheen, vor ihr der Rikschafahrer, der in einem fort fluchte, Eis, Rahm, Barfi, Kulfi – Köstlichkeiten aus aller Welt und dann noch das Toddy-Lokal! Zu beiden Seiten des Lokals die vollgemüllten Rinnsteine. Diese offene, lärmige Gosse war schier zum Fürchten. […] Der Rikschawala, schon schweißüberströmt, trat jetzt fest in die Pedale; der heiße Gegenwind blies so stark, dass er kaum vom Fleck kam. Als sie sich dem Glockenturm näherten, sprang die Kette.349
Die vielen Beschreibungen erzeugen auf knappstem Textraum einen besonderen Sog; die Schnelligkeit, mit der Farida auf der Rikscha unterwegs ist, schlägt sich in der Rezeption nieder. Der „feuchte Geruch“ von Schnaps (eine Synästhesie), die lärmende Gasse, der heiße Wind – all diese Eindrücke lassen vor den Augen des Lesers einzeln und in ihrer Gesamtheit einen bunten und widersprüchlichen Sinnesraum entstehen. Gewiss, „[c]ities conceived of as sensory environments and sites of habitation generate their own distinctive smells and sounds. They are full of visual and tactile stimuli, each with their own range of symbolic meanings for the sentient, perceiving subject.‍“350 Nun könnte man provokativ fragen, ob denn visuelle, olfaktorische, haptische und akustische Eindrücke nicht eine conditio sine qua non menschlicher Welterfahrung sind und daher eine gesonderte Betrachtung erfordern. Aus zwei Gründen trägt eine Untersuchung sinnlicher Wahrnehmung in der Hindi-Stadtliteratur dazu bei, die narrative Konstruktion von Raum durch den Körper zu verstehen, durch die Sinneseindrücke aufgenommen und verarbeitet werden. Einmal tragen Gerüche, Geräusche usw. zu einem lebendigen Leseerlebnis bei; der Leser kann sich besser in die Umgebung der Textstadt einfühlen. Zum anderen erzeugen die Interaktionen zwischen dem „verkörperten Selbst“ und dem urbanen Raum351 Vorstellungen von Stadt: Sensorische Erfahrungen in der Textstadt strukturieren Topographie, Atmosphäre und Erinnerungsraum, unterscheiden sichere von gefährlichen Orten innerhalb der Stadt und erschließen Lebensräume auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen.
Geräusche und Gerüche
Wie lässt sich die Geräuschkulisse einer Megastadt in Worte fassen? Nehmen die Protagonistinnen und Protagonisten das allgegenwärtige Hintergrundrauschen der Metropole überhaupt wahr, und wenn, wie und von wo aus? In beinahe jedem der hier vorgestellten Texte sind vereinzelt Hinweise auf den Klangteppich der urbanen Umwelt eingestreut. Obwohl das Auge dem Ohr in der Wahrnehmung des Städtischen eindeutig überlegen ist, fällt doch auf, dass akustische Eindrücke insbesondere dann überwiegen, wenn das städtische Treiben auf ein Minimum reduziert ist, etwa nachts oder bei Tagesanbruch. Wenn die Stadt schläft, treten einzelne Stimmen und Klänge deutlicher hervor als tagsüber, wenn das Verkehrsrauschen, Hupen und Stimmengewirr einen gleichförmigen Geräuschteppich bilden.
Präzise Beobachtungen der urbanen Umwelt machten sich schon Autoren der Nayī Kahānī zunutze. Mohan Rakesh (1925-1972) zum Beispiel schildert in „Die schlafende Stadt“ (soyā huā śahar)352 – eine Kurzgeschichte aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre – die Geräuschkulisse auf der Straße, um zwielichtige Geschehnisse, die sich in den frühen Morgenstunden bis zum Einbruch der Dämmerung ereignen, in ihrer atmosphärischen Dichte abzubilden. Die Personifikation im Titel deutet darauf hin, dass der Organismus Stadt in der Nacht seine Aktivität einstellt. Wie viel Leben indes im schlafenden Stadtkörper steckt, verraten die Geräusche (ein Jeep nähert sich tuckernd, der Wind pfeift, ein Hund bellt, irgendwo klopft jemand an eine Tür etc.). Dadurch, dass die visuelle Wahrnehmung eingeschränkt ist, kommen die anderen Sinne, vor allem das Gehör, stärker zur Geltung. Rakesh gelingt es, die Perspektive vom Straßenrand konsequent beizubehalten und damit eine möglichst realistische Erzählsituation zu schaffen, die durch die düstere Grundatmosphäre beinahe an einen Film Noir erinnert.
Während Rakesh das Geschehen durch die wirklichkeitsgetreue Schilderung der Geräusche in einem eins-zu-eins-Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit wiedergibt, nutzen andere Literatinnen und Literaten – insbesondere seit den 1990er Jahren – Geräuschkulissen, um vergangene Stadtkultur oder Erinnerungen ihrer Protagonisten aufleben zu lassen. Alka Saraogi macht davon in den Rückblenden ihres Romans „Umweg nach Kalkutta“ Gebrauch, dessen Handlung passagenweise in der ehemaligen Hauptstadt Britisch-Indiens der 1940er Jahren angesiedelt ist:
Der Lärm der Kreuzung, das Klingeln der Riksha-Fahrer, vermischt mit dem Glockengeläut, dem Schlagen der Turmuhr, dem Blasen des Tritonshorns nach dem Gottesdienst und dem Ruf ‚Jay ho, jay ho‘ […] drang bis hinauf in das erste Stockwerk. Sonnabends stand ein Pandit mit einer eisernen Figur des Gottes Shani in einer Opferschale aus Messing vor dem Tempel, und sein Ruf ‚Shani Maharaj, Shani Maharaj‘ mischte sich in all das lärmende Durcheinander auf der Kreuzung.353
Eine andere Passage mit etwa demselben zeitlichen Hintergrund schildert, wie die Familie ein Picknick vor dem Victoria Memorials veranstaltet:
Es war großartig, auf dem Rasen vor dem Victoria Memorial zu sitzen und das Treiben auf der Chowringhee zu beobachten. Der Lärm, den Autos, Taxis, Busse, Straßenbahnen und Pferdefuhrwerke machten, hatte etwas Faszinierendes. Dazu die blinkenden Lichter am Abend, die süßen Klänge von Musik aus dem Bristol-Hotel, das Grammophon […].354
Dieses Beispiel zeigt, dass Erinnerungen mit Klängen verbunden sind und umgekehrt Klänge Erinnerungen auslösen: Auch in dem Gedicht „Lastwagen in der Nacht“ (rāt meṃ ṭrak) von Sanjay Kundan ruft das laute Vorbeifahren eines nächtlichen Lastwagenkonvois beim lyrischen Ich Erinnerungen an Zuhause wach. Der nächtliche Lärm zeugt vom Energiehunger der Stadt; die LKWs verbinden das Wirtschaftszentrum mit der Peripherie.
Mitten in der Nacht reißt mich mehrmals
das Dröhnen der Laster aus dem Schlaf
da fährt sie vorbei, eine Kolonne aus Trucks
streift die Stadt, wobei
es ein paar Mal so laut hupt
dass ich meine, mein Haus sei
ein anderer Laster,
der aus der Bahn gehupt werden muss
ungestüm wirken sie
knurren die Dunkelheit an, treiben sie an mit ihren Lichtern
um so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen.
Vielleicht ist ein Laster aus meiner Heimat dabei
der Kohle geladen hat und der Fahrer von dem,
der gerade losfährt zu irgendeiner Hütte
wiegt sich bestimmt zur Melodie
einer Bhojpuri-Kassette hin und her
Vielleicht ist auch ein Laster dabei
der aus dem tiefsten Süden kommt
und vielleicht bis in die äußerste Ecke
des nördlichsten Zipfel des Landes muss
wo die Berge beginnen
[…]
Immer wenn die Stadt so reglos daliegt
ist das Leben wie aufgeschoben
Die Betriebsamkeit der Welt geht weiter wie bisher
Bei jedem Dröhnen eines Lasters
gucke ich dann hoch
zur Decke
wie in den Himmel
und stelle mir vor, ich läge auf dem offenen Lasterdach
Irgendwann schlief ich immer ein
Und schreckte ich früh aus dem Schlaf hoch,
kommen mir die Laster in den Sinn
Die werden jetzt schon
über hundert Kilometer weiter sein.355
Wie Geräusche können auch Gerüche das erlebende Subjekt in Erinnerungswelten abtauchen lassen. Uday Prakash erzählt in der Skizze „Am Nachmittag“ (dopahar) von den Gerüchen auf dem sommerlichen Bazar:356
An Nachmittagen waren immer Honigmelonen gefragt, die jemand vom Bazar holen musste. Wann immer ich zu jener Jahreszeit auf den Bazar ging, roch ich vor allem die Wassermelonen heraus. Selbst wenn dort noch die Gerüche von Pferden, Stinkasant und anderen Gewürzen in der Luft lagen, neben Staub und dem Geruch von frisch mit Pfeilwurz gestärkten neuen Baumwollkleidern – an Sommernachmittagen hing über allem der Geruch von Honigmelonen. Es war, als befände sich der gesamte Bazar in einer riesigen Melone und wir alle spazierten auf einer Straße durch diese Luft hindurch. Es gab dort auch Obst, Gurken aller Art, Wassermelonen, Kulfi, Faluda und andere Dinge. […] Doch tatsächlich war es genau dieser Geruch, der mich, kaum dass ich mich dem Bazar näherte, wo die Ladenschilder und die Menschenmenge in Sichtweite kamen, mehr und mehr einhüllte. Meine Augen sahen all die Farben, den ganzen Trubel, meine Ohren vernahmen das körperlose Murmeln unzähliger fremder Menschen, die alle gleichzeitig sprachen, ununterbrochen wie im Mantra.357
Während der Trubel und die Klänge in der Erinnerung eigenartig fern und fremd bleiben, hat sich der Geruch der Honigmelonen im Gedächtnis festgesetzt. Bazar und Sommernachmittage sind für den Erzähler untrennbar mit diesem Duft verbunden. Dabei beschränkt sich die Erinnerung nicht nur auf den Geruch der Melonen. Vielmehr zieht dieser als eine Art trigger eine ganze Kette an sinnlichen Erinnerungen mit sich, die mit den Geräuschen des sommerlichen Bazars verbunden sind.
Neben ihrer Funktion, Stimmungen zu erzeugen und „Erinnerungsanker“ zu setzen, markieren Gerüche und Geräusche außerdem bestimmte Lokalitäten innerhalb der Stadt. Abdul Bismillah (geb. 1949) verknüpft im Titel seiner Erzählung „The Song of the Loom“ (jhīnī jhīnī bīnī cadariyā) das Klappern und Surren der Webstühle mit der Lebenswelt der muslimischen Weber von Banaras.358 Geetanjali Shrees „Unsere Stadt in jenem Jahr“ schildert die physische und akustische Expansion des Hindu-Klosters über die Grenzen des Campus-Geländes hinweg: „Der Lärm, der aus den Lautsprechern tönt, ist den ganzen Tag in der Universität zu hören. Mehrere Lehrkräfte unterrichten nur noch bei geschlossenen Fenstern.‍“359 Die Protagonistinnen und Protagonisten empfinden die aggressive Geräuschkulisse als Bedrohung im öffentlichen (säkularen) Raum.
Auch Gerüche können die Stadt oder urbane Lokalitäten kennzeichnen,360 allerdings ist die olfaktorische Wahrnehmung in der Hindi-Literatur stärker als die akustische mit sozial geprägten Vorstellungen von (Nicht)Zugehörigkeit und (Un)Reinheit verbunden. Wenn Autorinnen und Autoren sie beschreiben, dann handelt es sich oftmals um unangenehme, abstoßende oder tabuisierte Gerüche wie Urin,361 Müll oder Kloake.362 Dass Gerüche mehr Abscheu als Anziehung hervorrufen, illustrieren zwei Bombay-Kurzgeschichten von Jagad­amba P. Dixit (1934-2014) und Dhirendra Asthana (geb.1956). Obwohl wir es hier mit zwei Generationen von Schriftstellern zu tun haben, verbindet beide Geschichten ein sozialkritischer Impetus. Bei Dixit, der maoistischen Ideen nahestand und sich zeitweise als politischer Aktivist für die Rechte von Bauern und Adivasis einsetzte,363 konzentriert sich all die Not, Armut und Ungerechtigkeit, in der die am untersten Rand der Gesellschaft lebenden Protagonisten ihr Leben fristen, im üblen Gassengestank. Bei Asthana ruft der Geruch einer Prostituierten ambivalente Gefühle gegenüber Bombay hervor, wo die andere Seite sozialer Dynamiken in den sich auflösenden traditionellen Reinheitsregeln sichtbar wird.
Dixit nutzt in „Dreck und Leben“ (gaṃd'gī aur ziṃd'gī)364 Geruch als didaktisches Mittel, um den Leser mit allen Sinnen auf die sich zuspitzende Handlung vorzubereiten: „Wenn Sie diese Geschichte lesen, wird sich alles von Neuem abspielen. Ihre Nase nimmt einen seltsam fauligen Geruch wahr. Ihnen wird speiübel und Sie fühlen sich elend.‍“365 Die Erzählung handelt von Prostitution, Alkoholismus, Gewalt und Armut in elendsten Verhältnissen. Einer Frau, die von ihrem Mann in die Prostitution gezwungen und regelmäßig von ihm misshandelt wird, gelingt die Flucht mit ihrem deutlich jüngeren Liebhaber Mahmud. Bevor sie sich endgültig zur Flucht entschließt, geht sie aus Gewohnheit und Geldnot ein letztes Mal auf die Straße. Doch sie ist innerlich aufgewühlt und gesundheitlich so angeschlagen, dass sie sich auf einem Treppenaufgang in einer dunklen Gasse ausruht. Die wenigen Minuten, die sie dort verbringt, bilden den neuralgischen Punkt der Handlung: „Ringsherum stank es nach Dreck, Abfall und Essensresten. Trotzdem genoss sie die Dunkelheit. […] Wie sie so vor sich hindämmerte, kam sie zu einem Entschluss. Das konnte nicht alles gewesen sein. In ihr tobte ein Kampf.‍“366 Sie beschließt hier, gemeinsam mit Mahmud dem ganzen „Dreck“ (gaṃd'gī) zu entfliehen und ihr Leben (ziṃd'gī) zu retten. Die üblen Gerüche in der finsteren Gasse verweisen auf das soziale Elend, in dem sie ihr Dasein fristet. Dabei bleibt die sinnliche Wahrnehmung keine bloße Randerscheinung, die die ärmliche Gegend charakterisiert, sondern setzt bei der Hauptfigur Widerstände frei, die in dem Entschluss münden, einen Neuanfang zu wagen. Mit dieser ästhetischen Bedeutung des Gossengestanks schließt sich der Kreis zum Beginn der Geschichte, an dem der Erzähler den Leser in direkter Ansprache auf den üblen Geruch „einstimmt“.
Asthanas „Der Geruch jener Nacht“ (us rāt kī gaṃdh)367 aus dem Jahr 1994 beleuchtet die Schattenseiten Bombays und arbeitet sich über eine spannungsreiche Begegnung am ambivalenten Bild der „Stadt der Träume“ ab. Die Geschichte handelt von einem Ausflug zweier Männer, die einmal wieder richtig „einen drauf machen“ und der Enge und Einsamkeit ihrer winzigen Mietzimmer für eine Nacht entfliehen wollen. Auf der Suche nach Alkohol und Prostituierten fahren sie eine Weile mit dem Auto in der Stadt herum und landen schließlich am Strand von Juhu. Die Atmosphäre ist schummrig, zu dieser späten Stunde liegt eine „feuchte Dunkelheit“ (gīlā aṃdherā) über der Stadt. Der Titel bezieht sich auch auf den Geruch von Frauen, über den der Ich-Erzähler sagt: „Jede Frau hat ihren ganz eigenen Geschmack und Duft“.368 Während in diesem Zitat noch von „Duft“ (khuś'bū) die Rede ist, kippt die Wahrnehmung weiblichen Körpergeruchs kurz darauf ins Negative um, als eine in die Jahre gekommene Prostituierte verzweifelt ihre Dienste anbietet. Er ekelt er sich vor dem Geruch (gaṃdh) ihrer Hand, mit der sie ihn angefasst hat.
Wohl nicht zufällig gehen die Gedanken über den Geruch von Frauen mit Vorstellungen über Bombay als Objekt einer Hassliebe einher. Der Passage über den speziellen Geruch einer Frau geht eine Liebeserklärung an die Stadt voraus: „Wie intim das Leben selbst auf der Straße zugeht, dachte ich während ich mich so umsah. Ich war von Liebe zu dieser Stadt überwältigt. I love Bombay, murmelte ich gebetsartig vor mich hin und steckte mir eine Zigarette an. Die Luft war abgekühlt.‍“369 Nach der Begegnung mit der alten Prostituierten, die sich wenig später ereignet, drückt sich sein Ekel vor dieser Frau in harter Ablehnung gegenüber Bombay aus:
„Was ist los?“ Kamal war ihm nachgekommen.
„Ach nichts.‍“ antwortete ich matt, „Bring mich nach Hause. I… I hate this city. Diese ganze Armut hier.‍“370
Während der Protagonist seine extremen Gefühle auf Englisch ausdrückt, wird die Ambivalenz weiblicher Körpergerüche in dem weiten Bereich dazwischen durchweg in Hindi ausgelotet. In diesem Kontrast werden die zwei Seiten Bombays, Freiheit und Gefahr, wie sie dem Leser bereits in populären Stadtbildern (Kapitel 1) begegnet sind, in konkreten Situationen greifbar: Ein Mann sucht die Nähe zu Prostituierten und fühlt sich gleichzeitig abgestoßen von ihnen. Im Laufe des Abends kommt es zu mehreren Begegnungen mit Frauen, die alle auf der Straße ihre Dienste anbieten oder in Nachtclubs arbeiten. Geruch fungiert in der Geschichte als Geschlechtskodierung371 und als Marker für die Tabuzonen des großstädtischen Lebens in Asthanas Geschichte. Die ambivalente Haltung zu der sexuell freizügigen Stadt spiegelt sich zudem in der erotisch konnotierten Hassliebe des Protagonisten gegenüber Bombay („I love Bombay“ vs. „I hate this city“) wider.372 Der Sorge des Ich-Erzählers, die Gerüche der Frauen, mit denen er an diesem Abend, gewollt oder ungewollt, in Berührung gekommen ist, könnten für immer an ihm haften bleiben, liegt die Angst einer möglichen Verunreinigung und Ansteckungsgefahr zugrunde. Die Furcht vor der Berührung geht weit über das rein Körperliche hinaus, das durch die mehrfache Erwähnung der Handflächen (hathelī) als Geruchsträger bezeichnet wird. Es ist auch sozialer Natur. Beide Pole, Anziehung und Abstoßung, die durch die Verfügbarkeit von sexuellen Dienstleitungen auf der einen Seite und ihrem nivellierenden Einfluss auf soziale Beziehungen und Hierarchien auf der anderen gekennzeichnet sind, definieren sich auf der Grundlage geruchlicher und haptischer Sinneseindrücke. Im Konnex von Körper und Stadt bricht der Konflikt zwischen individueller Unabhängigkeit, die die Großstadt fern aller einengenden Bindungen gewährt, und traditionellen Normen von Reinheit und sozialer Segregation zutage.373 Das „Ideal der Kontaktvermeidung“374 und andere sozio-religiöse Gebote lassen sich in der Großstadt schwerlich einhalten. Asthanas Geschichte zeigt, dass die indische Metropole, wie die literarischen Figuren sie erleben, ein typisches modernes Phänomen ist. Denn gerade in der sozialen Vermischung treffen sozio-religiös fundierte Wertvorstellungen und Verhaltensnormen mit völlig andersartigen, diffusen Praktiken des Zusammenlebens zusammen. Auf einer funktionalen Ebene eröffnet die Hindi-Stadtliteratur einen Diskursraum, in dem sich Autorinnen und Autoren mit den sozialen und kulturellen Reibungen und Spannungen beschäftigen, mit denen sich das Individuum auf dem Weg in die postkoloniale Moderne (Kapitel 3.1) konfrontiert sieht.
Die Beispiele machen deutlich, dass mit der Beschreibung der olfaktorischen, haptischen und akustischen Umwelt unterschiedliche narrative Absichten verfolgt werden: Erstens kreieren Schriftstellerinnen und Schriftsteller damit Authentizität und Atmosphäre, zweitens stellen sie urbane Lokalitäten als spezielle Milieus innerhalb der Stadt oder als widersprüchliche Kontaktzonen dar und drittens nutzen sie Geräusche und Gerüche als trigger für Rückblenden. Auffällig ist die annähernde Abwesenheit von haptischem Erleben. Hier stellt sich die Frage, ob Berührungen tabuisiert oder stigmatisiert sind,375 oder ob die haptische Wahrnehmung schlicht ein schwach ausgeprägter Sinn ist, der hinter anderen Sinneseindrücke zurücksteht. Taktilität kommt meistens nur indirekt zur Sprache oder aus der distanzierten Beobachtungsposition der Erzählerfigur, etwa wenn die Enge in Bussen und Zügen beschrieben wird oder wenn es gar um negative Formen von Berührung geht, etwa eve-teasing, übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen, z.B. in Bhimsen Tyagis (geb. 1935) „Großstadt“ (mahānagar).376 Ein wiederkehrendes Motiv ist die Menschenmenge, die eine enorme Anziehungskraft auf das Individuum ausübt. Zugleich werden sich die Protagonisten des paradoxen Umstands bewusst, dass es trotz der vielen Menschen keine Nähe gibt.377
Enge und Gedränge
Wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit der Menschenmenge (bhīṛ) geht, sind Bahnhöfe, Züge und Busse prädestinierte Orte.378 Der Bahnhof ist allerdings mehr als ein dynamischer Ort vielfältiger Sinneseindrücke. Dass die Indian Railways heute ein nationales Prestigeobjekt sind,379 ist nicht selbstverständlich. Schließlich wurden seit ihrer Einführung in Britisch Indien im Jahr 1853 erbitterte ideologische Kämpfe um die Eisenbahn als Inbegriff imperialistischer Fortschrittsideologie ausgetragen. Mohandas K. Gandhi verteufelte die Eisenbahn bis in die 1940er Jahre hinein als eines der „evils of civilisation“,380 weil er in ihr die Hauptursache für die Ausbeutung und Verarmung Indiens sah. Gandhi zufolge trug die Eisenbahn zur Verbreitung von Hungersnöten bei, da die Bevölkerung ihr Getreide überregional verkaufen konnte. Der Mahatma äußerte neben wirtschaftlichen auch hygienische und religiöse Bedenken: Die Eisenbahn sei ein Überträger von Pestkeimen, da die natürliche Segregation wegfalle. Weiter zeigte sich Gandhi besorgt, dass Pilgerreisen ihre Beschwerlichkeit und die heiligen Orte ihre Besonderheit verlören, wenn nun jeder gemeine Kerl einfach so mit der Eisenbahn dort hinreisen könne. Vor der Einführung der Eisenbahn hatten nur echte Pilger die weite Reise auf sich genommen: „Good travels at a snail’s pace – it can, therefore, have little to do with the railways.‍“381
Doch Gandhi war bei weitem nicht der Erste und Einzige, der sich zur Eisenbahn und modernen Technik äußerte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts griffen Intellektuelle die Begeisterung der „höheren Kreise“ für moderne Wissenschaft und Technik auf, was der Eisenbahn keineswegs nur Kritik und Spott einbrachte, wie Prabhat Kumar erläutert. Dieser „Fremdkörper“ wurde mithilfe des traditionellen Stotras (Skt. Lobeshymne) sogar in das mythologische Register einverleibt.382 Die Beurteilung der Eisenbahn, so Kumar, oszillierte in den frühen Hindi-Satiren von Bharatendu Harishcandra (1850-1884) und Radhacharan Goswami (1858-1925) zwischen der Verteufelung als „unavoidable quasi-divine, techno-industrial, urban monster“ und überschwänglicher Dankbarkeit über dieses Geschenk der Kolonialherrschaft an Indien.383 Die ambivalente Wahrnehmung spiegelt sich auch in späteren literarischen Zeugnissen wider, in denen Erlebnisse mit dem Dampfross geschildert werden. Zu Beginn der 1930er schildert die Urdu-Schriftstellerin Rashid Jahan (1905-1952) in „Ausflug nach Delhi“ (dillī kī sair)384 die Eindrücke einer jungen Muslimin, die das unheimliche Gewühl und Gedränge am Bahnsteig als schrecklich und faszinierend zugleich erlebt.385 In der humorigen Kurzgeschichte „Selbstregierte Eisenbahn“ (svadeśī rel)386 aus dem Jahr 1930 entblößt Shaukat Thanwi (1904-1963) mit seiner Schilderung einer von Beginn bis Ende chaotisch verlaufenden Bahnreise die Aufgeblasenheit einiger Nationalisten und die Unordnung und Willkür, die die Swadeshi-Bewegung hervorbringt: Ticketpreise sind plötzlich Verhandlungssache, der Station Master stellt die Fahrkarte selbsthändig auf einem Fetzen Papier aus, kein Gepäckträger (kuli) ist mehr aufzutreiben, feste Abfahrtzeiten gelten nichts mehr und schließlich bummelt der Zug unerträglich langsam durch die Landschaft. Der Autor scheint der kolonialen Kontrolle mehr zu vertrauen als der patriotischen svadeśī-Bewegung, deren „Selbstherrschaft“ in den Augen des Erzählers nur Chaos stiftet.
In Geschichten über die Teilung Britisch-Indiens und die daraus resultierenden gewaltsamen Unruhen (communal riots) wird der Zug, ehemals Produkt und Werkzeug kolonialer Rationalität, in der indischen Populärkultur nach der Unabhängigkeit zum „body and […] specter“387 für die Gräueltaten zwischen Hindus und Moslems. Als bekanntes Beispiel zitiert die Anglistin Marian Aguiar den Roman „Train to Pakistan“ (1956) von Khushwant Singh, der 1998 verfilmt wurde. Hinzuzufügen gäbe es zahlreiche regionalsprachliche Texte, die den Zug in instabilen Zeiten zum unheilvollen Ort der Begegnung von Menschen unterschiedlicher sozio-religiöser Gemeinschaften machen. In „Amritsar!“ (amr̥tsar ā gayā!) von Bhisham Sahni (1915-2003) zum Beispiel wiederholen sich auf engstem Raum die Feindseligkeiten, die sich in der Welt ‚draußen‘ ereignen.388 Sampooran Singh Kalra, besser bekannt als Gulzar (geb. 1936), schildert in der tragischen Geschichte khauf, „Todesangst“, die sich auf die kommunalistischen Ausschreitungen in Bombay Anfang der 1990er Jahre bezieht. Auf beklemmende Art und Weise wird erzählt, wie ein Mann aus schierer Panik einen Unschuldigen tötet, bloß weil er den anderen für einen Hindu und damit als potentiellen „Feind“ hält.389
In der jüngeren Hindi-Literatur seit ca. 1970 ist der Bahnhof in erster Linie ein Bezugspunkt für den Fremden, so auch in Bhatiyas „Deadline“. Darin zieht es den Protagonisten bei seinen spätabendlichen Streifzügen auch zum Bahnhof. Einige Schriftsteller thematisieren das Pendlerleben und die damit verbundene Enge und das Gedränge. Bei Gyanprakash Vivek erscheint die Menge aus der Distanz als eine homogene Herde, die die Stadt zu Tagesbeginn und am Feierabend be- und entvölkert:
An jenem Abend war ich ziemlich kaputt. Der Zug hatte Verspätung. Ich langweilte mich. Also stellte ich mich unter die Neonröhre am Bahnsteig und starrte so eine Weile auf meinen Zwergenschatten. Dann begann ich die Menge zu beobachten, die kopflos vom Bahnsteig auf die Straße hastete. Das war dieselbe Menschenmenge, die gerade erst aus dem Zug gestiegen war. Menschentrauben machten mir Angst. Weil ich nicht Masse sein wollte, vielleicht deshalb. Die Menschenmenge auf dem Bahnsteig, die die Stadt bevölkerte, war kurze Zeit später wie weggefegt.390
In den Augen des Erzählers ist der Pendler ein ewig Getriebener zwischen Peripherie und Zentrum: „Der Pendler. Täglich auf der Flucht zwischen Vorort und Stadt. Ein Leben wie im Uhrwerk. […] Panik, in der Masse verloren zu gehen. Die Angst, von der Großstadt zermalmt zu werden.‍“391 Der Pendler erscheint als ein getriebenes Tier, das in der ständigen Angst lebt, vom Moloch verschluckt zu werden. Dieses Motiv der erdrückenden Masse ist ein Teil der dystopischen Stadtnarrative aus dem Blickwinkel des Fremden oder Neuankömmlings.392 Die körperlichen und mentalen Auswirkungen der Platznot und des Gefühls, ein Getriebener zu sein, werden mitunter detailliert beschrieben. Ähnliche Erfahrungen mit Enge und Gedränge können, besonders in Kombination mit großer Schwüle, klaustrophobische Beklemmungen hervorrufen, Gereiztheit und Aggressionen auslösen oder aber sexuelle Phantasien anregen.393
Ein weniger dystopisches, dafür umso lakonischeres Bild vom alltäglichen Kampf des Pendlers im überfüllten Schnellzug durch Delhi zeichnet Prakash Manu (geb. 1950) in „Eintagsodyssee“ (ek din kā saphar'nāmā), die hier etwas eingehender besprochen werden soll, um einen Eindruck vom lebendigen und originellen Umgang des Autors mit einem ganz alltäglichen Thema geben zu können. Überraschenderweise beginnt diese Kurzgeschichte damit, dass der Erzähler den Zug mit einem Zuhause gleichsetzt:
Fragten Sie mich nach dem Wort, das „Zug“ am nächsten kommt, lautete meine Antwort „Zuhause“.
Zuhause…? würden Sie stutzen. Klar, was sonst? Aber glauben Sie mir, ich sage das nicht, um Sie zu schocken.
Ich würde das sagen, weil ich davon überzeugt bin.
Meine Antwort wäre: Zuhause.394
Obwohl der Pendler, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, sich dessen völlig bewusst ist, dass gestoßen und geschubst wird, und obwohl er in jahrelanger Pendelei dutzende blaue Flecken davongetragen hat und auch das eine oder andere materielle Opfer zu beklagen hat, büßt der Zug für ihn doch nichts an Heimeligkeit (gharelūpan) ein.395 Der Grund: Er ist eine soziale Kontaktzone, auch im wortwörtlichen Sinne, denn im Zug findet Austausch über alltägliche Dinge statt und er ist ein Ort kreativen Leerlaufs.
Wie in Viveks Pendler-Beschreibung ist auch bei Manu die Menschenmenge (bhīṛ) ein gesichtsloser Pulk, der in den Zug hinein oder hinaus drängt. Der Einzelne wird ein willenloser Teil dieser organischen Masse. Innerhalb des Zuges jedoch beginnen sich die einzelnen Bestandteile aus der scheinbar gleichförmigen Masse herauszulösen. Der Beobachter beschreibt einzelne Personen, die ihn, wie sie so an der Stange baumeln, an Jesus und an ein Motiv in Kamleshwars „Ein Tod in Delhi“ (dillī meṃ ek maut)396 erinnern. Er lauscht ihren Gesprächen über Land, Politik, die eigenen Kinder, die Inflation, jüngste Zugunfälle und Prügeleien.397 Beim Zuhören und Zuschauen ergründet er die Psychologie des Pendlers: „Sollten Sie gerade mit dem Zug unterwegs sein, verbannen Sie sich für eine Weile in einen toten Winkel. Es wird Ihnen nicht so vorkommen, als stünden Sie in einer Ecke, sondern als hätte man Sie in ein Meer von Stimmen geworfen.‍“398 Ein paar Männer machen Witze und spielen nebenbei – im Stehen wohlgemerkt – Karten. Aus dem Waggon nebenan ist Kirtan-Gesang zu hören. Nun fällt sein Blick auf einen Mann, den weder sein Schnarchen und der laute Gesang, noch das heftige Schaukeln des Zuges aus dem Standschlaf reißen können. Doch kurz darauf passiert das Unvermeidliche: Er kippt um. Glücklicherweise ist ein junger Mann zur Stelle, der ihn auffängt. In Tughlakabad (südlich von Neu-Delhi) steigen junge Männer und Frauen zu, die einen der begehrten Jobs in Okhla, dem Industriegebiet im Südosten Delhis, ergattert haben. Er hört beiläufig, wie ein paar junge Männer, die etwas abseits in der offenen Zugtür stehen, über die werktätigen Frauen vom Leder ziehen:
„Diese verfluchten Weiber, stehen jeden Tag auf der Matte, alles nur, um sich selbst zum Affen machen zu lassen…“
„Ich raff’s nicht. Was sollen die schon arbeiten… beim Leben meiner Mutter!“
„Aji, na so haben die mal frei von den altmodischen Klamotten und dem Gequatsche daheim!“
„Wer hat ihnen denn erzählt, dass die zum Arbeiten kommen, Herr Cadrha? Da laufen im Büro noch ganz andere Sachen heiß als die Telefondrähte. Warum sollten die sich sonst so aufdonnern?! Haben Sie die da drüben gesehen? Ganz schön heißes Moped was! Hehehe…“399
Der Betrachter gerät über diese sexistischen Äußerungen in blinde Wut und will die Rüpel am liebsten anschreien: „Passt es euch etwa nicht, dass sie das Haus verlassen? Die eigenen Frauen legt ihr in Ketten und geht dann draußen auf Frauenjagd, schämt ihr euch nicht?“.400 Das verkneift er sich dann aber angesichts der Tatsache, dass die Männer in der Überzahl sind. Nun, da er einen Sitzplatz am Fenster ergattert hat, betrachtet er die vorbeiziehende Landschaft. Eine Baumreihe erinnert ihn an ein früheres Zuggespräch mit seinem Bekannten Bhargav. Damals war ihm eine abstruse Idee in den Sinn gekommen: Man sollte einen fliegenden Baum besitzen, der einen schnell und ohne das tägliche Gewühl zur Arbeit brächte. Im Vergleich zum Zug wäre es ein schöneres, grüneres Zuhause. Bhargav wendet ein, dass es aber auch ein grünes Blutbad gäbe, wenn die Bäume mit Flugzeugen zusammenstießen. Seine Baum-als-Verkehrsmittel-Phantasie endet abrupt, als der Zug Minto Bridge (neuer Name: Shivaji Bridge) erreicht, und sein Freund ihn daran erinnern muss, auszusteigen. Jene Zugfahrt liegt schon ein paar Jahre zurück, doch die Erinnerung an diesen schönen Zeitvertreib ist noch frisch und er resümiert, dass derlei time pass die einzige Waffe des Pendlers gegen die tödliche Langeweile sei. In Okhla leert sich der Zug. Kaum dass man sich’s versieht, stiebt die Menge in alle Himmelsrichtungen auseinander. An der Hazrat Nizamuddin Station (im südlichen Neu-Delhi) steigen zwei kleine Mädchen in dreckiger Kleidung zu, die scheinbar routiniert und völlig versunken auf dem Boden spielen. Bald erreicht der Zug den Bahnhof Minto Bridge im Zentrum, wo die Luft voller Gelächter und Gefluche ist, und er aussteigen muss: „Und heute Abend wieder dieselben Schienen, dasselbe Hauen und Stechen, eben dieses Zuhause.‍“401
Die Menschenmenge (bhīṛ) tritt in den Textstädten als organisches Ganzes auf, das sich hektisch und herdenartig bewegt. Diese Perspektive ergibt sich, wenn der Betrachter einen Standpunkt außerhalb der Menge einnimmt, wie anhand von Manus Erzählung nachvollzogen wurde. Sobald das Element der Hektik herausfällt, treten aus der anonymen Masse einzelne Individuen heraus. Die Menschenmenge verliert ihren bedrohlichen, unkontrollierbaren Charakter und entfaltet ihr Potenzial als Studienobjekt.402
Manus pendelnder Beobachter zeigt, dass das tägliche Zugfahren um das Jahr 2000 herum, so lästig es allen Beteiligten auch manchmal wird, ein integraler Bestandteil städtischen Lebens ist, und der Zug für viele Städter zum temporären Zuhause werden kann. Der Pendler ist unfreiwillig Teil der Masse und muss sich gleichzeitig gegen diese durchsetzen und abgrenzen, wenn es darum geht, sich angesichts der akuten Platznot zu behaupten. Ist ihm das gelungen, ist er zum Stillstand und Nichtstun verdammt, aus der Muße zur Beobachtung und Kreativität entstehen kann. Der Zug hat bei Manu das Potenzial, ähnlich dem Coffee oder Tea House, einen Debattenraum zu eröffnen, in dem man sich über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft austauscht. Er stellt eine Kontaktzone dar, die Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und sozialem Hintergrund – wenigstens räumlich – zusammenführt. Gandhis kulturpessimistische Bedenken gegenüber der Eisenbahn als ordnungszersetzende Erfindung verlieren in Manus Pendlerbericht jegliche Bedeutung. Anstatt den Zug als imperialistische Bedrohung bzw. ultimatives Zeichen des Fortschritts zu stilisieren, wie noch zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, beschreibt Manu den Zug als integralen Bestandteil des städtischen Alltags, ja, gar als eine Art Zuhause.
Manus „Eintagsodyssee“ hat gezeigt, dass sich Bahnhöfe und Züge nicht nur als narrative Aufhänger eignen, um die Dynamik der Menschenmenge zu studieren, sondern auch als Platzhalter für die indische Gesellschaft. „Eine kleine Bahnhofsstudie“ (rel've sṭeśan par ek saṃkṣipt nibaṃdh) von demselben Autor ist ein humoriges, stellenweise skurriles Soziogramm des Bahnsteigmilieus. Manu verbindet in einer modernen Spectator-Figur journalistische Techniken mit soziologischem Interesse.403 Der Spectator, passiver Teilnehmer eines Spektakels, ist neben dem Flaneur (Kapitel 2.4.2) eine prominente Figur der modernen Metropole. Die Literaturwissenschaftlerin Alison O’Bryan untersucht in ihrer Studie die unterschiedlichen Bedeutungen dieser Figur (und Erzählperspektive) bei europäischen Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Sie stellt fest, dass in früheren Texten vor allem die moralische Erziehung des Lesers im Vordergrund stand. Der Spectator vermittelte Idealvorstellungen von Geschmack, Höflichkeit und zwischenmenschlichen Umgangsformen und hielt der bürgerlichen Öffentlichkeit den Spiegel vor.404 Im 19. Jahrhundert kam eine andere Figur auf, der Flaneur, bei dem nun mehr als die städtischen Formen geselligen Beisammenseins individuelle Erfahrungen und die Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft thematisiert wurden.405
Manus „Bahnhofsstudie“ vermittelt – ähnlich wie europäische Spectator-Texte – Idealvorstellungen vom gesellschaftlichen Umgang und arbeitet sich gleichzeitig mit satirischen Mitteln an ihnen ab. Im Unterschied zu O’Bryans Beispielen früher Spectator-Literatur richtet sich Manus Aufmerksamkeit nicht auf bürgerlich-private Milieus. Seine Erzählungen stecken voller Alltagserlebnisse, die im Modus der internen Fokalisierung (Mitsicht) Gespräche und Ereignisse wiedergeben, die sich in Zügen, Taxis oder Bahnhöfen und damit in der städtischen Öffentlichkeit abspielen. Bereits der erste Satz seiner „Bahnhofsstudie“ macht deutlich, dass die Betrachtungen als mimetische Alltagsskizzen angelegt sind, in denen der Erzähler seine Beobachtungen in größere Zusammenhänge einbettet: „Könnte es einen besseren Einstieg in einen Essay geben, als dass Bahnhöfe weitläufig, chaotisch und laut sind, sich jedoch nicht vom Fleck bewegen, genau wie unser Land? […] Na besser nicht, sonst käme am Ende ein extrem verwickelter Bericht, der nicht enden will.‍“406
Manus Betrachter reflektiert seine Funktion als „Schreiberling“, indem er sich auf einen Autor namens Kamlakar Babu beruft, der alles in seinem Notizbuch festgehalten hat, was er mit seinem „Kamerablick“ wahrgenommen hat: „Kamlakar Babu hat gleich Stift und Notizbuch gezückt und die Augen, genau wie bei einer Filmkamera, mal geradeaus gerichtet, mal nach rechts und links…“407 Durch diese Reduktion des Erzählers auf eine mimetische Maschine distanziert er sich von der fiktionalen Natur seines Berichts (nibaṃdh) und erzeugt die Illusion einer „wahren Geschichte“ (‚as'lī‘ kissā, S. 124). Zum einen bewirkt der distanzlose Modus, dass „die Präsenz des Erzählers […] scheinbar bis auf Null reduziert“408 werden kann, und eine objektive Darstellungsweise erreicht wird. Diese mimetische Illusion wird dadurch verstärkt, dass eine annähernd „zeitliche Koinzidenz von Erzähltem und Erzählen“409 herrscht. Das Subjekt protokolliert das Geschehen Szene für Szene im Stil einer phänomenologischen Beschreibung im Präsens.410 Die homodiegetische Position des Erzählers erzeugt den Eindruck, der Erzähler sei am erzählten Geschehen als Beobachter beteiligt. Durch die direkte Ansprache des Lesers schlüpft auch der Adressat der Erzählrede in die Rolle einer Person, die wie selbstverständlich ein Teil der erzählten Welt und ihrer Figuren ist.411 Diese Technik verstärkt beim Leser den Eindruck, mitten im Geschehen zu stehen. Dabei ist die „Bahnhofsstudie“ viel mehr als nur ein mimetisches Abbild realer Situationen oder eine objektive Studie. Schließlich lässt der Spectator auch seine ganz subjektiven Ansichten z.B. über ‚typisch‘ weibliche und männliche Verhaltensweisen mit einfließen.
Wie bei einem Filmeinstieg in der Supertotale wird der Bahnhof zunächst von oben beschrieben: „Guckt man so von oben auf den Bahnhof, ist da ein einziges großes Gewusel, Rauschen und Rascheln. Man sieht Saris, Hosen, Anzüge, auch ein paar Kurtas und Dhotis. Es gibt Kinder, es gibt Große und es gibt Dicke. Alle Augen warten auf den Zug.‍“412 Was den Reisenden bei allen Unterschieden gemein ist, ist, dass sie sich bis zur Ankunft des Zuges die Zeit mit einem Schwatz vertreiben wollen: „Solange der Zug nicht kommt, hält man einen Plausch… (das, was in Indien am billigsten zu kriegen ist!)“413 Er erinnert sich an eine soziologische Studie, derzufolge selbst Menschen, die sich sonst nicht gerne unterhielten, im Bahnhof regelrecht aus sich heraus kämen. Er vermutet psychologische Ursachen dahinter, denn im Bahnhof fühle man sich innerlich „freier“ (jyādā ‚mukt‘).414 Nach dieser allgemeinen Einschätzung widmet er sich den selbstbewussten Frauen auf dem Bahnsteig, die ein Spiegel für die Emanzipation seien: „Will man sehen, wie weit es die Frauen in Indien gebracht haben, muss man sich im Bahnhof nur die Pendlerinnen angucken.‍“415 Der Beobachter zeigt sich in seinen Beschreibungen von diesen „neuen Frauen“ zugleich fasziniert und abgestoßen, etwa von ihren geschminkten Lippen und ihrem falschen Lachen. Er stellt fest: „Frauen lieben nur sich selbst und ihre Schönheit. Sie wollen einen Mann, der dauerhaft ihre Schönheit subventioniert.‍“416 Diese Abrechnung mit dem weiblichen Geschlecht gipfelt im Vorwurf, Frauen seien nur hinter reichen Männern her. Zwar bekommen auch Männer ihr Fett weg. Aber die Tatsache, dass viele von ihnen Zeitung lesen, veranlasst ihn dann doch wieder zu einem Vergleich mit dem Leseverhalten von Frauen. Letztere würden lieber reden als lesen: „Was Frauen so alles zusammenschnattern, können Männer in sieben Leben nicht reden.‍“417
Zwischendurch erinnert er sich an seine Mission: „Ich beobachte alles. Ohne Unterbrechung. Immerzu beobachten. (Nicht zu verwechseln mit einem Gestörten, der nur damit beschäftigt ist, andere zu begaffen!)“418 Es folgen amüsante Beobachtungen zu Hütchenspielern und einer beleibten Frau in zu engen Kleidern: „An allen Ecken und Enden quillt der Speck nur so hervor, dass man sich fragt, wie sich der festgezurrte Körper daraus bloß wieder befreien soll.‍“419 Immer wieder vergleicht er „typische“ weibliche und männliche Verhaltensweisen. Während dicke Frauen z.B. gerne als erstes eine Bank okkupierten, blieben die dünnen, geschwätzigen in Gruppen stehen und kicherten ständig. Frisch gebackene Ehemänner steckten ihre Nasen zusammen, dass man meinen könnte, sie hätten daheim nur wenig zu lachen. Dann gibt es noch in einer Ecke eine Gruppe schmuddeliger Männer, Frauen und Kinder mit allerhand Transportgut. Sie wirken beinahe so, als wären sie hier auf dem Bahnsteig zu Hause:
Sie hocken so geduldig auf dem Boden, als wären sie vor kurzem erst dort zur Welt gekommen! Kinder sitzen vergnügt auf Bündeln und Päckchen, dass man meint, der Bahnhof sei ihr Zuhause. Ein freches Balg rennt auf das Ende des Bahnsteigs zu… Oh, jetzt fällt es, und… bums, voll auf die Nase, aber obwohl es es so hingeledert hat, lacht es. Ein Mädchen, das im Schneidersitz auf dem Boden sitzt, hat so damit zu tun, ein trocknes Fladenbrot herunterzuwürgen, dass ihr schier die Augen rausfallen.420
Unser Betrachter beschreibt eine weitere Figur auf dem „Bahnhofs-Tableau“, einen heruntergekommenen Mann, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzt. Die Hose des Mannes ist genau an der Stelle zerrissen, wo sie besser ganz sein sollte. Leute steigen über ihn drüber und Fliegen scheitern beim Versuch, in seine Nasenlöcher hineinzufliegen. Zu allem Überfluss kommt dieser verlotterten Gestalt schwanzwedelnd ein Hund gefährlich nahe.421 Der Erzähler wundert sich, wie viele Jahrhunderte auf dem Bahnhof nebeneinander existierten und fragt sich, ob dem Mann nicht mal jemand klar machen sollte, dass das Land, nur er nicht, schon lange in der Postmoderne angekommen sei. Für diese steht eine Gruppe junger Berufsanfänger, die voller Erwartung auf das Kommende sind. Die Männer unterhalten sich üblicherweise über ihre glatzköpfigen Chefs („Warum sind deren Chefs eigentlich immer kahlköpfig?“)422, ihre Kollegen und den Arbeitsplatz, um sich zu profilieren. Je mehr der Bahnhofs-Betrachter ihren Gesprächen lauscht, desto fader erscheinen ihm im Vergleich dazu die Romane, die er gelesen hat. Diese Feststellung veranlasst ihn dazu, ein Appell an seine Schriftstellerkollegen zu richten: „Ich will die Nasen aller Schriftsteller dieser Welt mal hierauf stoßen, guckt her Freunde, hier spielt das Leben! Es sprudelt nur so hervor, während ihr noch in dem Sumpf feststeckt, in dem schon Dutzende vor euch vor sich hingedümpelt sind.‍“423 Er wirft ihnen vor, das „wahre Leben“, das sich überall um sie herum abspiele, nicht wahrzunehmen. Diese Gedanken enden abrupt, als er sich vor einem anhänglichen Typen verstecken muss, der ihn immer in ein Gespräch verwickeln will, seit er weiß, dass der andere ein Schriftsteller ist: „Wie soll ich ihm verklickern, was für ein besonderes Vergnügen es mir bereitet, einfach auf dem Bahnsteig rumzustehen und unbemerkt Leute zu studieren, und wenn der mich darin unterbricht, will ich ihn am liebsten auf die Gleise schmeißen… Kabumm, so würde ich ihn auf die Schienen schmettern.‍“424 Doch zum Glück kommt es nicht so weit, da er schnell in der Menge untertaucht: „Die Menge ist schon Schleier an sich.‍“425 Gleich darauf befindet er sich in einer stockfinsteren Ecke, in der es nach Urin riecht. Daneben befindet sich Bahnsteig sechs, wo einmal ein Jugendlicher, den er kannte, unter eine Lok geraten war. Er, Manoj, hatte Gedichte geschrieben. Da er sich von Freunden und Familie entfernt hatte, steht die Vermutung im Raum, dass er sich möglicherweise umgebracht hat. An dieser Stelle enden die Betrachtungen abrupt und damit auch die Geschichte.426
Die Bahnhofsstudie franst seltsam aus und wird mit einer Formel, die das Ende der Erzählung einläutet, etwas unmotiviert zum Abschluss gebracht. Die Gründe hierfür können vielfältig sein, angefangen bei der fehlenden editorischen Nachbearbeitung vonseiten des Verlags bis hin zu einer absichtsvollen Banalisierung des Schlusses, um dem Alltäglichen bis zuletzt konsequent Rechnung zu tragen. Fest steht, dass beide Kurzgeschichten von Manu um eine Perspektive herum angelegt sind, die es ermöglicht, Typen, Gruppen und soziales Verhalten als pars-pro-toto der Gesamtgesellschaft zu studieren. Unter dem Deckmantel des objektiven Beobachters unterzieht er diese einer moralischen Beurteilung, zum Beispiel über die emanzipierte moderne Frau: Auf der einen Seite empört sich der Erzähler in der „Eintagsodyssee“ über das unzivilisierte Verhalten einiger Männer und deren frauenfeindliche Witze, auf der anderen Seite sind seine spöttischen Kommentare zum Kommunikations- und Leseverhalten von Frauen in der „Bahnhofsstudie“ selbst nicht frei von männlichen Vorurteilen und chauvinistischem Überheblichkeitsdenken. Manus Spectator ist – legt man Simmels Studie über das großstädtische Geistesleben zugrunde – eine durch und durch moderne Figur, deren Gefühle gegenüber Urbanität und gesellschaftlichem Wandel äußerst widersprüchlich sind. Bei aller Satire spricht aus ihr ein traditionell-konservatives Ethos, das geschlechtsspezifisches Verhalten moralisch beurteilt, aber auch hinterfragt. Wohingegen der Spectator das gesellige Treiben in der Regel von einer festen Position aus beobachtet, durchmisst eine andere prominente literarische Figur die Stadt zu Fuß: Der Flaneur. Diese Art der Erkundung ist ein probates Mittel, den urbanen Raum körperlich und geistig zu durchdringen und sich der direkten Konfrontation mit dem städtischen Leben auszusetzen, das ständiger Veränderung unterworfen ist. Das Umherstreifen erfüllt einen empirischen Zweck. Der Gehvorgang und die Dinge, die dabei in den Blick geraten, fördern verschüttete Erinnerungen zutage und regen zur Reflexion über Modernisierung und Globalisierung an, deren Auswirkungen sich allerorten zeigen.
2.4.2 Der saṛak'māp: Die Genese eines indischen Flaneurs427
Für Bengalen weist Hans Harder in populären Geschichten und Satiren des 19. Jahrhunderts einen literarischen Typus nach, der in Gestalt eines Gottes oder Heiligen die moderne Stadt erkundet:
The blueprint for such texts and one of their possible sources is a popular narration that refers us back […] to the nak'śā tradition, namely Durgacharan Ray’s Deb'gaṇer martye āgaman, „arrival of the gods on earth“, of 1880. This mixture between a mock-purāṇa, a travelogue and a guide book uses narrative devices of mythological accounts and applies this frame to contemporary India: the Vedic gods Indra, Varuna, Brahma, Narayana etc. set out for a travel through various Indian cities.428
Göttliche Herabkünfte wundern sich auch im postkolonialen Indien noch über die großstädtischen Umtriebe, die sie „from a locus outside the bounds of the urban modern sphere“429 kritisch oder verblüfft beäugen, wie Harder anhand von Amritlal Nagars „Der Buddha in Delhi“ (tathāgat naī dillī meṃ), N.V. Satres „Indra in Bombay“ (bhag'vān indra bhārat meṃ) oder der populären Sheikh Chilli Geschichten illustriert. Er argumentiert, dass diese Figuren moderne urbane Phänomene aus der Perspektive eines Außenseiters mit traditionell geprägten Sehgewohnheiten bewerten: „To sum up, structurally speaking, all these texts are united in the perspective they construe to visualize modern urban phenomena or urbanity: invariably an outsider’s perspective that evokes ‘tradition’ as an internal looking glass.‍“430 Gerade diese Außenseiterperspektive, mit der jene göttlichen Herabkünfte die Stadt erkunden, macht sie zu Vorläufern des literarischen Flaneurs in der indischen Literatur.
Einen expliziten Hinweis auf die Existenz eines Stadtspaziergängers in der zeitgenössischen Hindi-Literatur liefert das non-lexikalische Kompositum saṛak'māp (oder saṛak'chāp), das jemanden bezeichnet, der die Straße abmisst bzw. abschreitet. Er begegnet uns z.B. in Alka Saraogis Roman „Umweg nach Kalkutta“ (kalikathā vāyā baīpās):
Nachmittags ging Kishor Babu nun täglich Punkt vier Uhr aus dem Haus und streifte stundenlang allein durch die Straßen. Vorher wäre es Kishor Babu nicht einmal in den Sinn gekommen, irgendwohin zu Fuß zu gehen, höchstens, um im Park am Victoria Memorial kurz Luft zu schnappen. Stets hatte er äußerst verächtlich auf die Fußgänger in den Straßen herabgeblickt. Die Verwandten und Freunde, die kein Auto besaßen, hatte Kishor Babu nicht einmal gegrüßt.431
Die Nähe zum cleveren Vagabunden und Landstreicher rückt ihn in die Nähe der amerikanischen Tramp-Figur, wie sie von Charly Chaplin verkörpert wurde.432 Obwohl es dem französischen Flaneur, abgeleitet von flâner („umherstreifen, umherschlendern“), semantisch am nächsten kommt, taucht dieser Begriff in den untersuchten Werken nur verstreut auf. Viel gebräuchlicher sind eine Reihe verbaler Ausdrücke, die Flanerie umschreiben:
ghūm'nā433
(herum-, umher-) laufen, -schlendern; (herum) wandern
(nir'uddeśya/bematlab) (saṛak par) (paidal) bhaṭak'nā/cal'nā434
(zu Fuß) (ziellos/grundlos) (durch die Straßen) laufen/ziehen
ṭahal'nā435
umherstreifen, sich herumtreiben; umherschlendern, flanieren; spazieren; bummeln
gardiś meṃ honā436
im Kreis laufen, ziellos herumlaufen
cakkar lagānā437
eine Runde drehen; (einen Ort) ablaufen; ziellos umherstreifen
Zielloses Herumstreifen ist eine Möglichkeit, die Straßen und Gassen einer Stadt nicht nur im engeren Sinne als Mittel der Orientierung und Navigation abzumessen, sondern sich auch im weiteren Sinne ein Bild von ihr zu machen. Nicht der soziale Typus des aristokratischen Müßiggängers steht hier im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern seine literaturgeschichtliche Funktion als „Projektionsfläche eines großstädtischen Lebensgefühls“438. Diese ist eng an eine narrative Technik gebunden, die Matthias Keidel als „flanierendes Denken“ bezeichnet. Durch die Augen des literarischen Flaneurs nimmt die Stadttopographie auf drei methodisch unterscheidbaren Ebenen Gestalt an: Auf einer technischen Ebene bietet der Stadtspaziergänger eine Perspektive, die den urbanen Raum für den Leser durch die Übertragung des dreidimensionalen physischen Raums in den zweidimensionalen Textraum visuell, akustisch, geruchlich oder sogar haptisch zugänglich macht. Doch bleibt es nicht bei einer reinen mimetischen Funktion. Der Flaneur schreibt sich auf einer semiotischen Ebene durch Pfade, Routen und Routinen selbst in die Stadt ein.439 Schon Walter Benjamin erkannte die produktiven Möglichkeiten der Flaneur-Figur, so Michael Opitz, „da [sie] die Kunst beherrscht, während des Flanierens eine Stadt entstehen zu lassen, die er in die bestehende projizieren kann.‍“440
Auf der Suche nach einem kulturwissenschaftlichen Raumkonzept ruft der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme in Erinnerung, dass Raum und Räumlichkeit erfahren werden müssen, um überhaupt begreifbar werden zu können: „Die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im Raum vollziehen […], erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen.‍“441 Kulturelle Topographien können als Einkerbungen (graphé) verstanden werden, die den Raum prägen und strukturieren, wobei Böhme auch Pfade, Routen und Routinen der Bewegung als Graphien des Raumes auffasst.442 Hier knüpft Böhme an Michel de Certeaus „Gehen in der Stadt“, einem Kapitel aus „Practice of Everyday Life“,443 an, in dem das Einschreiben in die Stadt, die er als Textgewebe auffasst, als Praxis „von unten“ beschrieben wird:444 Einerseits durchschreite der Fußgänger den Raum,445 indem er dem Schriftbild des städtischen Textes folge, andererseits schrieben sich die Fußgänger durch diese Bewegungspraxis gleichermaßen in ein Netz aus Schriften ein, die vielschichtige Geschichten bildeten.446 De Certeau argumentiert also, die metaphorische Stadt sei ein Produkt des Spaziergängers, das innerhalb der geplanten, also gebauten Stadt existiere.447 Der Bezug zur Literatur bietet sich nicht nur wegen dieser metaphorischen Lesart von Bewegung im urbanen Raum an. De Certeau macht deutlich, dass es eine gebaute, mit seinen Worten „geplante“ Stadt, gebe, die mit der „metaphorischen“ oder „herumwandernden“ Stadt durchzogen sei. Damit setzt er die metaphorische Stadt mit einem sozialen und kulturellen Raum gleich, der durch die menschliche Bewegungspraxis gestaltet wird. Hartmut Böhme führt de Certeaus theoretischen Grundgedanken vom Netz aus Schriften weiter aus, indem er den Begriff der kulturellen Topographie einführt und dessen verschiedene Bedeutungsebenen und Funktionen näher bestimmt. Ganz grundsätzlich beschrieben Topographien als räumliche Ordnungsverfahren einen semiotisch organisierten Raum. Allerdings repräsentierten sie Raum nicht nur, sondern „performierten“ ihn auch, was Topographien zu Darstellungen im doppelten Sinne machten. Topographien seien im Sinne von Praktiken im Raum auch Verortungen und Bahnungen, „die Richtungen codieren, über mögliche Bewegungen orientieren, Routen vorzeichnen, mögliche Ziele und Lagen bezeichnen, aber […] auch Narrative über Gefahren, Begegnungen, Ereignisse etc. enthalten können.‍“448 Michel de Certeau und Hartmut Böhme verstehen die alltägliche Praxis des Gehens als einen kulturellen Aspekt urbaner Topographie, wie er insbesondere in der mnemonischen Dimension von Flânerie in Walter Benjamins Passagenwerk zum Ausdruck kommt.449
Jüngere literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zum Flaneur machen deutlich, dass sich die Figur in erster Linie als konzeptuelles Instrument etabliert hat, mit dem sich urbaner Wandel und die damit verbundenen Auswirkungen auf den (post)modernen Zeitgeist analysieren lässt.450 Trotz unterschiedlicher methodischer Zugänge scheint doch Einigkeit über die Grundannahme zu herrschen: „[t]he flâneur observes and seeks the meaning of his modernity“.451 Keith Tester weist in einer prägnanten Typologie darauf hin, dass der Flaneur der frühen Moderne im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts eine Metamorphose durchlaufen hat:
Flânerie, the activity of strolling and looking which is carried out by the flâneur, is a recurring motif in the literature, sociology and art of urban, and most especially of the metropolitan, existence. Originally, the figure of the flâneur was tied to a specific time and place: Paris, the capital of the nineteenth century as it was conjured by Walter Benjamin in his analysis of Charles Baudelaire […]. Not least, the figure and the activity appear regularly in the attempts of social and cultural commentators to get some grip on the nature and implications of the conditions of modernity and post-modernity. The flâneur has walked into the pages of the commonplace. But despite this popularization, the precise meaning and significance of flânerie remains more than a little elusive.452
Während der Flaneur in der europäischen und amerikanischen Forschung als Untersuchungsgegenstand anscheinend nichts an Strahlkraft eingebüßt hat, ist der indische Flaneur nur am Rande erforscht worden.453
Wie können diese theoretischen Vorstellungen von Topographien als Routen und Wege, Verortungen und Bewegung nutzbar gemacht werden, um über die kulturelle Konstruktion von Räumlichkeit in der Hindi-Literatur nachzudenken? Die übergeordnete Frage versucht zu beantworten, wie die Stadt mittels Bewegung in den zweidimensionalen Textraum übertragen wird. Im ersten Abschnitt wird deshalb der Spaziergänger, die literarische Figur des Flaneur oder Tramp, im Mittelpunkt stehen, der sowohl durch sein Gehen Ausschnitte des Stadtraums erschließt und dem Leser erfahrbar macht.
Um den saṛak'māp überhaupt erst einmal ausfindig zu machen und in einen größeren zeitlichen Kontext zu stellen, bietet sich eine diachrone Herangehensweise an. Dafür gilt es zu klären, wie sich das Verhältnis von Individuum und Masse gestaltet: Wo und wie verortet sich der Spaziergänger in der gebauten und metaphorischen Stadt? Welches urbane Ethos spricht aus den Reflexionen, Erinnerungen und Betrachtungen dieser dem urbanen Umfeld entsprungenen Figur? An das „Einschreiben“ in den Raum sind zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen geknüpft. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, zeichnen sich im Zeitraum von ca. 1960 bis 2010 drei Paradigmenwechsel ab, in denen sich die späten 1980er und frühen 1990er Jahre als ideengeschichtlicher Wendepunkt in der Wahrnehmung der Stadt abzeichnet, der den endgültigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne einläutet. Während in Texten der frühen postkolonialen Ära in den 1950er und 60er Jahren das flanierende Subjekt – häufig selber ein Fremder in der Stadt – auf seinen Streifzügen durch die Stadt das Bad in der Menge sucht, setzt in den 1970er und 80er Jahren ein Entfremdungsprozess ein: Der saṛak'māp hadert mit der ihm oder ihr vertrauten Stadt. Um 2000 klafft eine große Lücke zwischen dem allgemeinen urbanen Ethos und der Wahrnehmung des Flaneurs oder Tramps, der als verrückter Einzelgänger normative Vorstellungen von Wachstum, Fortschritt und die Lage der Nation durch sein ‚anormales‘ Verhalten in Frage stellt.
Das Bad in der Menge: Der einsame Flaneur (ca. 1950-70)
Da die Kurzgeschichte als beliebtestes Genre der Autoren der Nayī Kahānī gilt,454 sollen hier exemplarisch zwei Beispiele vorgestellt werden, die ein Bild vom einsamen Neuankömmling in der im Entstehen begriffenen postkolonialen indischen Megastadt zeichnen. Mohan Rakeshs „Kaputte Schuhe“ (phaṭā huā jūtā) und Kamleshwars „Verlorener Kurs“ (khoī huī diśāeṁ) werden aus der Perspektive eines jungen Mannes erzählt, der reflektiert, wie es sich anfühlt allein unter Fremden zu sein. Dieses Gefühl entsteht aus einer paradoxen Situation heraus; streben die Protagonisten doch ins Zentrum von Bombay (Rakesh) respektive Delhi (Kamleshwar). In „Kaputte Schuhe“ (1957) hat Ray, die Hauptfigur, 30 Rupien bei einem Quizwettbewerb gewonnen, mit denen er sich nun einen kleinen Luxus leisten will, nämlich neue Schuhe.455 Nachdem er sich ausgiebig in Tagträumen ergangen hat, verlässt er am späten Nachmittag sein Zimmer, das tagsüber als Büro und Lagerraum für Operationsbesteck genutzt wird, und läuft ohne Eile in Richtung Stadtzentrum:
Ein paar Trams zuckelten im Schlepptau Richtung Colabadevi und an der Ecke zur Princess Street hielt just in dem Moment der Bus nach Flora Fountain. Während er noch guckte, war der Bus schon wieder losgefahren und obwohl er den Plan hatte nach Flora Fountain zu gehen, setzten sich seine Füße nicht in Bewegung. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, trat die fingernagelgroße Kippe aus und machte sich auf den Weg nach Crawford Market.456
Beim Gehen denkt er an Dinge, die bei früheren Spaziergängen seine Blicke auf sich gezogen haben:
Draußen fielen ihm wieder all die Sachen auf, die er mal für mal hatte kaufen wollen. In Whiteways hatte er eine wunderschöne Schreibtischlampe entdeckt, deren blasses Blau ihm so gut gefiel. […] Vor ein paar Tagen hatte er auf dem Bürgersteig in Flora Fountain einen jungen Mann mit einer schicken Krawatte gesehen. Unterwegs zogen alle möglichen Dinge seine Aufmerksamkeit in Bann.457
Am Schuhladen angekommen, geht Ray hinein und probiert ein Paar an, das er in der Auslage entdeckt hat. Doch der Gedanke, sein gesamtes Preisgeld mit einem Schlag los zu sein, hält ihn vom Kauf ab. So verlässt er am Ende das Geschäft, nur um weiter ziellos in der Gegend herumzulaufen:
Er drehte eine Runde über den Crawford Market und machte sich dann auf nach Boribander. An der Straßenbahn-Kreuzung beobachtete er eine Weile die wartenden Passagiere. […] Eine Bahn kam aus Flora Fountain und nahm gut die Hälfte der Leute mit. Ray entfernte sich von der Haltestelle und ging Richtung Flora Fountain. Als ihm auf Höhe Hornby Road eine Menschentraube ins Auge stach, mischte er sich intuitiv darunter.458
Die letzte Station seines kleinen Ausflugs führt ihn in ein nobles Restaurant, wo er von einer Anglo-Inderin angesprochen wird. Schnell überfordert ihn diese Situation und zudem fürchtet er, die Frau wolle einen Drink spendiert bekommen, also macht er sich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub. Auf dem Weg zurück zu seiner Wohnung geht er an all den Läden vorbei, in denen er auf dem Hinweg Dinge gesehen hat, die er gerne gekauft hätte. Nur die Auslage des Schuhladens würdigt er keines Blickes. Als er schon von weitem das Haus sieht, in dem er im vierten Stock wohnt, und die Garküche, wo er oft isst, fällt ihm ein, dass er noch offene Schulden für Essen, Zigaretten und Paan hat, die beglichen werden müssen.
Ray ist ein typischer Nayī Kahānī-Charakter: Ein wahrscheinlich gut ausgebildeter junger Mann, der in einfachen Verhältnissen lebt und sich mehr schlecht als recht in der Großstadt durchschlägt. Häufig gehören die Protagonisten (wie die Autoren selbst) der gebildeten Mittelschicht an und üben neben ihrem Brotberuf eine Schreibtätigkeit aus, etwa als Journalist oder Autor.459 Ähnlich wie in Europa, wo der Journalismus seit dem 18. Jahrhundert entscheidend zum Aufkommen und großen Erfolg des literarischen spectators und Flaneurs beigetragen hatte,460 stellte das Beobachten der urbanen Umwelt auch für indische Autoren ein essentielles Mittel der Beschreibung und literarischen Reflexion dar. Insbesondere die Menschenmenge,461 die auf Rakeshs Figur auch in anderen Werken462 eine anziehende Wirkung hat und zugleich seine Einsamkeit veranschaulicht, ist ein Schlüsselmotiv in der europäischen Literatur der Moderne.463 Ein prominentes Beispiel ist Baudelaires (1821-1867) Prosagedicht „Die Menge“ (1861):
Es ist nicht jedem gegeben, in der Menge zu baden: Die Menge zu genießen ist eine Kunst; und der allein kann auf Kosten der Menschheit in Lebenskraft schwelgen […]. Masse, Einsamkeit: für den tätigen und fruchtbaren Dichter gleichwertige und austauschbare Begriffe. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern versteht, versteht auch nicht in einer geschäftigen Menge allein zu sein. […] Dem einsamen und nachdenklichen Spaziergänger erwächst aus solcher allumfassenden Verbundenheit ein eigenartiger Rausch.464
Die Figur des einsamen Flaneurs, meist handelt es sich um einen Neuankömmling in der Metropole, begegnet uns auch in den folgenden zwei Jahrzehnten. In Jitendra Bhatiyas „Deadline“ gibt es eine Szene, in der der erfolglose Maler Abhitabh das ambivalente Gefühl von Entfremdung und persönlicher Freiheit inmitten fremder Menschen erlebt, als er in einem iranischen Lokal465 sitzt:
Manchmal fand ich Gefallen daran, inmitten all der Menschen und dem Trubel allein mit mir zu sein. Vielleicht wohnte ja diesem Alleinsein, abgeschnitten vom eigenen Selbstmitleid, alles mit den Augen eines Fremden zu betrachten, ein gewisser Trost inne, der dieses Immergleiche erträglich machte.466
So sinniert auch im zweiten Beispiel, Kamleshwars „Verlorener Kurs“ (1963), der Protagonist Chandar über das Verhältnis des Einzelnen zur Menge nach. Obwohl er im Connaught Central Park von vielen Leuten umgeben ist, fühlt er sich doch einsam und abgeschnitten, was sprachlich durch die Wörter Einsamkeit (tan'hāī), Stille (khāmośī), und Leere (sūnāpan) gekennzeichnet ist:
Und in dieser Flut aus Lärm und Tumult fühlte er sich mutterseelenallein. Was war ihm denn schon nach diesen drei Jahren geblieben, das ihn noch anrührte, das ihm Freude oder Schmerz bereitete? Da war nur mehr eine weite Wüste aus Einsamkeit in ihm, die Leere und Stille unbekannter Küsten und die tosende Brandung der Wellen, die die Stille nur noch unerträglicher werden ließ.467
Diese spezielle Art der Wahrnehmung der Menschenmenge erinnert an diverse Flaneur-Texte der europäischen Moderne, Baudelaires schon erwähntes Gedicht „Die Menge“, und in Hinblick auf das Café Edgar Allen Poes „The Man of the Crowd“ (1840). Walter Benjamin (1892-1940) bemerkt in seiner Studie „Über einige Motive bei Baudelaire“: „The masses in Baudelaire. They stretch before the flaneur as a veil: they are the newest drug for the solitary.‍“468
Konrad Meisig erinnert daran, dass viele indische Autoren mit Werken französischer und russischer Dichter wie E.A. Poe (1809-1848), Guy de Maupassant (1850-1893) oder Anton Tschechow (1860-1904) vertraut waren.469 Sicherlich ließen sich solche intertextuellen Bezüge nachweisen, wenn wir uns eingehender mit dem literarischen Werdegang und den Inspirationsquellen der einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftsteller auseinandersetzten. Allerdings wäre es verfehlt, auf den Zug aufzuspringen, Hindi-Autorinnen und Autoren wie Nirmal Verma oder Mridula Garg betrieben bloßes Nachahmen westlicher Sujets, wie der Literaturkritiker Jaidev es in „The Culture of Pastiche“ bemängelt.470 Stattdessen lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob es sich bei den geschilderten Erlebnissen des Individuums mit der Menschenmenge nicht vielmehr um universale Erfahrungen handelt, die mit den Vergesellschaftungspro­z‍essen der Moderne einhergehen, wie Georg Simmel (1858-1918) oder Max Weber (1864-1920), die Wegbereiter der Soziologie, sie beschreiben.
Aus welchen Gründen aber setzten sich Hindi-Schriftsteller der 1950er, 60er und 70er Jahren so intensiv mit der Erfahrung von Entfremdung und Einsamkeit auseinander?471 Die ersten drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit waren von einer massiven demographischen Urbanisierung geprägt, zum einen bedingt durch die Massenflucht hunderttausender Hindus und Sikhs aus dem Punjab und anderen Gebieten im ehemaligen West-Pakistan, die nach der Teilung Britisch Indiens, vor allem zwischen 1947 und 1951, nach Delhi geströmt waren.472 Zum anderen erwiesen und erweisen sich die urbanen Zentren in Südasien (im Vergleich zu industriell entwickelten Ländern Europas oder Nordamerikas) als noch stärkere Magneten für die Binnenwanderung.473 Doch sind nicht alleine wirtschaftliche Faktoren entscheidend für diese Sogwirkung, sondern, wie im Falle von Delhi und Bombay, auch ihre Bedeutung als kulturelle und intellektuelle Hubs für junge Künstler, Filmemacher und Journalisten.474 Aus diesem Grund dürften uns in der postkolonialen Hindi-Erzählung so viele Neuankömmlinge begegnen, die auf der Suche nach qualifizierten Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten in die Metropolen schwärmen. Dass die Protagonisten dort auch mit der Janusköpfigkeit der Moderne konfrontiert werden, drückt sich besonders in Fragen nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit aus, die sich inmitten einer atomisierten Gesellschaft stellen.475
Bei allen inneren Konflikten, die der fremdelnde saṛak'māp in den 1950er bis 1970er Jahren mit sich und seiner neuen Lebensumwelt austrägt, soll die Charakterisierung des einsamen Flaneurs bei Rakesh, Kamleshwar und Bhatiya nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich diese Individuen im Hinblick auf allgemeine Überzeugungen und Haltungen gegenüber der Stadt in der Mitte der städtischen Gesellschaft befinden. Selbst wenn die Menschenmenge beim einsamen Flaneur wie Chandar in „Verlorener Kurs“ Gefühle von „Angst, Widerwillen und Grauen“476 hervorrufen, will er doch ein Teil von ihr sein.
An den Rändern der vertrauten Stadt (um 1990)
Zu Beginn der 1990er Jahre zeichnet sich in der Art und Weise, wie der Flaneur oder saṛak'māp die Stadt durchläuft und in Augenschein nimmt, ein Paradigmenwechsel ab. Die Identifikation mit der scheinbar bekannten Stadt wird von den Protagonistinnen und Protagonisten hinterfragt. In den beiden folgenden Beispielen wird dieser Prozess entweder künstlich ins Rollen gebracht oder durch ein Wiedersehen angestoßen, bei dem das Wiedererkennen ausbleibt.
Mridula Gargs „Gegen den Strich“ und Jiten Thakurs (geb. 1953), „In der fremden Stadt“ (aj'nabī śahar meṃ) veranschaulichen, wie der Flaneur eine vermeintlich vertraute Stadt aus einer zeitlichen und/oder emotionalen Distanz erlebt. In Gargs Kurzgeschichte aus dem Jahr 1990 fährt die Ich-Erzählerin, eine Frau mittleren Alters, nach sechzehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Bombay, um dort an einer Konferenz teilzunehmen. Zu ihrer Bestürzung erkennt sie die Stadt, in der sie einst zwei Jahre lang gelebt hatte, nicht wieder:
Stimmt schon, es sind sechzehn Jahre ins Land gegangen, seit ich das letzte Mal in dieser Stadt war. Sechszehn Jahre sind eine lange Zeit, auch das ist mir klar. Aber von irgendwoher muss sie mir doch wenigstens ein bisschen bekannt vorkommen. Schließlich ist das hier nicht irgendein Provinznest, das ist Bombay, Indiens einzige Metropole, wie kann ich sie da komplett vergessen?477
Die Vertrautheit mit Bombay vergleicht sie mit einer Person, die man auch dann noch an ihren typischen Aussehensmerkmalen erkennt, wenn sie in die Jahre gekommen ist:
Sicher, ich war ganze sechszehn Jahre nicht mehr hier gewesen, aber es ist doch eine Stadt, die kann schließlich nicht vom Kind zum Jugendlichen heranwachsen, ohne dass man sie wiedererkennt. Wie sollte das Bekannte aus der Jugend völlig verloren gehen? Auch wenn eine Person alt geworden ist, erkennt man sie vielleicht nicht am ganzen Gesicht, so doch an ein paar Gesichtszügen wieder, die im Gedächtnis auftauchen. So ist es doch, wenn man alte, halb-vergessene Bekannte trifft. Ob Mensch oder Stadt, ob gealtert oder nicht… Aber Bombay?! Egal, von wo aus ich schaue, ich erkenne sie nicht wieder. Dieses Unnahbare an ihr ist so unendlich, so unzugänglich, dass es mich schon fast kalt lässt.478
Die Personifizierung Bombays bildet die Voraussetzung für das Gefühl verloren gegangener Nähe zur einst vertrauten Stadt. Bald beginnt sie, bekannte Orte wie ihre alte Wohnung aufzusuchen, um eine Verbindung zu ihrem früheren Leben herzustellen. Dass Pedder Road, die Straße, in der sie früher wohnte, heute D.B. Deshmukh Road heißt, quittiert sie mit Ablehnung, genau wie die anderen Umbenennungen. Am nächsten Tag macht sie sich nach der Konferenz zum India Gate auf, dem Wahrzeichen der Stadt. Während ihr Blick in die Ferne hinaus aufs Meer schweift, werden Erinnerungen an ihre Beziehung mit einem Mann wach, der sie eines Tages verlassen hatte. Sein Gesicht will ihr jedoch partout nicht in den Sinn kommen und so gibt sie Bombay die Schuld daran, sich an nichts erinnern zu können: „Was ist Bombay nur für eine Stadt, dass sie mir das Fundament meines Lebens stiehlt, mein Erinnerungsdepot ausraubt? Dreh ich jetzt völlig durch? Das können nur Momente von Verrücktheit sein, wie könnte uns sonst jemand unsere liebsten, innigsten Erinnerungen einfach wegnehmen?“479 Plötzlich merkt sie, dass alles, woran sie sich erinnert, mit ihrem früheren Liebhaber und seinem Verlust verbunden ist.
Am nächsten Tag verlässt sie die Konferenz und kauft sich eine Fahrkarte für den Vorortzug (local train) nach Malad. Während sie im Zug sitzt und hinausschaut, verliert die Stadt allmählich ihre Fremdheit: „Heute wird mir alles klar. Nach sechzehn Jahren, während ich alleine in diesem Vorortzug unterwegs bin und auf die Stadt hinausschaue, verliert sie langsam ihre Fremdheit. Jetzt, wo ich gehe, erkenne ich Bombay wieder.‍“480 Obwohl die Protagonistin die Stadt nicht nur zu Fuß erkundet, sondern auch im Zug,481 und ihr Flanieren oftmals einem bestimmten Plan folgt (sie sucht das India Gate bewusst auf und läuft dort nicht zufällig vorbei), erweist sich die Erzählung als ein gutes Beispiel für flanierendes Denken. Durch die Fortbewegung werden verloren geglaubte Erinnerungen ins Bewusstsein zurückgeholt, die wie fehlende Puzzleteile das bruchstückhafte Bild, das die Protagonistin von Bombay hat, zu einem Ganzen zusammenfügen.
Das zweite Beispiel, „In der fremden Stadt“ (parāye śahar meṃ) von Jiten Thakur erzeugt auf künstliche Art und Weise eine distanzierte Sicht auf die Stadt. Die Hauptfigur beschließt eines Tages, inspiriert durch eine Geschichte von Milan Kundera, die Stadt, in der er arbeitet, mit den Augen eines Fremden zu sehen.482 Damit ihm das Experiment gelingt, muss er es tunlichst vermeiden, Bekannten über den Weg zu laufen, und sein lokales Wissen preis zu geben, was ihm wie bei der Rikscha-Fahrt teuer zu stehen kommt, aber: „Woher soll ein Fremder auch wissen, ob es fünf oder sieben Rupien macht.‍“483 Durch das Abschreiten der scheinbar vertrauten Straßen entdeckt er Dinge, die er vorher nie beachtet hat, da er seine Blicke nie nach rechts und links schweifen ließ, sondern immer nur stur geradeaus gerichtet hatte:
Er trat aus dem Hotel nach draußen und probierte gleich aus, ob er die nunmehr fremde Stadt wiedererkennen würde. Und wirklich, für ihn war sie fremd. Da mochte er noch so oft durch diese Straßen gekommen sein – nie hatte er den gelben Wagen mit Puffreis am Straßenrand, die Schalen voller Sesam-Süßigkeiten, den Schuster, die bunten Paan-Stände und die Mini-Imbissbuden eines Blickes gewürdigt. Sonst war er, den Blick stur nach vorne, nix wie durch, mal im Bus mal auf dem Scooter unterwegs. Heute aber betrachtete er all diese Dinge und versuchte sie wiederzuerkennen.484
Später setzt er sich in die Kantine eines Kinos, bestellt Tee und beobachtet das Treiben draußen: „Der Junge hatte ihm die Tasse hingestellt. Er schenkte dem dampfenden Tee einen Blick und spähte dann aus dem Kantinenfenster nach unten. Dahinter waren das große Postgebäude, der Fahrradstand und ein nicht enden wollender Strom von Leuten.‍“485 Als er die Kantine verlässt und hinaus geht, denkt er darüber nach, wie es vor zwanzig Jahren in dieser Stadt zuging. Damals herrschte nicht dieses Gedränge und Gewühl (bhīṛ-bhaṛakkā) und man musste nicht ewig warten, um die Straße überqueren zu können. Diese Meinung teilt auch ein Paanwala, mit dem er ins Gespräch kommt. Und erst der Verkehr, beschwert sich der Verkäufer, „Man fragt sich, wie die Leute zu so viel Kohle kommen, dass heute jeder mit fahrbarem Untersatz unterwegs ist“.486 Der Eintags-Flaneur geht weiter seines Wegs und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Auch hier trägt das Konzept vom flanierenden Denken dazu bei, das ziellose Umherstreifen in der Stadt als kognitiven Akt zu verstehen, der die Wahrnehmung der vermeintlich bekannten Umgebung schärft, indem der Blickwinkel zweifach verändert wird: Zum einen geschieht dies dadurch, dass sich der Spaziergänger die Identität eines Fremden überstülpt und die Dinge mit dessen Augen betrachtet und zweitens dadurch, dass er ständig in Bewegung ist: „Inzwischen war es dunkel geworden, so lange schon streifte er umher. Auf den Straßen lagen verstreut Bündel von Licht. […] Seine Füße und sein Kopf waren vom vielen Herumlaufen und Denken müde geworden.‍“487 Auch hier setzt die Gehbewegung Erinnerungen frei, die, wie in „Gegen den Strich“, mit einer alten Liebe zu tun haben: „Auf der Straße waren kaum noch Leute unterwegs. Er lief ohne Eile los. Im Gehen betrachtete er die Gebäude um ihn herum, fast so, als suche er etwas im Widerhall der Erinnerung.‍“488 Die vagen Erinnerungen nehmen Kontur an, als er plötzlich vor einer Ruine steht, in der er sich mit der jungen Frau, in die er damals verliebt war, heimlich getroffen hatte. Vor seinem inneren Auge läuf ein Film mit den glücklichen Momenten ab, die sie zusammen verbracht haben. Dieser Erinnerungsstrom endet abrupt, als zwei Polizisten ihn festnehmen, da er auf einem privaten Grundstück vor einem ganz und gar nicht zerfallenen bungalow steht.
Beide Beispiele, Gargs „Gegen den Strich“ und Thakurs „In der fremden Stadt“ illustrieren, wie sich die Position, von der aus die urbane Umwelt wahrgenommen wird, um 1990 vom Zentrum zu den Rändern der (imaginierten) Stadt verschiebt. Zwar halten sich die Protagonistinnen und Protagonisten mitten in der physischen Stadt auf. Sie entfernen sich jedoch gedanklich von dem Konstrukt Stadt, der Gesamtheit von Ideen, Haltungen und Vorstellungen, aus denen sich das Bild der Metropole zusammensetzt. Der Flaneur betrachtet die Stadt aus der Distanz. Thakurs Protagonist verfremdet seine Wahrnehmung absichtlich, um einen frischen Blick auf die scheinbar bekannte Stadt zu erhalten und aktiviert damit seine Erinnerungen von vor zwanzig Jahren, die große Schnittmengen mit dieser Perspektive aufweisen. In „Gegen den Strich“ deckt sich das Bild des gegenwärtigen Bombays durch den zeitlichen und emotionalen Abstand nur bruchstückhaft mit dem der Erinnerung und kann erst durch die Fortbewegung wieder instand gesetzt werden.
In diesem Zusammenhang gilt es, auf ein Detail bei Garg hinzuweisen, das die Wahrnehmung der Stadt, hinsichtlich der Frage nach der Distanz, entscheidend prägt: Die Protagonistin denkt sich die Stadt als eine Einheit, ein Wesen, das mit menschlichen Zügen ausgestattet ist, etwa, wenn es darum geht, ob ein Mensch (oder eine Stadt) noch wiederzuerkennen ist, selbst wenn beide in der Zwischenzeit gealtert sind. Hier spricht die Personifikation dafür, dass um 1990 eine emotionale Beziehung zu einer bestimmten Stadt beinahe als gegeben vorausgesetzt wird oder zumindest als erstrebenswert gilt. Ein weiterer Augenmerk gilt dem Moment der Verrücktheit, die sich angesichts der Orientierungslosigkeit einstellt: „Was ist Bombay nur für eine Stadt, dass sie mir das Fundament meines Lebens stiehlt, mein Erinnerungslager ausraubt? Verlier ich jetzt endgültig den Verstand? Das können nur Momente von Verrücktheit sein, wie sonst könnte uns jemand unsere liebsten, innigsten Erinnerungen klauen?“489
Dieses Zitat kündigt bereits den dritten Paradigmenwechsel auf der Schwelle vom ausgehenden 20. zum 21. Jahrhundert an, die der saṛak'māp bei seiner Metamorphose vom einsamen zum verrückten (pāgal) Flaneur übertritt. Warum verrückt? Weil ein Irrer ziellos durch die Straßen der Stadt streift, oder weil das soziale Umfeld und die geltenden Normen eine solche Aktivität als sinnlos, wenn nicht gar als schwachsinnig abstempeln? Wie ist Verrücktheit im Kontext urbaner Erfahrung konnotiert? Und wie vollzieht sich der Wandel der Protagonisten zu heimatlosen Tramps, wenn auch nicht im physischen, so doch im geistigen Sinn? Im dritten Teil werden drei verrückte Stadtwanderer vorgestellt, die aus dem normativen Rahmen ausbrechen, der das Bild umgibt, das sich die Menschen von der Stadt machen. Von dieser distanzierten Position stellt der Flaneur konforme Überzeugungen und Vorstellungen von Modernisierung und Globalisierung in Frage.
Aussteiger: Der verrückte Tramp (um 2000)
Aus medizinischer Sicht sind die Krankheitsbilder, die mit Wahnsinn in Verbindung gebracht werden, in den hier untersuchten Texten eher unspezifisch. Es ist anzunehmen, dass die Autorinnen und Autoren nicht in erster Linie das Ziel verfolgen, bestimmte pathologische Symptome zu beschreiben. Vielmehr scheint Irrsinn als literarisches Mittel mit einer sozio-kulturellen Bedeutung aufgeladen zu sein, die sich eindeutigen Aussagen mitunter entzieht. In einer historischen Diskursanalyse betrachtet Michel Foucault Wahnsinn als gesellschaftliches Phänomen und untersucht, wie und wann Verrücktheit als Abweichung von der Norm, als Abwesenheit von Vernunft und sogar als „Nichts“ ohne gesellschaftlichen Wert aufgefasst wurde.490 Lillian Feder erinnert daran, dass fiktionaler Wahnsinn in der Literaturgeschichte, abgesehen von seinen medizinischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Implikationen, auch immer als Ausdrucksweise zum Einsatz gekommen ist:
The madman of literature is, to some extent, modeled on the actual one, but his differences from such a model are at least as important as are his resemblances to it: he is rooted in a mythical or literary tradition in which distortion is a generally accepted mode of expression; furthermore, the inherent aesthetic order by which his existence is limited also gives his madness intrinsic value and meaning. A mad literary character must thus be approached on his own terms, through the verbal, dramatic, and narrative symbols that convey the unconscious processes he portrays and reveals.491
Aus erzähltheoretischer Sicht werden in den Hindi-Texten zwei Möglichkeiten durchgespielt, um die Figur des verrückten saṛak'māp zu etablieren. Einmal kann er aus einer externen Betrachterperspektive beschrieben werden, wie in „Metropole“ (mahānagar) von Rajendra Dani (geb. 1953) und in Prakash Manus „Sokrates in meiner Stadt“ (suk'rāt mere śahar meṃ). In diesen Fällen geben äußerliche Merkmale den Flaneur als Irren zu erkennen: Er trägt zerlumpte Kleider, oder – steht es sehr ernst um seinen geistigen Zustand – gar keine und legt ein anormales Verhalten an den Tag. Ein wildes Erscheinungsbild und befremdliche Gewohnheiten wie böses Brutteln und dem Hinterherjagen von Autos kennzeichnen etwa den Verrückten in Prakash Manus „Sokrates in meiner Stadt“. Die zweite Möglichkeit – wie in „Umweg nach Kalkutta“ – ist, die Geschichte aus der Innenschau zu erzählen, unterstützt durch erlebte Rede, einer Technik der Gedankenwiedergabe. Obwohl Kishor Babus Frau, Kinder und wohl auch Ärzte sein Verhalten anormal finden, taucht der Leser durch die Innensicht in die Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten ein und gewinnt – hervorgerufen durch die Identifikation mit der Figur, die dieser Erzählmodus mit sich bringt – den Eindruck, Kishor Babu sei mehr bei Verstand als alle um ihn herum, obwohl oder gerade weil er sein Denken und Handeln vom Korsett gesellschaftlicher Konventionen und Normen frei macht.
Wie ist die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von außen und der von innen zu erklären? Und was sind die Gründe dafür, dass sich in der jüngsten Hindi-Literatur so viele verrückte Stadtstreuner tummeln? Steht der verrückte Flaneur exemplarisch für Individuen, die mit den Veränderungen der urbanen Realität nicht mehr Schritt halten können, wie ihn Dani in „Metropole“ anlegt? Oder stellt er mit seinem abweichenden Verhalten gesellschaftliche Normen in Frage und konstituiert damit ein kritisches Regulativ in der Tradition des Shakespeare’schen wise-fool, 492wie die Bezeichnung des Verrückten in „Sokrates in meiner Stadt“ bei Manu vermuten lässt?
Um die Funktionen und das Bedeutungsspektrum des verrückten saṛak'māp auszuleuchten, empfiehlt sich als Einstieg Saraogis Kalkutta-Roman „Umweg nach Kalkutta“ bzw. „KaliKatha via Bypass“ (kali-kathā vāyā bāipās), wie der Titel im Original und in der englischen Ausgabe lautet. Kishor Babu, aus dessen Perspektive der Roman größtenteils erzählt wird,493 beginnt, durch die Straßen und Gassen seiner Kindheit und Jugend zu streunen, nachdem er im Zuge einer Bypass-Operation versehentlich einen Stoß auf den Kopf abbekommen hat. Seitdem schmerzt Kishor die Stelle am Hinterkopf, die ihn an einen früheren Zusammenstoß erinnert, als er während des Unabhängigkeitskampfes unbeabsichtigt in eine Demonstration hineingeraten war, bei der er den Knüppel eines Ordnungswächters zu spüren bekommen hatte. Gleichsam öffnet dieser wiederholte Schlag auf den Hinterkopf „die verschlosssenen Empfindungsbahnen seines Herzens“.494 Dieser Vorfall ist der Auslöser für Kishor Babus Stadtgänge durch das Viertel Bada Bazar, die ihn in die Welt der Erinnerung führen: „Jetzt, wo Kishor Babu durch die Straßen streunte, weckte er die Geister der Vergangenheit, als die Familie noch in der engen, vollgestopften Gegend um Barabazar lebte, wo es vor Rikshas, Kutschen und Müll nur so wimmelte.‍“495
Der Roman verzahnt mehrere historische Ereignisse miteinander: Einmal geht es um die Geschichte Kalkuttas, der ersten Hauptstadt Britisch Indiens, die – nicht zuletzt angetrieben vom Reform- und Aufstiegsstreben der hochkastigen, gebildeten Schicht der bhadralok – im Unabhängigkeitskampf zu einem wichtigen Zentrum des Widerstands gegen die britische Kolonialherrschaft wurde.496 Zweitens wird die Migrationsgeschichte der Marwaris erzählt, einer ursprünglich aus Rajasthan stammenden Händlergemeinschaft, die mit den Briten kollaborierte und daher (und aufgrund des Rufs extrem geizig zu sein) nicht sonderlich beliebt war. Auf einer biographischen Ebene bindet der Mehrgenerationenroman im Stile indo-englischer Familiensagas497 Kishor Babus verschrobene Persönlichkeit in ein Netz familiärer Schicksale ein: Er handelt vom Aufstieg der Familiendynastie und von den Verlustängsten und verpassten Chancen im Leben der Hauptfigur. Alle drei Ebenen sind durch die „Kartographie der Erinnerung“ ineinander verschränkt: „Kiśor vagabundiert durch die Schauplätze seines Lebens. Damit verbindet er die Gegenwart des ausgehenden Jahrtausends mit seiner eigenen und mit der seiner Familie. Die Straßen und Plätze verlieren so ihre lediglich ortsangebende Funktion und gewinnen tiefere, meist abgründige Konnotationen.‍“498
Walter Benjamin zielt im „Passagenwerk“ und in seiner Rezension zu Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ immer wieder auf die mnemonische Dimension des Flanierens ab:
The street conducts the flâneur into a vanished time. For him, every street is precipitous. It leads downward – if not to the mythical Mothers, then into a past that can be all the more spellbinding because it is not his own, not private. Nevertheless, it always remains the time of a childhood. But why that of the life he has lived? In the asphalt over which he passes, his steps awaken a surprising resonance. The gaslight that streams down on the paving stones throws an equivocal light on this double ground.499
In Anlehnung an Benjamin fassen Howard Eiland und Michael Jennings die Erfahrungen des Flaneurs in der Stadt als historisches Palimpsest auf.500 So wie Kishor Babus Biographie in der Topographie Kalkuttas eingeschrieben ist, so ist auch die Geschichte seiner Marwari-Familie und die der bengalischen Metropole sowohl körperlich (Beule am Kopf) als auch seelisch (Erinnerungen) in Kishors Existenz gegenwärtig. Das Wandern durch die Gassen und Straßen seiner Kindheit und Jugend wird zur Therapie, durch die er vergangene Ereignisse aufarbeitet.501 Nimmt man Sigmund Freud zur Anregung, der in „Das Unbehagen in der Kultur“ die strukturelle Beziehung zwischen Seelen- und Stadtlandschaft als Metapher für das Unbewusste heranzog, findet der Seelengang auf den Pfaden der urbanen Topographie statt. Freuds Analogie zwischen Stadt und Psyche, die er später wieder verwarf,502 steht in der folgenden Passage von „Kalikatha“ vor Augen: „Nichts, was einmal auf der Welt geschehen ist, geht verloren. Wie könnte es auch verlorengehen, solange es uns gibt? Meist vergraben wir es irgendwo tief in uns unter den oberen Schichten wie in zerstörten alten Städten – all die Worte, die wir gehört haben, alles Glück und Leid, das wir erlebt haben […]“503 Flanierendes Denken bedeutet in „Umweg nach Kalkutta“ vor allem flanierendes Erinnern, oder, dem Literaturwissenschaftler Michael Opitz zufolge, „Memorieren im Schlendern“:
Die Straße erweist sich als Resonanzboden, die in dieser Bedeutung mehr als nur ein Verkehrsweg ist, den man benutzt. Durch den doppelten Boden, den Benjamin ihr zuschreibt, und das zweideutige Licht, das die Gaslaternen auf den Asphalt werfen, entsteht ein diffuser Raum, in dem sich Erinnerungen an das Einst mit dem Jetzt durchmischen. Der Flaneur beschreitet einen Weg, der in die Vergangenheit führt, wobei die Gegenwart von Straße und Häusern darüber entscheidet, welche vergessenen Räume sich ihm öffnen.504
Heiner Weidmann bemerkt, dass Flanerie – in Benjamins Verständnis – „a physically practiced reading, [and] remembering in the mode of absent-mindedness“ sei.505 Das Netz aus Schriften, ergo die vom Spaziergänger abgelaufene metaphorische Stadt, tritt in Form von Erinnerungen und Geschichten über Kishors früheres Leben an die Oberfläche. Das ist für Kishor Babus Familie ein Grund zur Beunruhigung, denn sein absonderliches Vergnügen erinnert sie an einen durchgeknallten Bettler (Fakir), der viele Jahre durch die Straßen von Kalkutta gestreift war, weswegen sie nun fürchten, dass das Familienoberhaupt dasselbe Schicksal ereilen könnte: „Nun hatte man den Salat: Die Bypass-Operation war erfolgreich verlaufen, doch der Kopf hatte Schaden genommen. Da mußte doch der ‚böse Blick‘ der Leute dahinter stecken! Wie ein Verrückter stromerte er da Tag und Nacht durch die Straßen.‍“506
Im Vergleich zu Saraogis Roman sind Schilderungen der Stadttopographie in den beiden Erzählungen „Großstadt“ und „Sokrates in meiner Stadt“ weniger ausgeprägt, da der Fokus weniger auf der Aktivität des Flanierens liegt, als auf den Entwicklungen oder Begegnungen in der Stadt, die ein Individuum in den Wahnsinn stürzen. Die Charakterisierung des Verrückten (pāgal), der rein äußerlich kaum von einem Bettler zu unterscheiden ist, folgt etablierten Mustern: Wenn er etwas am Leib trägt, dann Lumpen, er läuft anscheinend ziellos in der Gegend herum, redet wirres Zeug und tut verrückte Dinge wie Autos hinterherzujagen. Der Ich-Erzähler von „Sokrates in meiner Stadt“ erzählt von der Begegnung mit einem obdachlosen Fremden, der eines Tages in seiner Stadt aufgetaucht ist und sich unter einem Baum niedergelassen hat. Trotz der Hitze ist er in eine zerlumpte Decke eingehüllt. Er brummt Flüche vor sich hin und reagiert unwirsch, wenn jemand es wagt, in seine Nähe zu kommen.507 Nach einer Weile beginnt der Irre, in der Stadt Autos nachzurennen und sie mit Drohungen zu belegen. Dass Wahnsinn tendenziell ansteckend ist, kommt in allen drei Beispielen zur Sprache. Der Ich-Erzähler von Manus Erzählung wird am Ende selbst verrückt, nachdem der wahnsinnige Sokrates bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Kishor Babu hätte vor langer Zeit fast einmal einen umherstreunenden Bettelasketen (fakīr) angefahren, der mitten auf der Straße lief. Zu Kishors großer Verdutzung wies der beinahe unter die Räder geratene Fakir ihn in perfektem Englisch zurecht: „Do you think, you own this road?“,508 eine Anspielung auf den wise-fool.
Während der verrückte Vagabund gleich zu Beginn von „KaliKatha“ eingeführt wird, bildet die Begegnung mit einem Verrückten in Danis „Metropole“ den Höhepunkt einer Ereigniskette. Zu Beginn äußert der Ich-Erzähler Sorgen darüber, dass seine geliebte Heimatstadt mehr und mehr zu einer Groß- bzw. Megastadt (mahānagar) heranwächst, eine Entwicklung, die in seinen Augen dem Verlust von Empfindsamkeit (saṃvedan'śīl'tā) und Natürlichkeit (prakr̥ti) gleichkommt. Die Angst bricht sich in Albträumen Bahn, in denen es um Bargirls und um Sex mit einer nahen Verwandten geht. Die Andeutung eines Tabubruchs und die Kafkaeske Symbolik, die sich auch darin zeigt, dass am nächsten Morgen sein ganzes Zimmer voller Spinnenweben ist, verschärfen den sich andeutenden Kontrollverlust. Er sucht Rat bei einem Beamten der Stadtverwaltung, der ihn von den Vorteilen von Urbanisierung, Entwicklung und Fortschritt zu überzeugen versucht, etwa weil mehr Arbeitsplätze entstehen und überhaupt die Lebensqualität steige. Er rät ihm dringend, sich den Veränderungen anzupassen, um nicht unterzugehen.509
Doch erfolglos: Eines Morgens treibt ihn seine Paranoia und Verzweiflung hinaus auf die Straße, wo er seinem Nachbarn Ramesh begegnet. Der ist splitternackt und hat offensichtlich schon vor einiger Zeit den Verstand verloren. Doch als dieser ihn rennen sieht, will er wissen, ob er gerade Morgensport treibe: „Als Ramesh ihn rennen sah, winkte er und rief: ‚Hallo Herr Staatsrat! Gehen Sie heute Joggen? Wow, toll!‘“.510 Die unübliche Anrede als dīvān, erst recht in diesem Kontext, weckt die Assoziation an das typologisch verwandte Wort dīvānā, „wahnsinnig, verrückt“. Der Protagonist wundert sich für einen Moment, dass Rameshs Frage eigentlich gar nicht so verrückt ist, sondern auf einer logischen Schlussfolgerung beruht: Schließlich ist es früh am Morgen und er rennt die Straße runter. Er versucht, Ramesh nachzulaufen. Als er ihn fast eingeholt hat, stolpert er, fällt hin und verliert kurz das Bewusstsein. Erst dann dreht sich Ramesh um. Bestürzt sieht er, dass Rameshs Gesicht seinem eigenen gleicht. Diese Begegnung kündigt das dystopische Ende der Erzählung an: Nachdem er sich ein ganzes Jahr in seiner Wohnung verbunkert hat und den Kontakt mit der beunruhigenden Außenwelt, also der Megastadt, gemieden hat, tritt er eines Tages auf die offene Straße. Obwohl der Morgen schon angebrochen ist, herrscht draußen tiefe Finsternis und Totenstille:
Er fragte sich, warum es noch nicht hell war, obwohl längst der Morgen angebrochen war. Als er gen Himmel blickte, sah er dichte schwarze Wolken über sich hinwegziehen. Alles war nur in dämmriges Licht getaucht. Seine Glieder verkrampften sich. / Er war gerade mal zehn-zwanzig Meter die Gasse runtergelaufen, da flitzte vor ihm plötzlich ein junger Mann splitternackt quer durch die Gasse und war sogleich verschwunden. Bei dem schummrigen Licht konnte er nicht erkennen, wer es war. Dann leuchtete ein Blitz auf, begleitet von heftigem Donnern. Der Schreck fuhr ihm in die Knochen. Vom Kopf bis ins Herz durchzuckte ihn ein Schmerz. Er musste an den früheren Rat seines Freundes denken, aber er konnte sich selbst nicht schützen.511
Indem er die moderne Fortschritts- und Wachstumsideologie in Frage stellt, für welche die Megastadt steht, entfernt sich der verrückte saṛak'māp von den Überzeugungen und Haltungen der durchschnittlichen, ‚normalen‘ Städter. Seiner Ansicht nach dürften Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum nicht einfach als notwendige Folge von Urbanisierung und Globalisierung angesehen werden, sondern als existentielle Bedrohung für die Gesellschaft und das Individuum. In „Megastadt“ fürchtet der Hauptprotagonist, multinationale Konzerne und Großbanken könnten die Kontrolle über die städtische Gesellschaft gewinnen, was unter anderem zur Folge hätte, dass die Mieten aufgrund steigender Grundstückspreise in die Höhen schnellten.512 Auch Kishor Babu kritisiert das Konsumverhalten und den verwestlichten Lebensstil seiner Kinder und Schwiegerkinder, die Wohlstand und Freiheit darüber zu definieren scheinen, dass sie sich in den Shopping Malls mit Markenklamotten eindecken können.513
Somit tritt der verrückte Flaneur als ein ambivalenter Charakter auf den Plan, in dessen Wahnsinn sich zum einen der Anpassungsdruck widerspiegelt, den der permanente Wandel in der Großstadt mit sich bringt. Zum anderen wird mit dieser Figur ein Gegengewicht zum allgemein vorherrschenden urbanen Ethos etabliert. Gerd Bayer beobachtet einen ähnlichen semantischen Einsatz der Flaneur-Figur im zeitgenössischen amerikanischen Roman:
The madness of the characters that we encounter in so many postmodern (and anti-postmodern) narratives may thus simply be a comment on a growing epistemological uneasiness when it comes to the dominant ideologies of postmodernity. To opt out of the established way of thinking, to wander off and become a flâneur along the paths of thinking and logic normally banned, marks the moment of postmodern thinking falling on itself.514
Der verrückte Tramp, der durch die Straßen bummelt oder rennt, drückt das schwindende Zugehörigkeitsgefühl zur urbanen Gesellschaft und zu deren Werten und Praktiken aus. Ob die Ähnlichkeiten in der Typologie des Flaneurs der jüngeren Zeit auf die Rezeption anglo-amerikanischer Literatur durch indische Autorinnen und Autoren zurückzuführen ist, oder ob die Bedingungen postmoderner Gesellschaften sich in West wie in Ost so ähneln, dass Literaten mithilfe einer Anti-Figur etablierte Denkmuster zu hinterfragen begannen, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Ausgehend von Danis, Manus und Saraogis Charakteren kann der verrückte Tramp als kritisches Ventil verstanden werden, mit dem das postmoderne, post-liberale Fortschrittsnarrativ der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre auf den Prüfstand gestellt wird. Der verrückte saṛak'māp verlässt durch sein nicht-konformes Verhalten – ob freiwillig oder unfreiwillig sei dahingestellt – den Rahmen, der die urbanen Norm- und Ordnungsvorstellungen der breiten Bevölkerung, vor allem der Mittelschicht, umfasst. Durch seine Distanzierung zu diesen konformen Ideen von Stadt, Gesellschaft und Nation wird der verrückte Flaneur bzw. Tramp zu einem kritischen Regulativ, das den modernen Lebensstil vor der Folie früherer Ideale von Freiheit und Demokratie, wie sie im Unabhängigkeitskampf gefordert wurden, einer kritischen Revision unterzieht.
2.5 Zwischenfazit
Der kritisch-distanzierte Blick des verrückten saṛak'māps kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die literarischen Figuren (wie auch ihre Schöpfer) in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren, bildhaft gesprochen, mit der Stadt zusammengewachsen sind. Betrachtet man den größeren Zeitraum von 1970 bis 2010, so erzählen literarische Topographien von der sprachlichen, individuellen und sozio-kulturellen Aneignung des Stadtraums durchs Schreiben. Durch drei narrative Techniken wird diese Aneignung vollzogen: Erstens durch Personifikationen als Mittel von Bildlichkeit, zweitens mithilfe der Beschreibung von Schauplätzen und drittens durch die Erzählperspektive und -figur als Mittel der Bewusstseinsdarstellung. Von dieser Annäherung des Individuums (und Autors) an die Stadt zeugt zum Beispiel die Rede vom „Stadtcharakter“, die seit den 1990er Jahren vor allem in Memoiren, Glossen und Gedichten immer weiter Verbreitung findet, wie Harish Nawals Delhi-Satiren illustrieren. Während Sudha Jains verweiblichte „Rosenstadt“ von 1985 noch als abstrakte Allegorie dient, um eine künstliche Scheinwelt zu imaginieren, suchen spätere Körperdarstellungen eine engere Beziehung zwischen lyrischem Ich bzw. Erzähler und der Stadt. Das zeigt etwa der Delhi-Zyklus von Sunita Jain, in dem sie die Hauptstadt als leidensfähigen Menschen darstellt. Damit geht die Abkehr von der Dämonisierung der Stadt einher, die vermehrt in den 1970er und 80er Jahren der Entfremdung des Einzelnen im unbarmherzigen ‚Moloch‘ Rechnung trägt.
Auch Beschreibungen von zentralen Orten geben Aufschluss über die Beziehung des Einzelnen zur Stadt. Wahrzeichen (landmarks) wie das Gateway of India oder Marine Drive in Mumbai (Bombay) prägen nicht nur das Stadtbild, sondern sie sind für die Hauptfiguren Orientierungsanker. Insbesondere gilt das für den Zugezogenen, der sich nach etwas Bekanntem in der Fremde sehnt und deshalb gerade solche ikonischen Orte aufsucht. Es sind zugleich Orte, an denen das Subjekt populäre Vorstellungen von Mumbai (Bombay) als Stadt der Träume und unbegrenzten Möglichkeiten mit eigenen Erfahrungen abgleicht. An zentralen Orten verdichten sich aus Sicht von „alteingesessenen“ Städtern alltagsweltliche Erfahrungen und ein lokales Verständnis globaler Prozesse. Kashinath Singh wählt in „Mohalla Assi“ eine Teebude als Herzkammer eines Viertels, wo die (männlichen) Stammgäste nicht nur über die jüngsten Vorfälle in der Nachbarschaft reden, sondern Meinungen über Regionalpolitik und die globalen Auswirkungen des Tourismus austauschen. Mit lokalen Topoi und einer satirischen Erzählweise, die einen reizvollen Kontrast zwischen elitärer und ordinärer Stadtkultur entstehen lässt, bricht der Autor stereotype Redeweisen über Varanasi, v.a. die der heiligen Stadt der Hindus, auf und erzählt vom Leben abseits des berühmten Assi Ghat (Kapitel 4.2).
Die Erzählperspektive ist ein dritter Weg der narrativen Aneignung von Stadtraum. Sie strukturiert Wahrnehmung und Erfahrung und gibt Aufschluss über sozialräumliche Ordnungen, Werthierarchien und Kontaktzonen. Sie wird z.B. über sensorische Wahrnehmungen gesteuert, die den Schauplatz oder die Atmosphäre einer Erzählung für den Leser erlebbar machen. Gerüche und Geräusche beschreiben neben sozialen Räumen auch das konfliktreiche Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher sozialer Stellung und Herkunft in der Metropole, wie in Asthanas „Der Geruch von jener Nacht“. In der Geschichte bricht der Protagonist durch den Kontakt zu einer Prostituierten mit traditionellen Reinheitsvorschriften und ist gleichzeitig angewidert von der bloßen Berührung ihrer Hände. Die permanente Übertretung sozialer, kasten- und geschlechtsspezifischer Grenzen im öffentlichen Raum, und ganz besonders an belebten Orten wie dem Bahnhof oder dem Zug, wird in vielen Texten als ein zwiespältiges Erlebnis geschildert. Aus Sicht des Migranten erscheint die Menschenmasse oft überwältigend und bedrohlich. Prakash Manus Delhi-Geschichten machen aber auch deutlich, wie sehr sich der Einzelne Anfang der 2000er Jahre an Orten des Transits zu Hause fühlen kann, und Tempo und Gedränge als Normalität wahrgenommen werden: Züge und Bahnhöfe sind wichtige soziale Kontaktzonen. Wie auch bei personifizierten Stadtdarstellungen der 1990er und 2000er Jahre zeugen Manus fiktionale Reportagen davon, dass sich das Individuum stärker mit dem urbanen Lebensstil identifiziert als in den Vorgängerjahrzehnten. Ein umgekehrter Prozess lässt sich bei der Entwicklung der Flaneur-Perspektive im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachvollziehen: In der Nayī Kahānī der 1950er und 60er Jahre entdeckt der Flaneur, wie bei Rakesh, die Großstadt für sich und fühlt sich zur Menge, zum Warenangebot und zu den Verheißungen der Metropole hingezogen. In den Folgejahren reflektiert der Stadtwanderer sein Alleinsein und im Laufe der 1990er und 2000er Jahre beschreitet der „verrückte Flaneur“ eigen(willig)e Wege. Aus der Distanz eines kritischen Beobachters stellt er das Fortschrittsdenken der Städter in Frage. Der vermeintliche Außenseiter ist dennoch fest in der Stadt verankert, denn mit seinen Reflexionen und Erinnerungen schreibt er sich in das ein, was Michel de Certau die „metaphorische Stadt“ genannt hat. Das bedeutet, dass sich auf einer inhaltlichen Ebene die Figuren mit ihren Beobachtungen und Deutungen in die Textstadt „einschreiben“. Auf einer ästhetischen Ebene eignen sich die Autorinnen und Autoren selbst die Stadt an, indem sie zum Beispiel die Geschichte der Stadt als Geschichte ihrer Figur erzählen. Alka Saraogi etwa nutzt das flanierende Denken, um die Geschichte der Stadt und die des Individuums, Kishor Babu, in einen Strang zusammenzuführen.
Betrachtet man literarische Stadttexte im Kontext anderer geistesgeschichtlicher Diskurse, lässt sich die Relevanz der Hindi-Stadtliteratur über ihre semiotische Funktion als Darstellungsmedium bewerten, in dem der Stadtraum erschlossen und begreiflich gemacht wird. Mit der Erzählperspektive des verrückten Flaneurs oder Tramps hat sich bereits angedeutet, dass Hindi-Stadtliteratur auch eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion zukommt: Sie bietet einen kritischen Diskursraum für gesellschaftliche und nationale Selbstbefragungsprozesse.
Während im ersten und zweiten Kapitel die narrative Text- und Stadt(raum)produktion im Mittelpunkt der Betrachtung standen, werden in den Kapiteln drei und vier Raum- und Ordnungsvorstellungen in ihrer zeitlichen Dimension und historischen Entwicklung untersucht werden.
2. Dämon, Gasse, Flaneur. Literarische Erkundungen des Stadtraums
2.1 Literarische Topographien
2.2 Stadtkörper
2.3 Schauplätze
2.4 Figuren- und Erzählperspektiven
2.5 Zwischenfazit