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Mythos und Moloch. Die Metropole in der modernen Hindi-Literatur (ca. 1970-2010)
20 Nov 2020
3. Urbane Utopien zwischen nationalem Einheitsideal und postkolonialer Kritik (1970-2000)
3.1 Gescheiterte Moderne? Hindi-Stadtliteratur als kritischer Diskursraum
Der Enthusiasmus der jungen indischen Republik war nach Nehrus Tod 1964 einer ersten großen Ernüchterung gewichen, die Mitte der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreichte: Der blutige Unabhängigkeitskrieg in Ost-Pakistan, der 1971 zur Gründung Bangladeschs führte, die 1967 aufkommende maoistische Naxaliten-Bewegung und die Ausrufung des nationalen Notstands durch Indira Gandhi am 25. Juni 1975 erschütterten die noch junge Demokratie in ihren Grundfesten und führten zu einem Verlust von Stabilität. Diese politischen Krisen wurden von einer zunehmenden ökonomischen Unsicherheit begleitet. Ausgelöst durch Ernteausfälle und Engpässe bei der Nahrungsmittelverteilung machte sie sich bald auch in einer steigenden Inflationsrate bemerkbar. Nicht zuletzt verschärfte die weltweite Energiekrise von 1973 die Lage, denn Indien war von Erdölimporten abhängig, die in Dollar abgerechnet wurden. Die wirtschaftliche Krise wirkte sich auch auf den Arbeitsmarkt aus: Tausende junge Männer, die in Erwartung guter Berufschancen in der Industrie eine Ingenieursausbildung ergriffen hatten, konnten keine ihrer Qualifikation angemessene Beschäftigung finden.515
Die Krisen in Politik und Wirtschaft trafen auf eine Literaturszene, die sich aus eigenen, künstlerischen Gründen im Umbruch befand. Neben den globalen Trends zu einer experimentellen Literatur im Zeichen der Beatbewegung, der Hippies und 68er, die konventionelle Erzählweisen genauso ablehnten wie die Autorität der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen, ergab sich der Impuls zu einer Erneuerung der indischen Literatur vor allem aus einer Hinwendung zu politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen. Die selbstgewählte Politisierung vieler Autorinnen und Autoren in den 1970er Jahren, die unter dem (in der Hindi-Literaturwissenschaft etablierten) Label der „Post-60er“-Generation firmieren, markierte einen wichtigen Übergang von der Individualpsychologie der Nayī Kahānī, zur Gesellschaftspsychologie eines sozialkritischen Realismus, dem etwa die Vertreter der Janvādī Kahānī, „Demokratischen Erzählung“,516 folgten. Während Nayī Kahānī-Autoren wie Nirmal Verma und Mohan Rakesh mit Erzähltechniken der (westlichen) Moderne experimentiert und individuelle Wahrnehmungsperspektiven gewählt hatten,517 suchten die Janvādīs mit ihrer Gesellschaftskritik nun wieder nach Möglichkeiten, kollektive Perspektiven auszudrücken. Sie stellten sich damit einerseits in die einheimische Tradition des sozialen Realismus, wie er von Premchand und dem Progressive Writers’ Movement in einer früheren, kolonialen Phase der künstlerisch-ästhetischen Moderne zwischen 1920 und 1940518 propagiert worden war. Andererseits zeigten sie sich als begeisterte Adepten des globalen Revolutionsgroßvaters Herbert Marcuse (1898-1979). Und mit der „Kritischen Theorie“ nahmen auch die indischen „68er“ eine eher distanzierte Haltung zur traditionellen marxistischen Theorie ein, während sie mit ähnlicher Inbrunst wie in Paris, Mailand oder Berkley den theoretischen Eros der Studentenrevolte zelebrierten. Für sie sollte Theorie, so Volker Knirsch „nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit beschreiben, sondern auch als utopische Praxis einen Beitrag zur Veränderung der Wirklichkeit leisten.‍“519
Unter dem Einfluss der Neuen Linken (nav nām) begannen Schriftsteller wie Kashinath Singh (geb. 1936), für den die Begegnung mit dem russischen Realismus nach eigener Aussage ein Erweckungserlebnis gewesen war,520 politisch auf dem Land zu arbeiten. Dort schrieben sie Kurzgeschichten über – aus klassisch marxistischer Sicht – randständige Gruppen wie die indischen Ureinwohner (ādivāsīs), Landarbeiter und Klein-Bauern, die „als Klassenliteratur den proletarischen Emanzipationsprozess fördern soll[t]en“.521 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die Stadt in vielen Geschichten dieser Autoren die Ignoranz der herrschenden Klasse verkörpert.522 Ein Beispiel ist die Kurzgeschichte „Eigene Welt“ (ap'nī duniyā, o.J.) von Dhirendra Asthana, der über ein ehemaliges Flüchtlingslager (Ramnagar Colony) in der Nähe von Delhi schreibt. Resignation, Abstumpfung und fehlende Zukunftsperspektiven prägen den Ton der Unterhaltung einer Gruppe von Bewohnern der Siedlung, die in der nahen Textilfabrik arbeiten oder arbeitslos sind. Ein Schriftsteller namens Vikram gesellt sich dazu und versucht die Hoffnungslosen mit dem Aufruf zur Revolution (krānti) aufzurütteln. Er wirft den städtischen Intellektuellen und der Mittelklasse vor, scheinheilig und „mental in Rente“ gegangen zu sein523 und ruft dazu auf, gegen das mechanische Leben in den Großstädten (mahānag'roṃ kī yāntrik jind'gī)524 aufzubegehren.525
Die ablehnende Haltung gegenüber dem urbanen „Maschinenleben“ und die im Titel der Kurzgeschichte von Asthana gestellte Frage nach dem Eigenen (ap'nī duniyā) führen in einen Ideenraum, in dem urbane Erfahrungen der postkolonialen Moderne in Auseinandersetzung mit den überkommenen Gesellschaftsutopien der Unabhängigkeitsbewegung literarisch bearbeitet wurden. Postkoloniale Moderne bedeutet hier zweierlei. Einmal bezieht sie sich auf eine Phase des künstlerischen Aufbruchs der 1950er und 60er Jahre, die mit der gewonnenen politischen Freiheit auch einen „Hunger“ indischer Künstler und Literaten auf neue ästhetische Formen bereithielt: Die Nayī Kahānī-Autoren suchten nach einer modernen Formensprache, die individuelles Erleben abzubilden vermochte. Die Bombay Bohemians um den Dichter Arun Kolatkar entwickelten in den 1960er Jahren zum Beispiel einen eigenen, den amerikanischen Beat-Poeten nahestehenden Jargon, der Maler Gulammohammed Sheikh nannte sich und seine Freunde „hungry souls“526 und in Bengalen formierte sich zur selben Zeit die avantgardistische Hungry Generation, die mit obszöner Sprache experimentierte.527 Zum anderen bezeichnet „postkoloniale Moderne“ die Zeit nach der historischen Zäsur der Unabhängigkeit 1947. Neben den offiziellen Großprojekten dieser Modernisierung, die – wie die Planstadt Chandigarh oder das Stahlwerk von Rourkela – auf Reißbrettern entstanden oder von Bürokraten in den Fünf-Jahres-Plänen (1950-55) von Premierminister Nehru vermerkt wurden, gab es also eine zweite, ästhetische Moderne nach der Unabhängigkeit. Doch sie war von Anfang an weniger planbar als der offiziöse Diskurs der politischen Eliten.
In den Hindi-Werken der Dekaden nach 1960 begann der Kontrast zwischen den politischen Modernisierungsprojekten von oben und äthetischen Projekten von unten daher auch, ein Eigenleben zu führen. Die Autorinnen und Autoren des sozialkritischen Realismus der 1970er, 80er und 90er Jahre schufen einen kritischen Diskursraum, indem sie die postkoloniale Modernisierung der Fünfjahrespläne mit Sprachbildern wie der Maschinenstadt oder dem Großstadtdschungel in Frage stellten.528 Dass dieser kritische Diskursraum Anknüpfungspunkte in die Zeit vor 1947 suchte, legen Bezüge zu Gesellschaftsvisionen und Modernisierungsmodellen nahe, wie sie die drei wichtigsten Gründerväter der indischen Nation, Mohandas K. Gandhi (1869-1948), Jawaharlal Nehru (1889-1964) und Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956), in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entworfen hatten. Die eine Seite markierte Gandhis Anti-Stadt-Propaganda, die von einer tief sitzenden Furcht vor der korrumpierenden und spaltenden Wirkung der Industrialisierung und Mechanisierung geprägt war, weshalb das Dorf auch eine so zentrale Rolle in Gandhis Vision von einem unabhängigen Indien spielte. Auf der anderen Seite verorteten Nehru und Ambedkar die Zukunft eines modernen Staates in den Städten, wo Industrialisierung (Nehru) und Bildung (Ambedkar) den sozialen und ökonomischen Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten ermöglichen sollten.
Diese drei Modernisierungsentwürfe, allen voran Gandhis Anti-Stadt-Propaganda, die im Kern nach einer Alternative zum industrialisierten (westlichen) Kapitalismus suchte, verloren nach der Unabhängigkeit nichts von ihrer Strahlkraft. Im Gegenteil, eine junge Generation von Schriftstellern, die um das Jahr 1947 geboren worden war, fragte nach, was aus den Modernisierungsversprechen der Vorväter geworden war. Die enttäuschten Erwartungen an die postkoloniale Moderne, die aus der wirtschaftlichen und politischen Krise resultierten, verlangten nach einer kritischen Revision der Gründerideale, insbesondere im Hinblick darauf, wie die Gegenwart gestaltet werden sollte.
Mit der Frage nach dem „Eigenen“, in Abgrenzung zum Fremden oder Anderen, schlugen die Autorinnen und Autoren des sozialkritischen Realismus eine Brücke zwischen den Gesellschaftsentwürfen aus den Jahren vor und nach der Unabhängigkeit und zu den Deutungsmustern des postkolonialen Diskurses der 1980er Jahre. Selbst wenn die meisten Werke der Hindi-Stadtliteratur keine gesellschaftsprägende Wirkung entfalten mochten, so gewährleisteten sie doch eine gewisse Kontinuität in Debatten um die Zukunft und Identität der indischen Gesellschaft und Nation. Versteht man die Hindi-Stadtliteratur als kritischen Diskursraum, in dem Erfahrungen mit Urbanität, Gesellschaft und Individualisierung reflektiert werden, ergeben sich zwei Deutungsebenen: Erstens lässt sich Hindi-Stadtliteratur als Geschichte der Individualisierung im postkolonialen Indien lesen, die durch die Loslösung des Einzelnen aus dem engen Familienverband und der dörflichen oder kleinstädtischen Sozialordnung mit enormen gesellschaftlichen und psychologischen Umwälzungen einhergeht. In der Hindi-Literatur äußern sich diese Migrationserfahrungen in einer Reihe sozialkritischer Erzählungen mit konservativem Tenor, die aus der Perspektive des Fremden vom individuellen Scheitern und von geplatzten Träumen in der atomisierten Stadtgesellschaft erzählen. Zweitens verdeutlicht eine geistesgeschichtliche Lesart von Hindi-Stadtliteratur, dass Autorinnen und Autoren ältere Visionen und Utopien von der indischen Gesellschaft und Nation wiederaufnehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen, etwa an Nehrus nationalem Leitbild von unity in diversity. Rajendra Awasthi imaginiert in den 1970er Jahren als Heilmittel für „Die kranke Stadt“ eine Art Hippie-Kommune, in der durch freie Liebe und Freundschaft ein harmonisches Gleichgewicht von individueller Selbstverwirklichung und gemeinschaftlichem Zusammenhalt herrscht. Zwei Jahrzehnte später, Anfang der 1990er Jahre, zeichnet Jitendra Bhatiya ein dystopisches Horrorszenario von Mumbai (Bombay) in „Bis zur nächsten Finsternis“. Dort flüchtet eine Gruppe vor der allgegenwärtigen technischen Überwachung und dem globalen Krieg in den Untergrund, wo sie die Erinnerung an die alte „heile Welt“ bewahrt und gemeinschaftliche Werte pflegt. Die Suche nach dem Eigenen angesichts fremder Einflüsse ist ein wiederkehrender Topos in der Hindi-Stadtliteratur und spiegelt die tiefsitzende Angst vor individueller Entfremdung und kultureller Überfremdung wider.
3.2 Im Dschungel der Großstadt: Zivilisationskritische Erzählungen
Auffallend bei einer großen Zahl „konventioneller“ Erzählungen, insbesondere bei Kurzgeschichten aus den 1970er bis 90er Jahren, ist ihr ausgeprägt stadt- bzw. zivilisationskritisches Ethos. In den meisten Werken, vor allem Kurzgeschichten dieser Zeit, bleibt der Fremde, der seinen Platz in der anonymen Stadtgesellschaft oft vergeblich sucht, die wohl verbreitetste Figur, in der individuelle Migrationserlebnisse mit gesellschaftskritischen Fragen verwoben werden. Besonders in Erzählungen der 1970er und 80er Jahren sind Einsamkeit und Entfremdung die vordergründigen Gefühle urbaner Erfahrung.529 Bereits die Nayī Kahānī-Autoren der 1950er Jahre hatten das Gefühl des Alleinseins psychologisch ausgeleuchtet, jedoch stilisierten sie dieses, wie in Mohan Rakeshs „Die kaputten Schuhe“ (Kapitel 2.4.2), als Ausdruck einer neu gewonnenen Selbstständigkeit. In den Jahrzehnten danach zeigte sich die hässliche Fratze der Einsamkeit in Form von gesellschaftlicher Verrohung, dem Gefühl des Abgehängtseins,530 Armut,531 der (gefühlten) Zunahme allgemeiner Gefahren und Stress,532 unsittlichem Verhalten533, Gewalt534 und Kontrollverlust.535 In Bhimsen Tyagis Kurzgeschichte „Großstadt“ schlägt sich das zivilisationskritische Ethos bereits im programmatisch gewählten Titel nieder.536 Sie dokumentiert die Wandlung eines Mannes vom braven Büroangestellten zum verdorbenen Großstädter. Anfangs noch um korrektes Arbeiten und Auftreten bemüht, achtet er bald weder auf sein Äußeres, noch auf Pünktlichkeit. Was ihn noch zu Beginn seiner Zeit in der Großstadt schockiert hat, etwa wenn ein Mann im Gedränge des Busses eine Frau belästigt hat, wird für ihn zur Normalität. Nach einer Weile gewöhnt er sich selbst das Rauchen und den Umgang mit Prostituierten an. In seinem Heimatdorf, dem er ab und an einen Besuch abstattet, fühlt er sich längst nicht mehr heimisch.
Der Blick auf die Stadt und das Städtische fällt in dieser und vielen anderen Erzählungen des sozialkritischen Realismus, die oftmals aus der Perspektive des Migranten erzählt werden, pessimistisch aus. Die Geschichten handeln vom Scheitern des Einzelnen an den kaum zu bewältigenden Herausforderungen oder den schlechten Ausgangsbedingungen in der Großstadt, in die sie anfangs (als Zugezogene, meist auf Arbeitssuche) nicht selten große Hoffnungen gesetzt haben.
Das gilt insbesondere für Prosawerke, die in Mumbai (Bombay) angesiedelt sind. Ihr Ruf als Stadt der Träume, in der jeder es schaffen kann, wird häufig in Frage gestellt, wenn nicht gar kompromisslos zerlegt. Ein Beispiel ist Jitendra Bhatiyas Kurzroman „Deadline“ (samay-sīmānt)537 aus dem Jahr 1977, der hier aufgrund seiner exemplarischen Bedeutung etwas ausführlicher wiedergegeben wird. Er erzählt vom Scheitern des College-Absolventen Subhash Khanna, der nach Bombay geht, um seinen Traum vom Künstlerdasein zu verwirklichen. Seit den zehn Jahren, die er in Bombay lebt, hält er sich mehr schlecht als recht mit dem Malen von Filmplakaten über Wasser. Die Handlung setzt ein, als er eine Postkarte erhält, mit der sein Onkel ihn über den Tod der Mutter informiert. Die erzählte Zeit beschränkt sich zu einem Großteil auf diesen einen Tag und auf zahlreiche Rückblenden, in denen er über sein Leben in Bombay nachdenkt, von dem weder die Mutter noch der Onkel viel gewusst haben. Weil er sein Nachtlager im Lokal Annapurna Lunch Home nicht vor halb zwölf abends aufsuchen darf, muss er sich bis dahin die Zeit vertreiben und läuft ziellos umher.538 Subhash denkt über das merkwürdige Paradox des Großstadtlebens nach, über sein kleines stilles Leben in dieser großen, menschenüberfüllten Stadt.539 Er sinnt darüber nach, wie wenig Ahnung seine Mutter und der Onkel vom harten Leben in der Stadt haben, in der der Einzelne in der Menge wie ein Roboter funktionieren muss, um zu überleben, und man sich im Alltag nach verlässlichen Beziehungen sehnt.
In einer Rückblende in die Schulzeit erfährt der Leser, dass die Mutter nach dem Tod des gewalttätigen und alkoholkranken Vaters alles daran gesetzt hat, dem Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen und ihn in seinem Interesse an der Kunst zu unterstützen.540 Nach dem College nimmt er in der Nachbarstadt das Studium in der Art School auf. Diese Zeit ist Subhash in bester Erinnerung, da sie ihm viel Freiheit und Entfaltungsspielraum bot. Gleichzeitig setzt mit dem sozialen Aufstieg eine schleichende Entfremdung von den Menschen im Heimatort ein. Als sich das Studium dem Ende zuneigt, wird die Frage nach dem Brotverdienst immer drängender. Subhash will keinesfalls die Lehrerlaufbahn einschlagen, sondern sein Glück als freiberuflicher Künstler versuchen. Anfangs klappt das noch ganz gut, als er in der Stadt in einem Kunstgewerbe-Geschäft (Emporium) Miniaturmalereien an Touristen verkauft. Mit seiner eigenen Kunst hat er jedoch keinen Erfolg. Als er entscheidet, sein Glück in Bombay zu versuchen, beneiden ihn seine Kommilitonen darum, denn die Metropole bedeutet für sie die Eintrittskarte zum Glück. Subhash ist überzeugt, dass dort allein das Talent zähle, um es zu etwas zu bringen: „Bombay, das ist die Stadt der Künstler, wo Kreativität noch hochgehalten wird und ein Kunstschaffender allemal über die Runden kommt.‍“541 Im Rückblick erkennt Subhash, dass von den großen Hoffnungen und Investitionen nichts geblieben ist. Auf der Busfahrt zum Bahnhof, von wo aus er in die Heimatstadt in Rajasthan aufbricht, betrachtet er die vorbeiziehenden Gebäude, Arbeitersiedlungen, das Meer, doch es gibt nichts, was seinen Anteil an dieser Stadt vermuten ließe:
Diese kalte Stadt da hat mich nie zu ihrem Verbündeten gemacht; im Gegenteil, mich hat immer mehr das Gefühl beschlichen, dass sie mir mit den Jahren eher alles geraubt hat. Dieses Gefühl hat eine bleierne Müdigkeit hervorgebracht, eine erstickende und unheilvolle Müdigkeit, die auch die kalte Luft in den klimatisierten Büros der Werbeagenturen nicht zu vertreiben vermochte.542
Während des nächtlichen Zwischenhalts in Savai Madhopur in Rajasthan erkennt ihn ein ehemaliger Mitstudent wieder, der mit Frau und Kind nach Jaipur reist. Der klagt über sein unfreies, da verantwortungsbeladenes Leben, und will gespannt wissen, was Subhash treibt und wo er lebt. Als er erfährt, dass Subhash in Bombay lebt, ist sein ehemaliger College-Kollege mächtig beeindruckt: „Für ihn war schon der Name Bombay pure Magie.‍“543 Die Assoziationen des Freundes rekurrieren sich aus den bekannten Klischees: Film-Shootings auf den Straßen, Filmstars und Glamour. Als der Bekannte ihn nach seiner Tätigkeit fragt, sagt er nur, dass er als freischaffender Künstler arbeite; es gebe immer irgendeinen kleinen Auftrag. Über die Schwierigkeiten verliert er kein Wort: „Ich dachte die ganze Zeit nur, oh ja, im Vergleich zu deinem langweiligen Leben ist es so dermaßen aufregend, sich für jedes Stück Brot abstrampeln zu müssen.‍“544 Bald darauf erreichen sie den Bahnhof von Jaipur. Als er schließlich vor seinem verwaisten Elternhaus steht, erfährt er, dass seine Mutter als Putzkraft arbeiten und unter erbärmlichen Zuständen leben musste, was ihm die Illusion seines Bombay-Traums umso schmerzlicher vor Augen führt. Bhatiyas Erzählung illustriert, wie trügerisch (māyāvī) Bombays Versprechen von der Erfüllung individueller Träume ist. Subhashs Schicksal demonstriert, wie krachend der Einzelne in der vermeintlichen Traumstadt scheitern kann.
Wenn in den hier vorgestellten Beispielen Frauen ihr Glück in der Metropole wagen, läuft es nicht selten darauf hinaus, dass sie von Männern (sexuell) ausgenutzt werden oder gar in der Prostitution enden.545 Dieser Extremfall tritt in der Kurzgeschichte „Selbst wenn du Lata Mangeshkar wärst“546 (1996) von Vibha Rani (geb. 1959) nicht ein, wenn auch der sexualisierte, ausbeutende Umgang mit Frauen in der Filmindustrie offengelegt wird. Eine junge Bankangestellte namens Lajvanti träumt davon, Sängerin zu werden, und macht sich deshalb aus ihrer Heimat Bihar auf den weiten Weg nach Bombay. Sie eifert der bescheidenen und in ihrem Auftreten wenig glamourösen Sängerin Lata Mangeshkar nach, die es trotzdem zur berühmtesten Bollywood-Sängerin gebracht hat. Allerdings stoßen der schlichte Baumwollsari und die reservierte Art von Lajvanti bei den Produzenten nicht auf Gegenliebe, die weniger an ihrem musikalischen Talent als an nackter Haut interessiert sind. Schnell wird klar, dass für sie als wichtigstes Kriterium für eine Bewerberin nicht deren Gesangstalent im Vordergrund steht, sondern vielmehr ihre Bereitschaft, sich „entgegenkommend“ zu zeigen:
„Sir, wie schätzen sie meine Chancen ein?
„Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Ein Hit ist für mich mit links gemacht. Produzier einen Song mit mir, und du wirst über Nacht zum Star. Aber dafür wirst du dich hier schon anpassen müssen.‍“
„Wie meinen Sie?“
„Ich meine, komm, lass es es uns irgendwo gemütlich machen und in aller Ruhe drüber reden...‍“547
Lajvanti bleibt ihren Idealen treu. Ihr geht es ums Singen und sonst nichts. Indem sie an ihren moralischen Standards festhält, sich aber gleichzeitig einen urbanen Lebensstil aneignet, reift sie von einer naiven Landpomeranze zur selbstbewussten jungen Frau heran, die sich den Herausforderungen der Großstadt stellt. Der Wandel zeichnet sich in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild (uplifting) ab: Lajvanti kleidet sich modisch und trägt die Haare offen, jedoch nicht irgendwelchen Musikproduzenten, sondern sich selbst zuliebe. Die Geschichte trägt ein emanzipatorisches Moment in sich. Obwohl die Heldin den unmoralischen Angeboten der Produzenten trotzt, entwickelt sie sich doch zu einer eigenständigen, mutigen Frau.
Metropolen wie Mumbai (Bombay) sind bevorzugte Schauplätze, um emanzipierte Frauenfiguren vorzustellen, die durchaus bewusst ihre eigene Sexualität jenseits traditioneller Paarbeziehungen ausleben, wie in Mridula Gargs Kalkutta-Erzählung „Hindernis“ (rukāvaṭ) aus dem Jahr 1977, in dem die Protagonistin sich mit ihrem Liebhaber in einem Hotel trifft und ihn über seine früheren Beziehungen ausfragt, was sie am Ende an der Beständigkeit dieses Seitensprungs zweifeln lässt.548 Als Garg 1979 in ihrem Roman „Die gefleckte Kobra“ (cittakobrā) über die sexuellen Sehnsüchte einer verheirateten Frau schrieb, die ihren Ehemann als bloßes Objekt zur eigenen Lustbefriedigung betrachtet, löste allein schon die Schilderung selbstbestimmter Weiblichkeit einen Skandal aus.549
Feministische Perspektiven in der Hindi-Stadtliteratur, wie die von Garg, stellen für die hier untersuchten Werke der 1970er, 80er und 90er Jahre eher eine Ausnahme dar. Es gibt zwar vereinzelt Beispiele für romantische Begegnungen in der Großstadt wie in Suraj Prakashs „Währte dieser Zauber doch nur ewig“ (yah jādū nahīṃ ṭūṭ'nā cāhie),550 in der ein zufälliges Telefonat einen unschuldigen Flirt zwischen dem Protagonisten und einer ihm unbekannten Frau zur Folge hat. Doch solche romantischen Geschichten scheinen eher in populären Genres wie der Laghupremkathā, einer Form kurzer Liebesromanzen, verbreitet zu sein, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten herausgebildet haben.
Im Rahmen dieser Arbeit lassen sich deshalb nur vorsichtige Aussagen treffen. Wenn (oftmals männliche) Autoren den Umgang der Geschlechter und Sexualität thematisieren, dann meist, um die Fragilität von Liebesbeziehungen und Liebesheiraten aufzuzeigen.551 Exemplarisch sei hier die 1988 publizierte Kurzgeschichte „Ein Wald aus Ziegelstein“ (īṃṭoṃ kā jaṃgal) von Tejendra Sharma (geb. 1952) genannt, in der ein junges Paar nach seiner Liebesheirat der geistigen Enge der Kleinstadt und den damit verbundenen Konventionen entfliehen will und seine ganze Hoffnung auf Bombay setzt: „In Großstädten wie Bombay erhalten schon Träume alleine den Menschen am Leben.‍“552 Obwohl beide aus guten Verhältnissen kommen und er außerdem ein Jobangebot bei einer Fluggesellschaft bekommen hat, gestaltet sich die Suche nach einer eigenen Wohnung als extrem schwierig. Bald wird klar, dass der Wohnungsmarkt von Halsabschneidern und Spekulanten beherrscht wird. Die beiden beschließen trotzdem, sich ein Haus bauen zu lassen. Jedoch erleben sie viele Rückschläge; anstatt das Haus fertig zu bauen, wirtschaftet sich der Bauherr mit dem Geld der Auftraggeber in die eigene Tasche.553 Die Geschichte endet damit, dass die Firma das Haus nach drei Jahren, in denen die Grundstückspreise heftig gestiegen sind, gewinnbringend weiterverkauft. Der Titel der Geschichte bezieht sich auf den Großstadtdschungel mit seinen Hochhäusern, wohl aber auch auf die wild wuchernde Korruption in Bombays Baugewerbe in den späten 1980er und 90er Jahren.
Der Stadtdschungel ist ein weit verbreiteter Topos, der auch außerhalb der literarischen Repräsentationsebene, etwa in populärwissenschaftlichen oder journalistischen Texten, herangezogen wird, um das Undurchdringliche, Wuchernde und Komplexe der sozialräumlichen Ordnung Megastadt in eine Metapher zu kleiden.554 Mitunter wird der Stadtdschungel mit der „Chaosmoderne“ in Beziehung gesetzt.555 Die Autorinnen und Autoren bedienen sich dabei eines literarischen Topos, der dem deutschen Leser aus der expressionistischen Literatur der 1910er und 20er Jahre vertraut ist. Bertold Brechts Drama „Im Dickicht der Städte“ (1923) etwa spielt in Chicago und handelt vom unerbittlichen Kampf zweier Männer. Das Dickicht nimmt in dem Stück eine wortwörtliche und eine metaphorische Bedeutung ein. Unter anderem steht es für die Verstrickung der Familien in der Chicagoer Unterwelt. Neben universalen Entfremdungserfahrungen dürfte auch Brechts große Beliebtheit unter linken Kulturschaffenden und Intellektuellen erklären, warum vor allem die Schriftsteller der 1970er und 80er Jahre diese Metapher aufgriffen.
Das Motiv des Großstadtdschungels ist in Hindi-Texten mit einer ganz ähnlichen Bedeutung aufgeladen wie die Personifikation der Stadt als Dämon (Kapitel 2.2.3). Wie auch die Verkörperung der Stadt als menschenfressendes Ungeheuer liegt der Vorstellung von der städtischen Wildnis das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Angst vor dem Unkontrollierbaren zugrunde, die sich angesichts von Kriminalität, Gewalt oder dem alltäglichen Überlebenskampf aufdrängt.556 Der Dschungel557 kann in einer metaphorischen Dimension, ganz ähnlich wie im deutschen Expressionismus, auch die undurchdringliche Gesteinsmasse bezeichnen, „die den Menschen erdrückt“.558 Schon im Raj Kapoor-Klassiker Shree 420 (1955) warnt ein Bettler den gerade in Bombay eingetroffenen Raj vor der unbarmherzigen patthar kā śahar, der Stadt aus Stein. Kälte, fehlende Moral und unüberbrückbare Schranken sind auch die Merkmale der literarischen Stadt aus Stein. Der 1971 veröffentlichte Roman „Die Stadt aus Stein“ (patth'roṃ kā śahar) von Suresh Singh (geb. 1940) nimmt das Motiv auf und beschreibt die aushöhlende Wirkung modernistischer sozio-kultureller Entwicklungen auf das Leben einer Familie in Delhi.559 In Tejendra Sharmas Erzählung „Wald aus Ziegelstein“ (īṃṭoṃ kā jaṃgal) heißt es: „Die ganze Stadt ist von riesigen Hochhäusern eingekesselt – von einem Wald aus Ziegelstein.‍“560
Die Angst vor dem drohenden Kontrollverlust äußert sich ganz drastisch in der Kurzgeschichte „Die wild gewordene Stadt“ (jaṅgal hotā śahar) von Mithileshwar (geb. 1948). Darin steigert sich die Hauptfigur Singh Babu in die paranoide Angst hinein, bald Opfer einer Gewalttat zu werden. Die Geschichte beginnt damit, dass sich Singh Babu über den täglichen Mord und Totschlag, über den in der Zeitung berichtet wird, erschüttert zeigt. Ihn treibt die Frage um, was einen Menschen zum Mörder macht. Als er seine Kollegen im College fragt, ob sie schon die Zeitung gelesen hätten, reagieren zunächst alle beunruhigt, weil sie fürchten, persönlich betroffen zu sein. Alle brechen in Gelächter aus, als Singh Babu ‚lediglich‘ die Mordtaten erwähnt, denn das sei schließlich normal. Ebenso reagieren die Studenten in seiner Vorlesung. Singh Babu kann die Gleichgültigkeit und Abstumpfung gegenüber solcher Gewalt im Land kaum fassen: „Unterwegs dachte er immerzu, dass ein Mensch heute nicht besser dran war als ein Rettich. War einem danach, schnitt man ihn eben in Stücke. Weder verschwendete man davor groß einen Gedanken daran, noch tat es einem hinterher irgendwie leid.‍“561 Bald legt er ein paranoides Verhalten an den Tag und vermutet hinter jeder fremden Person, die hinter ihm herläuft, einen kaltblütigen Mörder. Er fürchtet etwa, dass ein Schüler, dem seine mahnenden Worte nicht gefallen haben, ihn von hinten erdolchen könnte. Auch packt ihn die Angst, dass erneut Unruhen zwischen Hindus und Muslimen ausbrechen könnten. In seinen Gedanken vergleicht er die Stadt mit unzivilisierter Wildnis.
In Singh Babus Kopf hallte nach, was die Leute sagten: Du bist hier nicht auf dem Dorf, sondern in der Stadt. Und das soll städtische Kultur sein? Ist das nicht viel mehr das Gesetz der Wildnis, wo alle anderen Tiere das Weite suchen, sobald der Löwe eines von ihnen reißt. […] Danach kam es ihm so vor, als laufe er durch einen Dschungel voller Bestien.562
Die Geschichte endet damit, dass Singh Babu in Ohnmacht fällt und als psychisch krank eingestuft wird. Ein ähnlicher Tier-Mensch-Vergleich taucht in der modernen Fabelerzählung „Der andere Dschungel“ (dūs'rā jaṃgal) von Yogendra Dave (o.A.) auf, in dem ein Geiervater und sein Sohn in der Stadt Zeugen eines Blutbads werden. Der junge Geier fragt daraufhin den Vater: „What, then, is the difference between the jungle and the town? There, animals kill each other, here, the people have slaughtered each other.‍“563 Beide Erzählungen beziehen sich offenbar auf die communal riots, die Anfang der 1990er Jahre Bombay und andere indische Großstädte erschütterten. Ein weiteres Beispiel, in dem Wildnis als Abwesenheit von Menschlichkeit und Zivilisation vorkommt, ist das das ausgestorbene Stadtzentrum in der Science-Fiction „Bis zur nächsten Finsternis“ von Jitendra Bhatiya (Kapitel 3.3.2), das als „unbekanntes Niemandsland“ (aj'nabī biyābān) und „fremde Wildnis“ (aj'nabī jaṃgal) bezeichnet wird.564 In dieser Verwendung deutet sich an, dass die Grenze zur Seelenlandschaft fließend ist, und dass Wildnis im weiteren Verständnis auch als Metapher für Gefühlszustände wie Verlassenheit, Ohnmacht oder Aussichtslosigkeit dient.
Diese Beispiele machen klar, dass der Großstadtdschungel und die Stadt aus Stein dystopische Momente von Stadterleben abbilden. Beide Motive überführen die Diskrepanz zwischen Individuum und Stadt in krasse Metaphern, die erstens die erdrückende Beklommenheit und Orientierungslosigkeit inmitten des Stadtdschungels veranschaulichen und zweitens der Stadt ordnungszersetzende, unkontrollierbare Kräfte zuschreiben, die den Menschen verrohen lassen, weswegen er kaum besser dasteht als ein gemeines Tier oder Wurzelgemüse.
Die Attribute des Gegensatzpaares Stadt (Kultur) und Wildnis (Natur) können allerdings eine paradoxe Umkehrung erfahren.565 Wildnis und Natur können nämlich auch die vermeintliche Zivilisiertheit der Stadt in Frage stellen, wie es zum Beispiel in Sara Rais nach einer wuchernden Kletterpflanze benannten Kurzgeschichte „Amarvallari“ von 2005 geschieht. Dort wird ein verlassenes Grundstück inmitten der Stadt zum Zufluchtsort für Außenseiter, die in der Gesellschaft keinen Platz haben (siehe auch Kapitel 4.3.1). Die „unsterbliche Ranke“, so die wörtliche Übersetzung von Amarvallari, leistet in ihrer wilden Wüchsigkeit Widerstand gegen die fortschreitende Stadtverdichtung.566
Wenn die hier vorgestellten Texte auch keine orts- oder zeitversetzte Alternative aufzeigen, zielt die in ihnen formulierte Sozialkritik darauf ab, die Negativseite von Urbanität aufzuzeigen. Der Traumstadt Mumbai (Bombay) kommt dabei eine herausragende Stellung zu, da dort persönliche Erwartungen häufig an der Realität zerschellen. Im Vergleich zu diesen – in erzähltheoretischer Hinsicht recht konventionell gestrickten – sozialkritischen Geschichten stellen Utopien Fragen nach den „institutionellen Bedingungen des menschlichen Daseins und Glücks, nach den Gerechtigkeitsprinzipien seiner Ordnung und nach der Rationalität seiner Umsetzung“.567 Damit gehen Utopien über die reine Kritik des status quo hinaus und entwerfen alternative Vorstellungen vom Zusammenleben in der (Stadt)Gesellschaft.
3.3 (Alb)Traum Bombay: Utopische Erzählungen
Dieses Unterkapitel verfolgt das Ziel, literarische Utopien als Teil sozio-politischer Denktraditionen zu lesen und sie als Fortführungen der Modernisierungsdiskurse und Gesellschaftsutopien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Literarische Utopien können deshalb als Quellen der geistesgeschichtlichen Moderne in Südasien herangezogen werden, die jedoch, im Unterschied zu anderen Texten, auf ein imaginäres System der Weltdeutung zurückgreifen: „As historians tried to explain the city through conceptual systems, writers of literature relied on imaginative systems.‍“568 Vorstellungen von einer erdachten bzw. idealen Stadt(-gesellschaft) können Aufschluss über die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation geben: „Quite often, the imagined society is the opposite of the real one, a kind of inverted image of it.‍“569 Bei der Vielzahl von Definitionen und Forschungsansätzen570 herrscht doch weitgehend Konsens darüber, dass sich Utopien durch ihren Realitätsbezug auszeichnen, sich an Krisen entzünden und insofern ein Instrument zur Kritik an den bestehenden Verhältnissen bilden.571 Dabei erschöpfen sich Utopien nicht in ihrer zeitkritischen Funktion, sondern beinhalten nicht selten auch innovative Ideen und konstruktive Gegenbilder.572
Wie kaum ein anderes Genre bezieht sich die literarische Utopie auf bestehende Bilder und Vorstellungen von einer Stadt. Durch sie lassen sich populäre Narrative wie das der Traumstadt (Kapitel 1) besonders wirkungsvoll überhöhen oder aushebeln. Es ist daher wohl kein Zufall, dass Bombay ein beliebter Schauplatz für visionäre oder gar utopische Ideen vom städtischen Zusammenleben ist.
Egal ob die Stadt Schauplatz einer Utopie oder Dystopie ist: Sie dient als Blaupause für Visionen von einer geschützten inneren Sphäre, in der Menschen in Abgrenzung zum (meist bedrohlichen) Außen eine authentische, gute Lebensweise erproben oder bewahren können. Blicken wir in die jüngere Hindi-Stadtliteratur, so sind idealtypische Utopien eher eine Randerscheinung.573 Allerdings gibt es ein utopisches Sujet, das sich wie ein roter Faden durch die jüngere Hindi-Literatur zieht: Die Einheit individueller Freiheit und der Sicherheit gemeinschaftlicher Beziehungen. Im folgenden werden zwei Beispiele aus den 1970er und 1990er Jahren vorgestellt, die unterschiedliche Ideen präsentieren, wie ein ideales gesellschaftliches Zusammenleben in der inneren Sphäre aussehen kann.
3.3.1 Eine Hippie-Kommune in Bombay: „Die kranke Stadt“ von Rajendra Awasthi (1973)
Anders als der Titel es erwarten lassen würde, huldigt der aus Jabalpur (Madhya Pradesh) stammende Rajendra Awasthi in „Die kranke Stadt“ (bīmār śahar) einem freiheitlichen Lebensideal, das an die globale Hippie-Kultur der 1960er anknüpft. Die Charaktere des Romans betrachten Emanzipation und freie Liebe als geeignete Werkzeuge, um alte Strukturen aufzubrechen. Der Name der Hauptfigur, die starke Betonung von Subjektivität und Individualismus sowie die revolutionären Ideen von freier Liebe und einem gesellschaftlichen Umbruch geben Anlass zu der Vermutung, dass Agyeyas Roman „Shekhar“ (śekhar, ek jīvanī) aus den 1940er Jahren Pate stand.574 Im Gegensatz zu Agyeyas Roman, in dem die existentialistische Sinnsuche eines Freiheitskämpfers in der Retrospektive geschildert wird, zeichnet sich Awasthis Buch durch eine Nähe zur Sozialromantik aus. Diese ist bereits in einem seiner früheren Romane angelegt. In „Dschungelblumen“ (jaṃgal ke phūl) überträgt Awasthi seine Utopie auf die Kultur der indischen Ureinwohner (ādīvāsī) fernab der modernen Zivilisation;575 wenige Jahre später dann auf eine Wohngemeinschaft in Bombay.
„Die kranke Stadt“, deren Stoff auch in einem Theaterstück verarbeitet wurde,576 ist in einer Pension namens Bunchi Terrace in Bombay angesiedelt. Der Roman bietet einen alternativen Entwurf zur traditionellen Vorstellung von Familie, Ehe und Gesellschaft. Streng genommen handelt es sich um eine Heterotopie, da die Vision von einem anderen Ort vermittelt wird, der für eine Werteordnung steht, die sich wie eine Insel von der sie umgebenden Umwelt und deren Sozialgefüge abhebt. Michel Foucault definiert Heterotopien als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.‍“577 Das Ideal von einer durch Nächstenliebe, Respekt und Toleranz getragenen Gemeinschaft578 wird mit gesellschaftlichen Werten – zuvorderst der Wunsch nach einem selbst­be­s‍timmten Leben in einer kultivierten Umgebung – verschweißt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Vorstellungen von individueller Selbstentfaltung und freier Liebe in einem Roman aufgegriffen werden, der in Bombay spielt. Auf dem Buchrücken wird das Bild der weltoffenen, liberalen und modernen Stadt zitiert:
Im Wettlauf um die Moderne hatte Bombay immer schon die Nase vorn. Nirgends ist der Umgang zwischen den Geschlechtern so liberal wie hier. Die Stadt bietet sowohl den Intellektuellen eine Bühne, als auch Platz für die Sperenzchen der einfachen Leute. Der Romancier Rajendra Awasthi hat das ganz richtig als „kranke Stadt“ bezeichnet und in diesem vielbeachteten Roman Mumbais verborgene Wahrheiten offengelegt.579
Einige Zitate aus dem Buch deuten darauf hin, dass sich der Titel auf den Ist-Zustand der Gesellschaft bezieht, in dem der Einzelne ein großes Gefühl der Leere verspürt. Zwischenmenschliche Beziehungen, vor allem die zwischen Mann und Frau, werden als Heilmittel für die vereinsamten Großstädter angesehen: „Überhaupt, wie sehr ist der Mensch in Städten wie Bombay zu einer Maschine degeneriert? Jeder dreht er sich nur um sich selbst. Was kann diese Einsamkeit heilen?“580 Das Maschinen-Motiv, das bei Asthana und anderen Autoren des sozialkritischen Realismus die Entfremdung des Einzelnen im unbarmherzigen Uhrwerk der Stadt betont, dient in „Die kranke Stadt“ als Ausgangspunkt für eine utopische Idee von völlig neuen Formen des Zusammenlebens. Bombay wird zum Labor für dieses gesellschaftliche Experiment, in dem das Individuum die Ketten von Konventionen und Traditionen abstreift und zu einem mündigen Bürger reifen soll. In der Pension wird die Utopie von der Vereinigung individueller Freiheit und gemeinschaftlichen Zusammenhalts Wirklichkeit.
Individualismus wird vor diesem Hintergrund als Medaille mit zwei Seiten betrachtet. Einerseits ist er die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben in der Großstadt, andererseits führt er zur Vereinzelung. Zu Beginn der Erzählung denkt Shekhar über die Zweiteilung des Individuums in privat und öffentlich nach, und immer wieder taucht der Vergleich mit Masken (nakāb'poś) auf, mit denen sich Menschen verstellen.581 Diese Schilderung veranschaulicht genau jenen Zustand, den Georg Simmel in „Die Großstädte und das Geistesleben“ als Blasiertheit bezeichnet.582 Simmel erläutert in einer Analogiekette, wie sich das Individuum unter dem Einfluss permanenter Reizüberflutung und Arbeitsteilung, der dafür notwendigen Spezialisierung und dem wachsenden Konkurrenzdruck anderen Menschen gegenüber emotional abschottet. Einerseits diene das dazu, sich vor dem Überangebot von Kontakten, Angeboten und Reizen zu schützen, andererseits aber auch möglichst wenige Schwächen der eigenen Persönlichkeit nach außen zu kehren, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
Das Maskenmotiv ist ein Hinweis darauf, dass sich in kapitalistischen Gesellschaften ähnliche Wahrnehmungsmuster ausbilden. Jedoch unterscheidet sich Simmels klare binäre Gegenüberstellung von Großstadtleben (Gesellschaft) und Landleben (Gemeinschaft) von Awasthis Versuch, diese beiden Lebensweisen in Einklang zu bringen: „Das hier ist nichts anderes als eine kleine Familie – jeder ist für sich da und gleichzeitig sind alle miteinander verbunden. Alle sind für alle und für niemanden da.‍“583
Das Prinzip vom „Ich im Wir“ spiegelt sich auch in der multiperspektivischen Erzählweise wider. Der Roman wird abwechselnd aus unterschiedlichen Blickwinkeln der einzelnen Bewohner oder ihnen nahestehenden Personen erzählt, teils in Tagebucheinträgen oder Briefen, meistens aber in Form von mündlicher Erzählung.584 Die Hausherrin, Miss Gorawala, ist eine alleinstehende ältere Dame, die als mitfühlend und hilfsbereit beschrieben wird. Obwohl sie sich jedem noch so verlausten Hund annimmt, duldet die Anti-Traditionalistin allerdings keinerlei Toleranz gegenüber der „Institution Ehe“ (vivāh saṃsthān, S. 117), weshalb sie keine verheirateten Paare als Mieter aufnimmt: „Solange du dich nicht in diesen dreckigen Sumpf von Ehe reinziehen lässt, kannst du hier sehr gerne wohnen.‍“ Miss Gorawala war die Geliebte eines reichen Geschäftsmannes; ihre drei erwachsenen Töchter führen alle ein ausgesprochen emanzipiertes Leben. Unter der Hausherrin versammelt sich eine Gruppe von vier Untermietern völlig unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft: Die College-Lehrerin Prof. Acharya, die junge Kamala Ayyar aus Südindien, die wegen eines Filmangebots nach Bombay gezogen ist und nun an der Rezeption eines Hotels arbeitet, sowie die ehemalige Prostituierte Manjari, die aus einem Dorf in Madhya Pradesh stammt. Die Hauptperson ist der freischaffende Journalist Shekhar, der einen promiskuitiven Lebensstil pflegt und die anderen, sogar die angepasste Hindi-Professorin, davon überzeugt, dass die Ehe das Ende jeder Liebe ist.585 Shekhar spricht von seiner Religion bzw. Lebensaufgabe (dharm): „Ich habe nicht nur eine Freundin, zu mir kommen viele Frauen. Ich liebe sie alle. Denn zu lieben ist meine Religion.‍“586 Die illustre Wohngemeinschaft verkörpert eine Gesellschaft, die nicht aus einer bloßen Hülle verkrusteter Konventionen und sinnentleerter Traditionen besteht, sondern die vom Geist der Nächstenliebe und Selbstverwirklichung getragen wird. Shekhar glaubt, dass die alte Gesellschaft erst vollständig zusammenbrechen muss, bevor eine neue entstehen kann: „Diese Klasse (varg) wird eine neue Gesellschaft hervorbringen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Hände dieser neuen Klasse stärker sein werden, weshalb die Gesellschaft, die durch sie geformt wird, die alte ganz vertilgen wird.‍“587 Und: „In Wirklichkeit erwarten wir alle eine neue Gesellschaft. Sie ist nicht mehr fern, denn ihre Grundfeste sind erschüttert worden.‍“588
Die Figurenkonstellation bietet einen deutlichen Hinweis auf die radikale Erneuerung durch alle Gesellschaftsschichten hindurch, unabhängig von der sozialen oder regionalen Herkunft. Einen zentralen Strang der Erzählung bildet Manjaris Lebensgeschichte: Jung verwitwet wird sie gegen ihren Willen zur Kurtisane ausgebildet. Bald darauf wird sie die Geliebte von Niranjan Singh, der mit ihr gemeinsam dem Dorf und der damit verbundenen sozialen Kontrolle und Isolation entflieht. Sie leben kurze Zeit in Delhi, bis Niranjan sich gezwungen sieht, seinen familiären und geschäftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Manjari nimmt er mit ins Dorf, wo sie, nachdem eine Gruppe Männer sie überfallen und missbraucht hat, eine Zeit lang als Zweitfrau im Haus von Niranjans Familie lebt. Weil diese Konstellation – wenig verwunderlich – bei Niranjans Frau und der Dorfgemeinschaft auf Ablehnung stößt, begleitet Niranjan seine Geliebte nach Bombay, wo sie einen Neuanfang versucht. Die anderen Bewohner der Pension schätzen an Manjari ihren bodenständigen und ehrlichen (saral) Charakter und bewundern ihre Wandlung vom armen, benachteiligten Dorfmädchen hin zum gebildeten Stadtmenschen. Manjari lernt Englisch und gründet eine Schule. An der urbanen Gesellschaft schätzt sie, dass jeder sich frei entfalten kann, ohne unter der ständigen Beobachtung anderer zu stehen: „Mein Leben hat sich in der kurzen Zeit so sehr verändert! Hier gibt es keine bösen Blicke wie im Dorf. Hier ist jeder ganz mit sich selbst beschäftigt. Man lugt nicht einfach so bei anderen Leuten ins Fenster. […] Wir sind so verbunden, dabei ist gar nichts weiter passiert.‍“589
Die Anonymität der Großstadt ermöglicht es dem Einzelnen überhaupt erst, sich zu emanzipieren,590 fernab der dörflichen Zwänge (soziale Kontrolle, die Stigmatisierung Andersartiger und fehlende Bildungs- und Aufstiegschancen, Doppelmoral), die im Roman kritisiert werden.591 Bildung und ihr Nährboden, der urbane Lebensstil, werden mehrfach als Schlüssel zum Erfolg genannt: „Lass jetzt alles hinter dir! Versuch, in Bombay zur Bombayitin zu werden. Lern nach Lust und Laune! Bildung wird dir ein neues Leben schenken!“592 Die Emanzipation und Selbstentfaltung Manjaris steht symptomatisch für den Wandel der Gesellschaft durch den Einzelnen: „Es ist gerade so wichtig, dass sich eine Person ändert, weil doch eine Gruppe von Menschen eine Gesellschaft bildet.‍“593 Paradoxerweise bildet das ‚Ehrliche‘ und ‚Echte‘ des Dorfes, das sich im bodenständigen und grundehrlichen Charakter Manjaris manifestiert,594 einen Gegenpol zum städtischen Werteverfall, der sich zum Beispiel im Fremdgehen und Alkoholkonsum äußert. So kritisiert Manjari, die ehemalige Prostituierte, den Lebensstil der Tochter von Miss Gorawala, Satya, weil die in Clubs geht, Alkohol trinkt und mit anderen Männern tanzt, weil sie ihre Ehe frustrierend findet. Manjari ist der Meinung, dieser ganze Party-Lifestyle entspreche nicht „unsere[r] indische[n] Kultur“ und würde sicherlich nicht zum Seelenfrieden beitragen.595 Obwohl also die Stadt, nicht das Dorf, der Ort für Shekhars radikale Gesellschaftsreform ist, führt der Autor mit der weiblichen Hauptfigur Manjari durch die Hintertür die positiven Seiten der traditionell-dörflichen Lebensweise wieder ein. Somit vereint die weibliche Hauptfigur idealtypisch die Vorzüge von urbaner Selbstentfaltung (Gesellschaft) und traditioneller Werte (Gemeinschaft).
Der Autor schreibt sich mit seiner Heterotopie in die Hippie- und Beatnik-Subkultur ein, die mit Allen Ginsberg aus New York oder San Francisco nach Indien kam. Gewiss lässt sich dieses kulturelle Phänomen nicht als reine Bewegung von West nach Ost lesen, ruft man sich in Erinnerung, welche Bedeutung Indien für die spirituelle und geistige „Erweckung“ westlicher Künstler und Intellektueller wie eben Allen Ginsberg hatte, der zwischen 1961 und 1963 Delhi, Kalkutta, Varanasi und Bombay bereiste und seine Erlebnisse und Gedanken (unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen) in seinem „Indischen Tagebuch“ festhielt.596 Im Austausch mit Ginsberg und anderen Gleichgesinnten war in Bombay und anderen Städten vor allem in Dichterzirkeln eine lokale Popkultur aufgekeimt.597 Die „Bombay Beatniks“ um Arun Kolatkar, Dilip Chitre und Arvind Krishna Mehrotra machten sich das American English zu eigen und entwickelten es weiter, etwa um mittelalterliche bhakti-Lyrik zu adaptieren.598 Inwieweit der in den 1960er und 70er Jahren boomende Hippie-Tourismus in Indien Hindi-Schriftsteller wie Rajendra Awasthi in ihrem Schaffen inspiriert haben könnte, muss hier unbeantwortet bleiben.599 Sicher ist, dass sein Roman am Ende einer Zeit entstand, in der Künstler Bombays kreative Potenz weckten, ja den Grundstein für den Mythos Bombay legten, der uns heute noch in populären Vorstellungen von der Stadt der Träume begegnet. Die 1960er Jahre waren der Höhepunkt eines individualistischen Lebensgefühls. Awasthi spinnt diesen Individualismus weiter, indem er ihn als Basis für eine moderne Vorzeigegesellschaft imaginiert, die als eine Art nationaler Mikrokosmos nach Nehrus Ideal von unity in diversity funktioniert. Dieser Traum vereint mehrere Ideenströme: Die Anti-Establishment-Rhetorik und der Glaube an freie Liebe, ein ausgeprägter Körperkult sowie eine freiheitlich geprägte Gemeinschaftlichkeit knüpft an den zeitgenössischen Hippie-Kult der 1960er Jahre an. Zweitens greift Awasthi eine sozialistische Fortschrittsideologie auf, die mit liberal-humanistischem Gedankengut gepaart ist und auf die sich z.B. Nehru und Ambedkar beriefen. Sie wird v.a. in der Figur der Manjari greifbar. Die ehemalige Prostituierte und Analphabetin vom Land vollzieht in Bombay eine Metamorphose zum kultivierten Stadtmenschen, der seine Erfüllung wiederum in der Vermittlung von Wissen findet. Auch der Wunsch nach sozialer Gleichheit ist ein Merkmal der zukünftigen Gesellschaft, wie Shekhar sie sich erträumt.600 Drittens fließen traditionelle Vorstellungen und Denkschulen wie der des Advaita-Vedanta ein, die viele Sozialreformer, auch Gandhi, durch die Lektüre der Upanishaden nachhaltig geprägt hat, und umgekehrt ihre Rezeption und Kanonisierung als zentrale hinduistische „Schrift“ angekurbelt hat.601 Die Lehre des Advaita, des Nicht-Dualismus, beinhaltet im Kern, dass brahman (das Absolute, die „Weltseele“) und ātman (die individuelle Seele) identisch sind. Um dies zu erkennen und individuelle Erlösung zu erlangen, gilt es, den Schleier des Unwissens (māyā) zu zerreißen, der beide Bereiche voneinander trennt. Diese Hoffnung auf Erkenntnis (durch die Überwindung von Unwissen) kommt in dem etwas kryptischen Zitat zum Ausdruck, in dem Shekhar auf den Tag hofft, der den Schleier der Unwissenheit zerreißen und alle aus ihrem ignoranten Dasein in der kranken Stadt befreien wird.602 Die Hoffnung auf einen völligen Systemzusammenbruch, der der Erneuerung der Gesellschaft vorausgehen muss, vereint in sich Sozialismus und Mythologie: Das goldene Zeitalter der Zukunft wird freie Menschen hervorbringen. Awasthi nimmt die – teils gegensätzlichen – Gesellschaftsentwürfe der Gründerväter Indiens auf und verwebt sie zu einer sozialromantischen Utopie: Nehrus sozialistisch angehauchte Fortschrittsideologie, die Indiens Zukunft in den urbanen (Wirtschafts)zentren verortete, Ambedkars Überzeugung, dass Bildung und Urbanität soziale Schranken und das Kastendenken durchbrechen könnten und Gandhis Vision von der autarken und gerechten Dorfnation. In der inneren Sphäre der Wohngemeinschaft herrscht ein harmonisches Gleichgewicht gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Werte: eine familienähnliche Bindung bei gleichzeitiger individueller Freiheit und Selbstentfaltung.
3.3.2 Orwells „1984“ in Hindi: „Bis zur nächsten Finsternis“ von Jitendra Bhatiya (1998)
„Bis zur nächsten Finsternis“ (ag'le aṁdhere tak) von Jitendra Bhatiya ist ein Beispiel für eine futuristisch-dystopische Erzählung in Hindi, in der Mumbai im Jahr 2097 zum Schauplatz eines Krieges zwischen zwei globalen Supermächten wird. Eine Gruppe Widerständler versucht im Geheimen, die Erinnerung an eine bessere, menschlichere Vergangenheit wach zu halten. Es handelt sich um eine Zeitutopie,603 in der sich Technik- und Kapitalismuskritik in einem Schreckensszenario zuspitzen, in dem der ökologische Kollaps und die Selbstvernichtung der Menschheit durch einen globalen Krieg kurz bevorsteht. Verschiedene Elemente wie die totalitäre Überwachung, der globale Krieg zwischen zwei Supermächten und die Untergrundorganisation weisen Bezüge zu George Orwells „1984“ (1949) auf.604 Auch im Text selbst wird auf „1984“ und „Animal Farm“ (1945) verwiesen.605 Während Orwell (1903-1950) jedoch einen sozialistischen Überwachungsstaat imaginiert, handelt es sich bei den Mächtigen in „Bis zur nächsten Finsternis“ um die Ausgeburten des kapitalistischen Systems und des Informationszeitalters: Multinationale Konzerne haben die Welt unter sich aufgeteilt und die technische Überwachung dank künstlicher Intelligenz perfektioniert. Während bei Orwell drei Supermächte – Ozeanien, Eurasien und Ostasien – nach dem dritten Weltkrieg um die Vorherrschaft auf der Erde kämpfen, hat sich die Zahl bei Bhatiya auf zwei verfeindete Lager, Ostler (pūrv'vāle) und Westler (paścim'vāle), reduziert, die aus multinationalen Konzernen hervorgegangen sind. Genau wie bei Orwell gleichen sich die Mächte in ihrer totalitären Herrschaftsstruktur wie einem Ei dem anderen, dennoch führen sie gegeneinander Krieg.606 Die Gedankenpolizei ist bei Bhatiya durch ein hochentwickeltes, überall präsentes computerisiertes Überwachungssystem ersetzt worden. Einen schnauzbärtigen Führer nach historischem Vorbild – bei Orwell stand aller Wahrscheinlichkeit nach Stalin Pate – gibt es allerdings nicht mehr. Der Krieg hat sich mittlerweile bis zu einem Grad verselbstständigt, bei dem keiner der beiden Kontrahenten den Anführer des anderen mehr kennt.
Die Erzählung beginnt damit, dass der Ich-Erzähler, Ravikumar, in einem Krankenhauszimmer aufwacht. Sein Kopf ist über einen Helm mit einem Computer verkabelt, der ihn darüber informiert, wo er sich befindet, und selbst auf seine Gedanken reagiert. Er erfährt, dass er seit einem Anschlag am 7. Januar 1993 im Koma liege, an den er sich nur dunkel erinnern kann. Heute, am 12. April 2097, teilt der Computer mit, befinde er sich auf der Neurologie des D.I.‍M. Krankenhaus in Alibagh. Nach dem ersten Schrecken versucht er sich gegen die übergriffige Maschine zu wehren, indem er seine Gedanken kontrolliert und sie mit ein paar Schimpfwörtern wie Vollidiot (ullū kā paṭṭhā) oder Hurensohn (harām'zādā) verwirrt: „Ihre Frage war undeutlich. Bitte denken Sie noch einmal.‍“607 Schließlich befreit sich der Patient von den Kabeln und flieht aus dem Krankenhaus. Kaum ist er draußen, fängt das ganze Klinikgebäude plötzlich Feuer. Prompt tauchen Jets auf, die den Brand in Sekundenschnelle löschen.608 Eine Lautsprecherdurchsage teilt mit, dass es sich um einen Angriff der Ostler gehandelt habe, und sich jeder mit einer Atemmaske vor dem gefährlichen Gas schützen solle. Trotz der unerträglichen Hitze geht er weiter Richtung Stadtzentrum. Kurz darauf hält ein über dem Boden schwebendes Auto an und ein Mann, der einen Helm und einen Ganzkörperschutz (nakāb) trägt, brüllt: „Willst du hier etwa krepieren? Wo ist deine Atemmaske?“609 Als der Autofahrer erfährt, dass der Fußgänger aus dem D.I.M kommt, fährt er panisch weg.
Bald entdeckt Ravikumar einen Tunnel, in den eine Art Rolltreppe hinabführt,610 auf der er einen älteren Mann anspricht. Dieser fragt ihn, ob er zu den Ostlern oder zu den Westlern gehöre. Da Ravikumar mit dieser Frage nichts anzufangen weiß, erzählt er von seiner Flucht aus der Klinik. Der Alte erklärt ihm, dass sich Ostler und Westler im Krieg befänden und gerade die finale Schlacht ausfochten. Bombay (baṃbaī) war drei Jahre, nachdem er ins Koma gefallen war, in Mumbai (muṃbaī) umbenannt worden. Im Jahr 2063 sei ein langwährender Streit um den Namen der Stadt ausgebrochen: Die Ostler nannten sie mohanbaī, wohingegen die Westler von māhimbe sprachen.611 Als er ahnungslos fragt, was denn dann aus dem ganzen Land, Indien, geworden sei, entgegnet der Alte lachend, dass es keine Länder mehr gäbe und nur noch Mond und Mars separate Bezirke seien, für die man einen Pass brauche.612 Ravikumar will wissen, wie er zu seiner Wohnung in Shivaji Park käme. Der Alte sagt, dass das Stadtzentrum nur noch aus Büros und Laboren zur Züchtung künstlicher Intelligenz anhand von Menschen bestehe, und dass dort schon längst niemand mehr lebe.613 Dennoch willigt er ein, Ravikumar zu begleiten und gewährt ihm mit seinem Ausweis Zugang. Auf dem Weg ins Zentrum passieren die beiden maschinelle Kontrollen. Der Zug, in dem sie sitzen, wird ferngesteuert, außerdem gibt es interessante technische Gadgets für die Fahrt. Mithilfe des Gedächtniserfrischers (memory freshener), einer Brille mit dunklen Gläsern und Kopfhörern, begibt sich der Träger in einen Rosengarten, der alle Sinne anregt und die Müdigkeit vertreibt. Doch das ist nicht die einzige Funktion des Kopfhörers, so der Alte: „Mit diesen Kopfhörern kann man das vorzüglichste Essen genießen, sein Lieblingsspiel spielen, ja sogar Sex mit dem Wunschmann oder der Traumfrau haben, wie es beliebt.‍“614 Das Kinderkriegen sei allerdings nur einem Teil der Frauen vorbehalten.
Später erklärt er Ravikumar, wie es zu der Spaltung gekommen war. Nach dem Zusammenschluss aller Länder im Jahr 2027 hätten die großen multinationalen Konzerne kleinere Firmen und Institutionen geschluckt, bis am Ende nur noch zwei große Organisationen übrig geblieben seien. Diese hätten alle politische Macht an sich gerissen und die Religionsgemeinschaften unter sich aufgeteilt: Zu den westlichen zählten Christen, Juden, Muslime und Nihilisten (vināś'vādī); zu den östlichen gehörten Hindus, Jainas, Buddhisten, Sen, Mandarin [sic!] und Sikhs.615 Am fünfzehnten Geburtstag müsse man sich für eine der beiden Gruppen entscheiden und sich registrieren lassen. Als der Neue seinen Begleiter fragt, welcher Gruppe er angehöre, vertraut ihm dieser an, dass er beide Lager verachte und keiner der beiden Gruppen angehöre.
Als sie hinausgehen, weist der Alte ihn an, eine Schutzmaske zu tragen, und klärt ihn darüber auf, dass aufgrund der zerstörten Ozonschicht das UV-Licht so ungehindert in die Atmosphäre eindringen könne, dass sie nach kurzer Zeit blind mache.616 Plötzlich taucht in der Ferne ein bekanntes Gebäude auf, das Gateway of India, das die Zeiten überdauert hat und bei Ravikumar Erinnerungen an seine Frau Nirmala wachruft. Doch das verfallene Tajmahal Hotel und die sengende Hitze katapultieren ihn zurück in die Gegenwart. Der Alte bietet ihm an, ihn zu begleiten. Nach einem Hirn-Scan, der ausschließt, dass Ravikumar ein Spion ist,617 laufen beide durch ein Labyrinth von Gassen in Colaba. Allerdings kann er keinen einzigen Laden entdecken, die Stadt wirkt leer und wüst (aj'nabī jaṃgal).618 Nach mehreren Sicherheitsschleusen gelangen sie über einen stockfinsteren Tunnel in einen schummrig beleuchteten Saal, in dem eine Gruppe andächtig den Raga Yaman Kalyan summt. Der Alte heißt ihn willkommen in der „Welt der Freunde des Untergrunds“ (zamīn ke dostoṃ kī duniyā).619
Die Mitglieder der Untergrundgruppe, darunter Parminder Singh Mozart, begrüßen ihn euphorisch: „Es bedeutet uns sehr viel, dass du dich unserem Kampf anschließt.‍“620 Eine ältere Frau erklärt ihm, dass sie den Weg in den Untergrund gewählt hätten, um für das Leben zu kämpfen statt Selbstmord zu begehen, wie es die Vögel getan hätten. Mit Verweis auf Nietzsches Nihilismus (nakār'vād) fügt sie hinzu, dass viele Menschen resigniert hätten. Eine hochbetagte Engländerin antwortet dem Neuling auf die Frage nach dem Sinn und Ziel der Vereinigung: „Uns treibt an, inmitten dieses sinnlosen mechanischen Lebens am Leben zu bleiben. Wir wollen nicht sterben.‍“621 Deshalb hat die Gruppe auch damit begonnen, die Ozonschicht zu reparieren.
An den Gebetssaal (prārth'nāgr̥ha) schließt das Kunstmuseum an.622 Parminder Singh betont, dass die Ausstellungsstücke keine Farce (dhokā) seien, wie sie der memory freshener hervorbringe, sondern reale Dinge, darunter ein Nudelholz und eine Zange für Fladenbrot, Filme mit Sharukh Khan und anderen Filmstars aus den 1990ern, sowie eine Flasche Benzin. Auch alte Ölgemälde und Bilder von berühmten Persönlichkeiten wie Jesus, Charlie Chaplin, Guru Nanak, Gandhi und William Shakespeare sind ausgestellt. Zu den Portraits von George Orwell und Karl Marx erklärt Cynthia: „Marx steht für unseren Kampf, aber im Ringen ums Überleben ist uns auch Orwell wichtig, weil er vor 150 Jahren in ‚1984‘ und ‚Animal Farm‘ dieses Szenario vorhergesagt hat.‍“623 Parminder Singh ergänzt: „Die Maschinen, die wir erschaffen haben, beherrschen uns jetzt.‍“624
Die beiden gehen durch eine weitere Tür und fahren weiter hinab, bis sie auf einen großen Platz (maidān) gelangen, wo die Luft frisch und das duftende Gras von Tau benetzt ist.625 Dort warten bereits viele Menschen auf eine Ansprache des neuen Mitstreiters. Der Alte appelliert zunächst an alle, sich zu berühren, um die „erste Welt der Berührung“ wieder zum Leben zu erwecken.626 Nach dieser haptischen Einstimmung hält Ravikumar eine Rede. Er erzählt von alltäglichen Begebenheiten und unscheinbaren Dingen, von Zuhause, seiner Arbeit, der Imbissbude um die Ecke, den Gerüchen am Colaba Causeway, dem Schrei der Pfauen. Alle Leute hören ihm gebannt zu, einige weinen oder jammern. Plötzlich sind am Himmel Sirenen und Flieger zu hören. Durch Lautsprecher kommt die Durchsage: „Nummer 141993 Ravikumar, wir haben dich entdeckt. Wir wussten, dass du uns am Ende zu diesem Versteck führen würdest. Deshalb haben wir dich laufen lassen. Beweg dich nicht vom Fleck, wir haben dich im Visier...‍“627 Am Ausgang erwarten ihn Polizisten. Schließlich erwacht er wieder in der Klinik. Er sieht, gleich einer Erscheinung, den Alten vor sich, der ihm sagt, er solle sich nicht fürchten, denn es ginge weiter, so schnell ließen sie ihn nicht sterben.
Einige Vorkommnisse aus Bhatiyas Schreckensvision fußen auf realen Ereignissen und Entwicklungen aus der Entstehungszeit der Geschichte. Zum einen erinnert der Tag im Januar 1993, an dem der Protagonist ins Koma gefallen war, an die gewaltsamen Zusammenstöße (communal riots) zwischen Hindus und Muslimen. Zwischen Dezember 1992 und Januar 1993 wurde Bombay – als Reaktion auf die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya durch Hindu-Fundamentalisten – von einer Reihe schwerer anti-muslimischer Ausschreitungen heimgesucht. In einem Racheakt islamistischer Terroristen kamen am 12. März 1993 bei mehreren Bombenanschlägen in der Innenstadt von Bombay mehrere hundert Menschen ums Leben. Mit dem Streit um den Namen der Stadt, der schließlich zum Krieg zwischen Ostlern und Westlern führte, bei dem alle Religionsgemeinschaften der Erde in zwei Gruppen aufgeteilt wurden, spielt der Autor auf die 1995 von der hindunationalistischen Regionalpartei Shiv Sena betriebenen Umbenennung Bombays in Mumbai an. Bis heute bleibt die Namensänderung umstritten, da in ihr ein Werkzeug zur religiös-kulturellen und politischen Gleichschaltung gesehen wird, die dem kosmopolitischen Charakter der Urbs prima in Indis zuwiderläuft.
Bhatiyas Erzählung zeigt außerdem die Kehrseiten des technischen Fortschritts und des globalen Kapitalismus. Der Rückzug in den Untergrund, wo eine Widerstandsgruppe die Erinnerung an die Vergangenheit wachhält, wird zum probaten Mittel gegen die Entmenschlichung, die Bombay und die Welt heimgesucht hat. Diese Entmenschlichung offenbart sich im globalen Superkrieg zweier Konzerne, in der allgegenwärtigen Überwachung, der lebensfeindlichen Umwelt und im ausgestorbenen Stadtzentrum. Die entvölkerte, bröckelnde Innenstadt ist seiner ursprünglichen Funktion beraubt worden; die Wohngebiete sind an den Rand der Stadt, aufs offene Meer, verlagert worden. Durch die Zerstörung der Ozonschicht – Bhatiya referiert hier auf zeitgenössische Umweltdebatten der 1990er Jahre – ist es lebensgefährlich für Mensch und Tier, sich der direkten Sonneneinstrahlung auszusetzen.
Um gegen die brutale Realität anzukämpfen, pflegt die Untergrundgruppe die kulturellen Werte der alten Welt – Solidarität, Empfindsamkeit und Gemeinschaft im Geheimen. Die Konstellation aus Widerständlern, die sich in eine moralische Sphäre zurückziehen und mit Loyalität und Hingabe für einen höheren Zweck (und gegen das System, aus dem sie geflohen sind) kämpfen, weist auffällige Parallelen zu dem Roman „Das Kloster der Freude“ (ānand maṭh) des bengalischen Schriftstellers Bankimchandra Chattopadhyay (auch Chatterjee) auf. Die Handlung des Romans, die im 18. Jahrhundert angesiedelt ist und auf einem historischen Ereignis, der Rebellion von Asketen (sanyāsins) gegen die muslimischen Herrscher, basiert, wurde schon von den Zeitzeugen Bankims – der Roman erschien 1882 – als Allegorie für den aufflammenden „nationalen“ Widerstand gegen die Briten gelesen.
Was für die Sadhus in „Das Kloster der Freude“ der Dschungel ist, ist für die Widerständler in „Bis zur nächsten Finsternis“ der Untergrund: Eine geschützte, moralische Sphäre, in der die Gruppe die Erinnerung an die „alte Heimat“ bewahrt.628 Die alltäglichen Gebrauchsgegenstände und Bilder berühmter Persönlichkeiten fungieren als Identitätsstabilisatoren, die eine geistige Verbindung zur Vergangenheit herstellen. Es überrascht nur auf den ersten Blick, dass die ‚Reliquiensammlung‘ aus dem Museum nicht automatisch mit einer Indientümelei gleichgesetzt werden kann. Ähnlich wie bei Bankims Roman werden alle Unterschiede dem hehren Ziel der Einheit untergeordnet: Das Nebeneinander von Shahrukh Khan, Karl Marx und George Orwell z.B. zeugt – genau wie die internationalen Namen der Widerständler (Parminder Mozart Singh, Cynthia) selbst – vom kosmopolitischen Charakter und der kulturellen Vielfalt der früheren Stadtkultur. Mit diesem Warnszenario schickt Jitendra Bhatiya eine zugespitzte Version des Niedergangsnarrativs voraus, wie es uns bereits in Gyan Prakashs und Naresh Fernandes Stadtbiographien oder in den Essays des Bandes „Mumbai. City of Dreams“ wenige Jahre später begegnet ist. Gewiss spricht Bhatiya mit seiner Dystopie eine ganz andere Leserschaft an als Prakash oder Fernandes.
Die Mischung aus Science-Fiction, Kapitalismuskritik und Sozialromantik rücken die Geschichte in die Nähe des literarischen Kitschs. Bhatiya nutzt die Form eines populären Unterhaltungsgenres, um in überspitzter Weise auf mehreren Ebenen aktuelle Probleme, aber auch die Ängste seiner regionalsprachlichen Leserschaft anzusprechen. Auf einer lokalen Ebene sind das eine zunehmend anti-pluralistische Politik der hindu-nationalistischen Shiv Sena Partei (Umbenennung Bombays in Mumbai) und fundamentalistischer Terror (Anschlagsserie 1993). Auf einer nationalen Ebene spielen die Sorge vor ökonomischer Fremdbestimmung und Überfremdung durch die Liberalisierungspolitik der frühen 1990er Jahre und drittens globale Umweltdebatten (Ozonloch) hinein. Gegen all diese – realen wie gefühlten – Bedrohungen von außen setzt Bhatiya eine Gruppe von Widerständlern ein, die pluralistisch-humanistische Werte in einer Solidargemeinschaft pflegt und das kulturelle und gesellschaftliche Erbe der einst kosmopolitischen Stadt Bombay (und des Landes Indien) schützen will. Der Autor vermittelt seinen Lesern in einer David-gegen-Goliath-Erzählung ein klares moralisches Weltbild, bei dem er an Narrative der nationalistischen Frühzeit, wie Bankims „Kloster der Freude“, anknüpft und sein Verständnis von kultureller Identität auf eine „innere Sphäre“ projiziert, in der die Mitglieder Nehrus säkularem Ideal von unity in diversity nachfolgen. Die Idee einer idealen Gemeinschaft ist eng mit nationalen Selbstbefragungsdiskuren verbunden.629 Interessanterweise dient Bhatiya die wohl berühmteste Dystopie der europäischen Moderne, Orwells „1984“, als Vorlage, um die visionäre Weitsicht seiner Geschichte zu unterstreichen und an die Leseerfahrungen und -vorlieben seines regionalsprachlichen Publikums anzuknüpfen. Wagt man aus der Ferne eine vorsichtige Einschätzung und schließt man rein deduktiv vom Autor auf dessen Lesepublikum, so dürften seine Leserinnen und Leser der gebildeten (unteren) Mittelschicht angehören und mit den Klassikern der indischen und englischen Literatur vertraut sein, aber auch eine Vorliebe für Genres der Unterhaltungsliteratur hegen. In Bezug auf ihre Ideen von Nation und Gesellschaft zeichnet sich seine Leserschaft wohl durch ein konservativ-demokratisches Weltbild aus, das kapitalismuskritische und technikfeindliche Einstellungen einschließt. Gerade in der schwarz-weiß-Darstellung des globalen Kriegs multinationaler Konzerne drückt Bhatiya die Sorge vor einer ökonomischen Kolonisierung aus. Auf dem Weg in die postkoloniale Moderne, so zeigen diese utopischen Erzählungen, verarbeiten Autorinnen und Autoren häufig Überfremdungsängste, die aus der Erfahrung bzw. aus der Beschäftigung mit der britischen Kolonialzeit herrühren. Zugleich arbeiten sie sich immer wieder an der Frage ab, was das Selbst (in Abgrenzung zum Anderen) definiert.
3.4 Stadtschreiber der Nation: Auf der Suche nach dem postkolonialen Selbst
Edward Saids wegweisendes Buch „Orientalism“630 bescherte der postkolonialen Theorie631 weltweit einen ungeheuren Auftrieb. In Saids Verständnis hatte die westliche Welt den ‚Orient‘ mittels kolonialer Wissensproduktion als „das Andere“ konstruiert, um es unter Kontrolle zu bringen und zu beherrschen. Dieses simplifizierende Herrscher-Beherrschte-Narrativ vermochte die komplexen Abhängigkeitsverhältnisse und Machtallianzen zwischen den einheimischen Eliten und den Kolonialherren in der Geschichte des Kolonialismus jedoch nicht adäquat abzubilden. Gerade indischen Intellektuellen diente Saids Ansatz deshalb als Anregung, eindimensionale postkoloniale Deutungsschemata mit einer Geschichte „von unten“ zu hinterfragen und die Erfahrungen subalterner632 Bevölkerungsgruppen, die nicht der sogenannten Machtelite angehörten – d.h. Arbeiter, Dalits und Frauen – in einer außereuropäischen Geschichtsschreibung zu berücksichtigen.633
Die Hindi-Literatur blieb von diesen intellektuellen Debatten nicht unberührt. Ganz im Gegenteil, bereits die Vertreter der jan'vādī-Bewegung der 1970er Jahre hatten die Lebens- und Erfahrungswelt marginalisierter Gruppen, vor allem Bauern, Arbeiter und Dalits, in den Blick gerückt (Kapitel 3.1). Das war freilich kein neues Phänomen, denkt man an Premchands Interesse am Alltag der Bauern, Arbeiter und einfachen Landbevölkerung, oder an die Autorinnen und Autoren der Progressive Writers’ Association, wie Saadat Hasan Manto, dessen Kurzgeschichten z.B. im Rotlichtmilieu spielen. Die Suche nach der eigenen Geschichte, Kultur und Nation ist ein zentraler Topos in der jüngeren (und auch jüngsten) Hindi-Stadtliteratur. Einerseits verarbeiten ihre Verfasser biographische Migrationserfahrungen. Die individuelle Suche nach dem Selbst ging aber auch Hand in Hand mit der Frage, was die ‚eigene‘ kulturelle Identität eigentlich auszeichne und welchen Weg die Nation einschlagen solle, wobei die drei Bereiche Kultur bzw. Zivilisation (sabhyatā), Gesellschaft (samāj) und Land bzw. Nation (deś) in der literarischen Betrachtung aufs Engste miteinander verwoben sind.634
Dieses Phänomen hat Ulrich Bielefeld auch für die europäische Geistesgeschichte nachgewiesen. Bielefeld erinnert daran, dass der Begriff der Nation in seiner Bedeutung immer auch die „Fiktion der Einheit“ einschließe:
Unter Gesichtspunkten der Organisation und der Institutionalisierung bezog sich die Nation auf den Staat, in dem sie sich realisierte oder realisieren sollte. In der Perspektive der Einheit, die mehr als den geografischen Raum und die Organisation des Staates umfassen sollte, trat ihr fiktionaler Charakter hervor. Die Nation institutionalisierte sich nach innen und außen als der Ort des Politischen und zugleich als Medium des Fiktionalen, eine Großgruppe schaffend, die sich der Vorstellung entzog und daher Darstellung verlangte.635
Wozu dieser Schlenker in die Ideengeschichte des europäischen Nationalismus? Schließlich bergen solche Parallelen die Gefahr einer eurozentrischen Fortschrittserzählung, die suggeriert, die postkolonialen Nationen des Südens würden (oder müssten) eine Entwicklung nach dem Muster der modernen europäischen Nationalstaaten durchlaufen. Das ist freilich nicht Ziel und Zweck dieser Untersuchung. Vielmehr gilt es, auf die globale Rezeptionsgeschichte der Ideen von Nation und Gesellschaft hinzuweisen. Die Architekten der indischen Nation, Gandhi, Nehru und Ambedkar, hatten sich während ihrer Studienjahre in England mit westlicher Philosophie und aufklärerischen Ideen (v.a. wie sie in den Liberalismus und Utilitarismus eingegangen sind) auseinandergesetzt. Sie erkannten – wie schon die Generationen vor ihnen – die Widersprüche, die in Anspruch und Wirklichkeit der britischen Einflussnahme in ihrer Heimat so offen zutage traten.636 Die liberalen und demokratischen Ideale bildeten trotz (oder gerade wegen) dieser Widersprüche das Fundament, auf dem die freie Nation gründen sollte. In der postkolonialen Stadtliteratur werden diese Visionen aufgenommen, kritisch hinterfragt und weitergedacht. Schon die utopischen Erzählungen haben verdeutlicht, dass die Metropole ein prädestinierter Ort ist, um die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zu beleuchten und die Einheit vom „Ich im Wir“ zu träumen. Das betrifft auch die Suche nach der kulturellen Identität und dem nationalen Selbst: Welchen Platz hat das Eigene im postkolonialen Indien und was genau beinhaltet es überhaupt? Wie viel Moderne, wie viel ‚Westlichkeit‘ verträgt das Land? Hindi-Stadtliteratur, das belegen Swadesh Bharatis „Stadtfreund“ und Manoj Rupras „Unstrument“, wird zu einem wichtigen Medium, in dem die imaginierte Nation bzw. die gesellschaftliche Identität ihre (fiktionale) Darstellung findet.
3.4.1 Emanzipiertes Kalkutta: Swadesh Bharatis „Der Stadtfreund“ (1985)
Obwohl es sich bei „Der Stadtfreund“ (nagar-baṃdhu)637 um einen eher unbekannten Roman handeln dürfte, ist er doch in zweierlei Hinsicht wichtig für die Frage nach der literarischen Auseinandersetzung mit dem postkolonialen Selbst. Der Roman besteht aus drei Erzählebenen: Im Mittelpunkt der Rahmenerzählung steht die Diskussion zwischen den zwei Protagonisten, die um Antworten auf die Fragen ringen, was es bedeute, „indisch“ zu sein, und ob Fortschritt zu Lasten von Tradition und kulturellen Besonderheiten gehen müsse oder nicht. In der Binnenhandlung geht es um das Schicksal der Prostituierten Kajal, die durch tragische Umstände ums Leben gekommen ist. Die dritte Ebene besteht aus einem lyrischen Prolog, der vor der Rahmen- und Binnenhandlung steht. Der Autor wählt eine Allegorie, in der Kalkutta zum Zeitzeugen wird und sich als Akteur in ihre jüngste Vergangenheit „einschreibt“. In dieser Emanzipationserzählung bricht Bharati das postkoloniale Deutungschema vom Orient als Opfer kolonialer Herrschaft auf.
„Der Stadtfreund“ erzählt von der Begegnung zweier Männer in einer Bar in der Park Street am Silvesterabend des Jahres 1983. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Schriftstellers Manish, wohl ein alter ego des Autors, erzählt, der unfreiwillig von dem Journalisten Abhitabh in ein Gespräch verwickelt wird. Nach der anfänglichen Reserviertheit und Ablehnung gegenüber dem Fremden nimmt die Unterhaltung an Fahrt auf, nicht zuletzt durch Abhitabhs provozierende Kritik an Manishs Kurzgeschichten, die seiner Meinung nach völlig an der Realität vorbeigingen. Die beiden diskutieren bald über den Sinn und Unsinn von Fiktion, die Lage des Landes und dessen vielfältige Probleme, wie die mangelhafte ökonomische und technische Entwicklung,638 aber auch die starke West-Orientierung, die mit ausländischen Festen wie Silvester eine Einheitskultur hervorzubringen drohe.639 Abitabh versucht Manish davon zu überzeugen, dass man den traditionellen Werten und Denkweisen – er verweist auf die drei guṇas640 – wieder mehr Beachtung schenken müsse: „Wenn du sie [die Diskussion über die drei guṇas] für falsch hältst, bedeutet das, dass dir der Boden der indischen Kultur unter den Füßen wegrutscht.‍“641 Er argumentiert, dass aus diesen drei Prinzipien alle kulturellen Leistungen Indiens, wie die Bhagavadgita, hervorgegangen seien, die heute wie in Zukunft für den gebeutelten Menschen hilfreich sein könnten. Manish hingegen hält diese Prinzipien für überkommen („out of date“).642 Stattdessen müsse sich der Mensch heute in Aufrichtigkeit und friedlichem Zusammenleben üben und im Geist der Nächstenliebe und Freundschaft leben. Er glaubt, dass jeder Einzelne die Macht hat, sich selbst und die Gesellschaft zum Besseren zu verändern, und dass Fortschritt und Selbstbefreiung nur durch Arbeit, Anstrengung und modernes Denken erreicht werden können.643 Immer wieder prallen die beiden Positionen, Tradition und Moderne, aufeinander. Abhitabh fürchtet, dass das Kopieren westlicher Kultur, wie man es beim Brecht’schen Theater und bei internationalen Festen wie Silvester sehen könne, die einheimischen (hinduistischen) Feste und Bräuche verdränge und zum Niedergang (patan) der indischen Kultur führe.644 Gleichzeitig ist er überzeugt, dass nicht Indien Meister im Nachahmen sei, wie Manish glaubt, sondern dass in Wirklichkeit die „Anderen“ (dūs're) es gewesen seien, die das Indische (bhār'tīy'tā) in den Bereichen Bildung, Kultur, Wissen und Wissenschaft kopiert hätten und nun lediglich die Kopie kopiert würde.645
Diese Strategie nationaler Selbstermächtigung, die sich in Abhitabhs Versuch äußert, sich vom erdrückenden Einfluss und der Deutungshoheit des Westens zu emanzipieren, wird auch auf der allegorischen Ebene sichtbar. Kalkutta tritt als Person in Erscheinung, die mal als Baumeister kolonialer Wahrzeichen wie dem Victoria Memorial auftritt, mal als Rikschafahrer an der Konstruktion der Stadt und ihrer Geschichte mitwirkt. Die Geschichte der Stadt, die Ende des 17. Jahrhunderts als Handelsposten der East India Company gegründet wurde, wird in einer emanzipatorischen Neuerzählung radikal umgeschrieben.646 Zunächst stellt eine vierseitige, poetisierende Einführung den Schauplatz Kalkutta, ihre Geschichte, Wahrzeichen (u.a. Howrah Bridge und Kalighat) und Berühmtheiten vor:
Kalkutta, die Stadt von Rabindranath [Tagore], Sharatchandra [Chattopadhyay], Bankimchandra Chattopadhyay, Netaji [S. C. Bose], Mutter Theresa, strickt jeden Tag und jede Sekunde Träume und schmeißt sie erbarmungslos in den Hooghly als wären es Götterstatuen von Durga, Kali, Lakshmi, oder Saraswati, die ein Handwerker, der Schöpfergott Vishvakarma, ein Jahr lang in mühevoller Arbeit angefertigt und verziert hat.647
Ähnlich wie Mumbai (Bombay) hat die Traumstadt zwei Seiten: Einerseits ist sie aktiv an der Traumproduktion beteiligt, andererseits sind die Träume bei ihr keineswegs sicher, denn willkürlich und launisch kann sie sich ihrer in Sekundenschnelle entledigen. In der oben zitierten wie auch in weiteren Passagen jagt die inkarnierte Stadt in einem Ritt durch die Geschichte durch das Kalkutta der Gegenwart und Vergangenheit, tritt mal als passiver Beobachter auf, mischt sich meistens aber aktiv in das Geschehen ein, wobei sie immer aus einer auktorialen Erzählperspektive spricht. Die Grenzen zwischen Akteur, Chronist und Zeitzeuge sind fließend: „Kalkutta schreibt die Ballade vom Aufstieg und vom Fall des Menschen: Im Galopp zerreißt sie die Stille mit ihrem Schlachtruf, mordet, baut Bomben und Munition. Sie hat sich für eine neue Revolution gerüstet.‍“648
In der Gegenwart betrachtet sie aus der Vogelperspektive Orte in der Stadt, an denen sich Frauen als Prostituierte verdingen. Über „die Protagonistinnen auf dem Fleischbazar“ (māṃsal bāzār kī nāyikāeṃ) heißt es: „Die Metropole sieht sich das alles sprachlos an. Dann entzündet sie die Fackel der Revolution. In ihrem ohnmächtigen Zorn, gefangen in finsterster Verzweiflung springt sie von der Howrah Bridge und wird vom Hooghly fortgerissen.‍“649 In den Wellen des Hooghly gelangt sie schließlich zum Hafen, wo der Aufstieg der Briten mit der East India Company ihren Anfang nahm. Selbst in Zeiten der britischen Fremdherrschaft verliert Kalkutta nie die Autorität über die historischen Entwicklungen und wird sogar zum Architekten der berühmtesten Bauwerke aus der Kolonialzeit:
Kalkutta hat die prächtigen Vierspänner der weißen Sahibs, den Pomp und Prunk aus nächster Nähe gesehen. Sie hat auch die Verbrechen, die grausame Unterdrückung, die krasse Demütigung, die Überheblichkeit der Herrscher gegenüber der schwarzen Bevölkerung miterlebt. Dabei war es Kalkutta, die die prächtigen Paläste, Schlösser, Hotels, Konditoreien, Soda- und Schnapsläden, Baumwollfabriken, die unzähligen Gewerbezentren, Tanz- und Vergnügungsetablissements, Rennbahnen, Golfplätze für die weißen Gentlemen erbaut hat. Keine geringere als Kalkutta hat die imposanten Regierungsgebäude, die Amtssitze errichtet.650
Doch auch an der Armut der Bevölkerung hat Kalkutta unmittelbar teil, indem sie ihre eigene Geschichte in Gestalt eines Rikscha-Fahrers buchstäblich aus der Perspektive des Subalternen, nämlich von unten, erlebt. Die Erzählperspektiven wechseln weiter dynamisch hin und her, Kalkutta splittet sich in Akteur (Rikschafahrer) und Beobachterfigur auf, die das Geschehen von oben verfolgt:
Kalkutta jagt von einem Ende zum anderen, in Gestalt eines Menschen, der zum Pferd verkommen ist, kutschiert sie mit bloßen Händen Leute in der Riskha herum. […] Die Metropole sieht nur hilflos zu und dehnt sich immer weiter nach Ost und West, Norden und Süden aus.651
Im letzten Teil der Einleitung wird diese erstaunliche Wandlungsfähigkeit Kalkuttas in dem für den Roman zentralen Avatar der Stadt, den Narren oder Clown (vidūṣak oder Skt. vidūṣaka), bekräftigt:
Die Metropole wechselt in einem fort ihre Farben. Auch heute noch macht sie mal Straßentheater, mal nimmt sie Göttergestalt an und treibt Geld ein oder singt Baul-Lieder. […] Manchmal bringt sie die Leute als vidūṣaka mit ulkigen Geschichten, halb gesungen, halb erzählt, zum Lachen. […] Heute am Silvesterabend hat der vidūṣaka sich auf dem hell erleuchteten Bürgersteig von Park Street in Trance getanzt und gesungen: ‚Meine Träume stiehlt er mir, so hilf mir doch einer, mit meinem Herzen hat er sich aus dem Staub gemacht, so hilf mir doch Freund, den Himmel hat er mitgenommen, so hilf mir doch einer […]‘652
Die Figur des vidūṣaka stammt aus dem klassischen Sanskrit-Theater, wo er als „Sidekick“ des Helden, einem Gott, König, Minister oder Brahmanen, für humoristische Einlagen sorgt und in Liebesszenen einspringt.653 Ganz ähnlich wie der europäische Hofnarr genießt er das Privileg, sich über soziale Normen lustig machen zu dürfen. Diese komische Seite zeigt auch der Clown in „Der Stadtfreund“, wenn er die Menschenmenge unterhält und sie mit seinem Weinen zum Lachen bringt. Insgesamt tritt der Narr drei Mal auf und führt von der Binnenerzählung (über das Schicksal der Prostituierten Kajal) zurück in die Rahmenhandlung.654 Einen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Dieb im Lied um die ehemaligen Kolonialherren handelt, liefert eine in Wortlaut und Inhalt ähnliche Passage im Prosagedicht „Kalkutta, oh Kalkutta“, das offenbar als Vorlage für den lyrischen Prolog in „Der Stadtfreund“ gedient hat.655
Beim mittleren Auftritt wünscht der Clown in einem „progressiven, demokratischen Liednektarstrom“ (pragativādī, janvādī saṃgīt-sudhā dhārā) allen „Kindern Indiens“ (bhārat kī santān), Hindus, Moslems, Sikhs, Parsis und Christen, ein glückliches neues Jahr und ruft zum Weltfrieden auf: „Sing das Lied des Friedens, ein Ende dem Krieg, der Revolution den Sieg!“656 Im Aufruf zur Revolution spiegelt sich das politische Klima im Kalkutta der späten 1970er und 80er Jahre wider. Seit 1968 regierten in Bengalen kommunistische Parteien und trotz der stagnierenden Wirtschaft hatte der Wunsch nach einer Revolution – angefacht durch den Naxalitenaufstand 1967 – bis weit in die 1980er Jahre hinein einen breiten Rückhalt unter der Bevölkerung Kalkuttas.657 Der Ruf nach Revolution, der im Lied des Narren anklingt, hängt eigenartig in der Luft. Doch in seiner Volksnähe und in seinem romantischen Streben, die noch bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten endgültig zu beseitigen, verkörpert der Clown den Idealismus von einer geeinten Gesellschaft. Manish erklärt gegen Ende des Romans, beim dritten Auftritt des vidūṣaka in der Bar: „Schau da, man nennt ihn den vidūṣaka, den Narren, den mit den vielen Gesichtern. Ich hingegen glaube, er singt der Nation aus der Seele. In seinem Lied klingt der Zeitgeist von heute mit.‍“658
Der Ich-Erzähler deutet den vidūṣaka als eine Instanz der Wahrheit und als Gradmesser nationaler Befindlichkeiten. Allerdings bleibt die Aussagekraft des vidūṣakas im Roman seltsam vage. Sucht er mit seiner wiederkehrenden Frage nach dem Traumdieb nach Erklärungen für das postkoloniale Trauma? Oder fordert sein an die Kinder Indiens gerichteter Friedensappell auf, die Zukunft der Nation zu gestalten? Liest man ihn als Allegorie für die postkoloniale Identität, so spricht aus ihm vor allem das ungeklärte Verhältnis zwischen (kolonialer) Vergangenheit und Gegenwart und die Zerrissenheit zwischen Tradition und Fortschritt. Ein Versuch, das nationale Selbst aus dieser Ohnmacht zu befreien, ist es, die Geschichte neu zu schreiben. So besteht der Roman im Kern aus einer Emanzipationserzählung. Erzählerisch wird dies durch die Personifizierung Kalkuttas erreicht, womit der Autor die postkolonialen Dichotomien gewissermaßen umkehrt: Das vom Westen beherrschte ‚Objekt‘ wird nun zum Subjekt. Als Zeitzeuge und Akteur schreibt die Stadt ihre eigene Geschichte um, indem das koloniale Ursprungsmoment – immerhin war Kalkutta eine Gründung der East India Company – getilgt und die Entstehung Kalkuttas von der britischen Einflussnahme entkoppelt, ja geradezu geleugnet. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Passage, in der den weißen Sahebs eine Beteiligung an den (kolonialen) Wahrzeichen der Stadt abgesprochen und Kalkutta selbst zum Baumeister erklärt wird.
Die Frage nach dem (national-kulturell) Eigenen besteht aus zwei Strängen: Das ist einmal das Opfernarrativ, zu dem auch die Geschichte der Prostituierten Kajal gehört, die das Opfer gesellschaftlicher Not (Flucht, Armut, Ausbeutung) ist. Der zweite Strang ist die Erzählung nationaler Selbstermächtigung, die durch die Figur des vidūṣaka und die personifizierte Darstellung Kalkuttas im Prolog umgesetzt wird. Beide Stränge stellen Bharatis Roman in einen postkolonialen Referenzrahmen. Bharati greift das Deutungsschema von Herrscher-Beherrschte auf und durchbricht es mit einer subalternen Emanzipationserzählung über die Stadt Kalkutta, die sich und ihre Geschichte selbst konstruiert und damit die Deutungshoheit über ihre (fremdbestimmte) Vergangenheit gewinnt. Die postkoloniale Selbstbefragung ist von Reibungen und Widersprüchen durchzogen, die zwischen diesen beiden Erzählungen entstehen. Da steht der Aufruf zur Revolution einer reaktionären Rückbesinnung auf einheimische Traditionen und Werte gegenüber, und das demokratische Ideal der Einheit von Inderinnen und Indern aller Glaubensrichtungen einer Vorstellung des kulturell Eigenen, das dezidiert hinduistisch konnotiert ist (Bhagavadgita und die drei guṇas).
„Der Stadtfreund“ veranschaulicht exemplarisch, wie Hindi-Autoren ihre Leserschaft an postkolonialen Debatten teilhaben lassen können, ohne dabei auf eine gewisse Pathetik in der Beschreibung subalterner Schicksale wie dem der Prostitutierten Kajal verzichten zu müssen. Auch lässt ein solcher Roman Spielraum für die teils widersprüchlichen Agendas, die innerhalb des postkolonialen Diskurses Platz finden: Neben der marxistischen Forderung nach einem gesellschaftlichen Umsturz sind das auch nationalistische Ideen von traditioneller Rückbesinnung und demokratischer Erneuerung.
3.4.2 Kunst versus Kommerz: Manoj Rupra: „Unstrument“ (1998)
Dass im Aushandlungsprozess um das Selbst die Frontlinie nicht immer schematisch zwischen den Positionen Tradition und Moderne oder Ost und West verläuft, zeigt ein anderes Beispiel aus der Hindi-Literatur der späten 1990er Jahre, in der ausgerechnet ein Saxophonist Bombays goldene Musik-Ära nach der Unabhängigkeit verkörpert.659 Der Konflikt um die kulturelle Identität entzündet sich in Manoj Rupras (geb. 1963) „Unstrument“ (sāz-nāsāz)660 an den neuen technischen und kommerziellen Möglichkeiten, mit denen Musik billig reproduziert werden kann und klassisch ausgebildete Musiker auf dem Abstellgleis der Geschichte landen.
Aus der Begegnung des Ich-Erzählers mit einem verwahrlosten Saxophonisten entspinnt sich eine Geschichte, die den Leser in den einstigen Glanz der Bombayer Musikszene führt. Der Ich-Erzähler ist neu in der Stadt und verbringt nun seinen Feierabend an der berühmten Strandpromenade am Nariman Point. Als er gerade über das fremde Großstadtleben nachsinnt, darüber, dass trotz der Enge keine Berührung stattfindet, unterbrechen Saxophon-Klänge seine Gedanken:
Ein paar Meter entfernt von mir ließ ein älterer Saxophonist dem Meer und der untergehenden Sonne eine melancholische Melodie erklingen. Auf seiner Schulter saß eine Taube mit geflecktem Gefieder. Auf seinen weißen Bart und eine Strähne seiner langen Haare fielen die letzten goldenen Sonnenstrahlen. Auch der Trichter des Instruments glänzte wie ein goldener Stern. Es war eine Szene wie im Film und ich schaute gebannt zu.661
Als er in der Melodie das Lied „Blue sea and dark clouds“ wiedererkennt, glaubt er, es handele sich bei dem Saxophonisten um einen Ausländer, einen Beatnik, so leidenschaftlich frei von jeglichen klassischen Musiktraditionen er spielt. Das atemberaubende Spiel steht im krassen Widerspruch zum dreckigen, verwahrlosten Aufzug des Musikers. Plötzlich brauen sich schwarze Wolken zusammen, und es beginnt wie aus Kübeln zu schütten: „Dort am Himmel preschte eine schwarze Armee unheilvoller Wolken rasant heran und ehe man sich’s versah, klatschte der erste Monsunregen Bombay eine ins Gesicht. Nie zuvor hatte ich so einen plötzlichen und aggressiven Regenguss erlebt, wenn ich auch gehört hatte, dass der Regen in Bombay niemanden verschont.‍“662
Alles rennt auf der Flucht vor dem Regen auseinander. Der Saxophonist hingegen verausgabt sich nun noch mehr, als wolle er gegen das Unwetter anspielen. In diesem Moment überflutet eine riesige Welle die Promenade von Marine Drive und reißt ihn um. Der Jüngere eilt zu Hilfe. Nach ein paar Minuten kommt der Saxophonist, dessen Gesicht vom Alkohol aufgedunsen ist, wieder zu Bewusstsein. Er fragt ganz unverblümt nach Geld; im Austausch dafür bittet der Jüngere darum, den Abend mit ihm verbringen zu dürfen, weil er sonst niemanden kenne.663
Daraufhin erzählt ihm der Saxophonist, dass ihm vor fünfundzwanzig Jahren ein Hippie in Goa mit dem „süßen Gift“ der Jazzmusik angefixt habe. Eine zweite Droge ist der Rum, nach dem er in der „Bier-Bar“ verlangt, wo die Tänzerin ihn vertraut mit „Onkel Bhau“ anspricht.664 Er erzählt vom chawl665 in Dadar, in dem er und seine Freunde vor einem viertel Jahrhundert gelebt und Filmmusik komponiert haben:
Alle waren sie Säufer, Spieler, sind zu Prostituierten gegangen und haben auf Pump gelebt, aber von Anfang bis Ende waren sie Künstler. Das waren die Musiker, die die indische Filmmusik groß gemacht haben. Diese Generation hat nach der Unabhängigkeit die Berge und Täler der indischen Seelenlandschaft vermessen. 666
Nach etwa zwei Stunden verlassen sie die Bar und laufen ziellos in der Gegend herum: „Mein alter Freund war nach drei Gläsern Schnaps zu neuem Leben erweckt. Er drückte den Rücken durch, streckte die Brust heraus und stolzierte los als sei er der Boss von Bombay.‍“667 Vor dem Schaufenster eines Musikladens bleibt er plötzlich stehen und starrt das Keyboard in der Mitte der Auslage an, als handele es sich um den Teufel in Person:668 „das ist ein Tyrann… ein Mörder… wegen dem sind Dasbabu und Francis nicht mehr am Leben. Das da ist Schuld an unserer Misere.‍“669 Onkel Bhau verflucht die Musikindustrie dafür, dass klassisch ausgebildete Musiker Hilfsjobs beim Fleischer annehmen mussten, um sich über Wasser halten zu können.670 Voller Hass und Verzweiflung läuft der Alte plötzlich wie von Sinnen über die befahrene Straße, bevor er vom Rausch übermannt wird. Der Jüngere findet heraus, wo sein neuer Freund wohnt, der nicht mehr ansprechbar ist. Mitten in der Nacht kommen sie am Taubenhaus von Dadar an, das ihm die Tänzerin als Anhaltspunkt genannt hat, und auch der Jüngere driftet in den Schlaf. Als er am nächsten Morgen erwacht, entdeckt er den Alten mitten in der Taubenschar. Die zutraulichste Taube von allen ist die mit dem gefleckten Gefieder, die gestern auf der Schulter des Musikers gesessen hat. Es ist die Taube seines Musikerfreunds Robert.
Schließlich gehen die beiden durch enge Gassen zum Onkel Bhau nach Hause, wo früher sein Freund Robert gelebt hat. Die verstaubten Instrumente an der Wand gehörten großen Musikern: Rafik Khan, Nitin Mehta, Dasbabu. Onkel Bhau erzählt, dass Produzenten die Gutmütigkeit dieser erstklassigen Musiker ausgenutzt, Liedspuren neu zusammengeschnitten und ohne die Erlaubnis der Künstler für andere Lieder reproduziert hätten.671 Dasbabu trieb das schließlich in die Verzweiflung.
Der Jüngere sieht sich in der Wohnung um und entdeckt ein Klavier in einem miserablen Zustand. Er fragt, ob das Roberts Klavier sei und warum es so verwahrlost aussehe. Onkel Bhau stürzt wütend aus der Wohnung. Der andere folgt ihm und wirft ihm vor, sich in seinem eigenen Selbstmitleid zu suhlen: „Weil ich auch betrunken war, konnte ich nicht anders als laut zu werden: ‚Go and fuck your art…‘“672 Es scheint, als hätte der Alte genau diese harsche Zurechtweisung gebraucht, um sich wieder zu fangen. Onkel Bhau beginnt damit, sauber zu machen und sein verlottertes Äußeres in Form zu bringen. Als seine frisch gewaschenen Haare im Wind des Ventilators wehen, scheint die Verwandlung komplett: „Er schüttelte sein Haar nach hinten und guckte mich fest an, ‚Kumpel, du bist ein wirklich weiser Mann. Ich bin neidisch auf dein inneres Gleichgewicht.‘ ‚Ich bin halt der Sohn eines Kaufmanns‘, erwiderte ich lachend […].‍“673
Bald kehrt Onkel Bhau noch einmal in die Vergangenheit zurück. Bis auf Nitin Mehta stellte sich keiner der Musiker auf die Veränderungen in der Musikindustrie ein, weil sie sich zu sehr auf ihr Können verließen. Dabei wurde diese Eitelkeit zum Verhängnis für viele hochkarätige Künstler, die anfingen zu trinken und bald keinen Fuß mehr auf den Boden bekamen.674 Er schildert, wie sehr Robert an der Flasche hing und selbst ihm gegenüber immer aggressiver wurde. Eines Abends hatte ihn Robert in einen Club gezerrt, in dem poppige Diskomusik lief, die Roberts Erzfeind, Nitin Mehta, komponiert hatte. Die Songs waren eine eklektische Mischung aus Stevie Wonders und indischer Folklore.675 Zu allem Überfluss entpuppte sich ein Mädchen, das unter den lüsternen Blicken der umstehenden Männer ekstatisch zum Techno-Beat tanzte, als Roberts Tochter.
Nachdem Onkel Bhau ihm von dieser Begebenheit erzählt hat, fahren sie zum Friedhof. Dort packt der Alte eine Flasche Peter Scott aus und gießt den Whiskey in das Saxophon, bis er sich aus allen Öffnungen auf das Grab ergießt. Dann schmeißt er die Flasche in hohem Bogen weg und beginnt zu spielen: „Nach kürzester Zeit wurde mir klar, dass er nicht einfach nur spielte, sondern dass er vielmehr den Heißhunger in seinen Lungen mit einer Melodie, die auf dem Friedhof umherirrt, oder mit den blutbesudelten Erinnerungen vergangener Tage zu stillen versuchte.‍“676
Nach dem Spiel ist Onkel Bhau völlig außer Atem: „Ich spüre nur, dass mit jedem mal Pusten etwas in mir wegschmilzt.‍“677 Der junge Freund rät ihm, an seiner Atemtechnik zu arbeiten, damit er das Instrument wieder beherrsche und nicht umgekehrt. Der Alte fasst Mut und die Geschichte endet so:
Zwar war alles an der Stadt genau noch so unerbittlich und vulgär wie zuvor, aber jetzt spürte er wenig Verlangen, in irgendeine Sache verwickelt zu werden oder sonstwas umkrempeln zu wollen. Seine Entschlossenheit tröstete mich ein bisschen. Als ich von ihm Abschied nahm, war ich zuversichtlich, dass er ohne Probleme nach Hause finden würde.678
Das versöhnliche Ende kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die goldene Ära, in der ‚ehrlich‘ produzierte Filmmusik noch die „Seelenlandschaft der indischen Nation ausgelotet“679 hat, der Vergangenheit angehört. Interessant ist, dass diese ‚authentische‘ Musik nicht in einer hermetisch abgeschlossenen Sphäre gediehen ist, sondern sich ganz wesentlich im Austausch mit amerikanischen Musikrichtungen wie dem Jazz entwickelt hat. So ist das Saxophon innerhalb kürzester Zeit in die kosmopolitische Musikszene integriert worden. Die Bruchlinie zwischen dem Eigenen und dem Fremden verläuft in dieser Geschichte zwischen Kunst und Kommerz. Während der Saxophonist Onkel Bhau und seine Musikerfreunde nach der Unabhängigkeit in ihrer künstlerischen Zusammenarbeit eine solidarische Kreativeinheit bilden, so der Tenor der Geschichte, hält mit der Einführung elektronischer Instrumente (Keyboard) und kommerziellem Synthy-Pop ein anderes, egoistischeres Ethos Einzug in die Musikindustrie. Der frühere Wegbegleiter Nitin Mehta hat sich als Einziger der Gruppe die neuen Produktions- und Vermarktungstechniken zu eigen gemacht und die ehemaligen Freunde um deren geistiges Eigentum betrogen. Mit immer wieder neu zusammengeschnittenen Tonspuren produziert er in Endlosschleife einen billigen Mischmasch aus indischer Folklore und global durchgenudelten Beats.
Ähnlich wie in Bharatis „Stadtfreund“ wird ein künstlerisches Medium zum Resonanzkörper nationaler Befindlichkeiten. Bei Bharati ist es der vidūṣaka, bei Rupra sind es die Musiker, die nach der Unabhängigkeit Filmmusik komponierten. Globale Kommerzialisierung und Technisierung sind Themen, die bereits in den Texten der 1980er Jahre, also vor der Liberalisierungsphase 1991, anklingen und bei Bhatiya in „Bis zur nächsten Finsternis“ dystopisch zugespitzt werden. Auffällig ist, dass diese äußeren Einflüsse in Form von Maschinen (Keyboard), neuer Technologie und den Mechanismen globaler Marktwirtschaft in den Augen der Protagonisten als ‚unauthentisch‘ oder gar als Betrug empfunden werden.680 Der in den besprochenen Werken geäußerte Fortschrittsskeptizismus reflektiert zum einen postkoloniale und subalterne Deutungsmuster, die in der Angst vor Fremdbeherrschung und der Ablehnung gegenüber dem kapitalistischen System zum Ausdruck kommen. Zum anderen spricht daraus eine konservativ-kritische Sichtweisen der Autorinnen und Autoren. Die Sorge vor kultureller Überformung und der Aushöhlung „eigener“ Werte, die der Kapitalismus- und Technologiekritik zugrunde liegt, ist ein Symptom für den postkolonialen Selbstfindungsprozess, an dem die Hindi-Stadtliteratur entscheidend mitwirkt. Solche konservativen bzw. zivilisationskritischen Positionen tragen in ihrer bewahrenden, stabilisierenden Funktion dazu bei, dass die von Gandhi, Nehru und Ambedkar angestoßenen Debatten über Moderne, Nation und kulturelle Identität fortgeführt werden.
3.5 Zwischenfazit
Auf dem Weg in die postkoloniale Moderne bildeten Debatten um Modernität, Urbanität und Fortschritt eine Konstante in der Hindi-Stadtliteratur. Der Elan der jungen Nation, die unter Nehrus Losung unity in diversity stand, zeigte in den 1970er Jahren sichtliche Ermüdungserscheinungen. Vor allem die autokratische Herrschaft von Nehrus Tochter, Indira Gandhi, während des Ausnahmezustands von 1975-77 zeigte die Grenzen des demokratischen Systems in Indien angesichts der ungeheuren Vielfalt und der riesigen Entwicklungsunterschiede innerhalb des Landes auf. In der Stadtliteratur dieser Umbruchs- und Krisenzeit findet vor allem die hohe Arbeitslosigkeit unter Akademikern einen Niederschlag. Die sozialkritischen Kurzgeschichten und Romane aus dieser Zeit verarbeiten – mehr noch als die Enttäuschung über politische Sackgassen – ein unerfüllt gebliebenes Aufstiegsversprechen. Die Stadt bietet nun nicht länger Platz für alle und Bildung oder berufliche Qualifikation stellen sich, wie in Bhatiyas „Deadline“, oftmals nicht mehr als passender Schlüssel zu Glück und Erfolg heraus.
So spitzte sich in dieser Zeit auch die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv in der Großstadt weiter zu. Die Frage nach dem „Wir“ schloss zunehmend die Frage nach dem imaginierten „Eigenen“ in Abgrenzung zu einem „Fremden“ ein. Diese Unterscheidung gewann ihre Schärfe auch aus dem historisch gespaltenen Verhältnis der noch jungen indischen Nation zu ihren Städten, da die Urbanität der Städte des 20. Jahrhunderts sich zu einem großen Teil aus der kolonialen Vergangenheit ableitete: Bombay und Kalkutta wurden im frühen 17. Jahrhundert als Stützpunkte der East India Company ausgebaut (Bombay) oder überhaupt erst gegründet (Kalkutta). Ihre Entstehung war durch den globalen Handel und die koloniale Herrschaft untrennbar mit fremden Einflüssen verwoben, wobei sich dieses Narrativ erst durch Gandhis vehemente Kritik an der modernen Stadt als Ort (zerstörerischer) westlicher Einflüsse verfestigt haben dürfte. Tatsächlich bereiteten Kalkutta und Bombay mit ihren intellektuellen und ökonomischen Netzwerken aus Bildungsinstitutionen, finanzstarken indischen Unternehmer-Mäzenen wie Birla und Tata sowie der einheimischen Bildungsschicht ja überhaupt erst den Boden, auf dem zuerst sozio-religiöse Reformbestrebungen und schließlich die indische Unabhängigkeitsbewegung gedeihen konnten.681
Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele haben daher vor allem gezeigt, dass die Großstadt in der Hindi-Literatur der postkolonialen Periode eine ambivalente Position zwischen Ost und West, ‚modernen‘ Entwicklungen und – angeblichen oder tatsächlichen – traditionellen Weltbildern und Praktiken einnimmt. Vor allem Mumbai (Bombay) steht im Zentrum, wenn sowohl die Chancen als auch die Konflikte zur Sprache kommen, die im Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem entstehen, und wenn einzelne Autoren um kulturelle Authentizität ringen. So imaginiert Rajendra Awasthi Anfang der 1970er in der Erzählung „Die kranke Stadt“ eine Utopie vom „Ich im Wir“, in der sich der Einzelne – unabhängig von Herkunft, Alter und Geschlecht – frei entfalten kann und sich zugleich mit Anderen verbunden weiß. In Bhatiyas Science-Fiction-Erzählung „Bis zur nächsten Finsternis“ vereint eine Untergrundgemeinschaft Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion. In beiden Fällen liefert Mumbai (Bombay) die Folie, vor der sowohl Experimente mit freiheitlichen Formen des Zusammenlebens als auch ein Horrorszenario totaler Überwachung durchgespielt werden. Insgesamt überwiegt in der Mehrheit der untersuchten Texte das Unbehagen gegenüber modernen Entwicklungen: Anonymität und Isolation des Einzelnen in der ‚Maschine‘ Stadt sind für viele Autorinnen und Autoren vor allem das Ergebnis eines ungezügelten Marktkapitalismus. Einige Beispiele aus späteren Jahren, bis weit in die 1990er Jahre hinein, reflektieren schließlich Überfremdungsängste vor dem schädlichen Einfluss der Technisierung und des globalen Kapitalismus. Z. B. Manoj Rupras Erzählung „Unstrument“, in der hochqualifizierte Musiker durch elektronische Instrumente und skrupellose Musikbosse in den Ruin getrieben werden. Jitendra Bhatiya entwirft in „Bis zur nächsten Finsternis“ ein noch düstereres Szenario, in dem Mumbai (Bombay) und seinen Bewohnern in einem globalen Krieg jede Menschlichkeit und kulturelle Eigenheit abhandenkommt.
Anhand dieser Beispiele könnte der Eindruck entstehen, Hindi-sprachige Stadtliteratur sei vor allem ein Ausdrucksmittel konservativer Autorinnen und Autoren. Und tatsächlich drängt sich z.B. bei Bharati der Eindruck auf, dass fortschrittliche Einstellungen eher als rhetorische Kontrastfolie dienen, um die Kritik an westlichen Moden stärker hervortreten zu lassen. Zweifellos sind viele Geschichten vor allem aus den 1970er, 80er und 90er Jahren von einem kulturpessimistischen, konservativen Ethos geprägt. Doch eine pauschale Abwertung dieser Literatur als rückwärtsgewandt würde zu kurz greifen. In den Werken kommt es nämlich zu einer eigentümlichen Verschmelzung konservativer und (neo)marxistischer Ideen: Das Ideal gesellschaftlicher Einheit und Zusammenhalts und die Kritik an den diese Einheit gefährdenden Entwicklungen des globalen Kapitalismus sind, wie bei Bhatiya oder Rupra, eng miteinander verzahnt. Damit schlägt die Hindi-Stadtliteratur eine Brücke zwischen nationalistischen, postkolonialen und marxistischen Diskursen. Sie eröffnet einen Raum, in dem Literatinnen und Literaten koloniale Erfahrungen kritisch reflektieren und so nicht nur ihre Gegenwart neu interpretieren, sondern auch alternative, mitunter mehrdeutige Interpretationen postkolonialer Narrative entwickeln können. Besonders anschaulich zeigt das Swadesh Bharatis Kalkutta-Roman „Der Stadtfreund“, in dem die ehemalige Hauptstadt Britisch Indiens selbst zur handelnden Person wird und die postkolonialen Ordnungsmaximen Subjekt vs. Objekt, eigen vs. fremd kurzerhand umdreht. Dass sich die Autorinnen und Autoren an den Deutungsmustern der postkolonialen Theorieschule reiben oder diese mit alternativen Narrativen aufbrechen, lässt sich auch an dem Saxophonisten in Rupras Erzählung „Unstrument“ nachvollziehen. Er steht zwar für eine ‚authentische‘, noch nicht durchkommerzialisierte Musikszene, aber das Saxophon wird im Unterschied zum Synthesizer nicht als fremd wahrgenommen. Im Gegenteil, die Erzählung schlägt den kosmopolitischen Grundakkord an, der in Texten über Mumbai bzw. Bombay immer wieder zum Klingen kommt (Kapitel 1). Die Kritik richtet sich bei Rupra daher weniger gegen die Integration ‚fremder‘ Elemente in eine einheimische Kunstform als vielmehr dagegen, dass der Künstler durch unechte, automatisierte Technik und neue Vermarktungsstrategien von seinem geistigen Eigentum abgeschnitten wird.
Eine solche Kritik an scheinbar fremden Einflüssen, moderner Technik und fortschreitendem Kapitalismus trägt Züge einer Weltanschauung, die man als „(neo)marxistischen Konservatismus“ bezeichnen könnte. Sie speist sich zum einen aus der tiefen Skepsis gegenüber einer zunehmenden Einverleibung der Kunst durch den Markt. Zum anderen beinhaltet sie die Überzeugung, dass das Eigene (in Form traditioneller Werte, Erfahrungen und Praktiken) gegenüber schädlich empfundener kultureller und technischer Überfremdung bewahrt werden müsse. Doch unter der Oberfläche dieser vermeintlich simplen, moralisierenden Kritik tut sich ein Raum für philosophische Überlegungen und experimentelle Gedankenspiele auf. Aus einigen Texten, etwa Awasthis „Die kranke Stadt“, lässt sich die Sehnsucht nach einer idealen Einheit von Gemeinschaft und Gesellschaft ableiten, die sich nicht nur aus humanistischen und liberalen Idealen speist, sondern an einheimische Denktraditionen wie dem Advaita Vedānta, eine hinduistische Weltanschauungslehre des 7. bis 8. Jahrhunderts, anknüpft. Hindi-Stadtliteratur war also auch in der Blütezeit postkolonialer Theoriebildung in den 1980er und 90er Jahren kein bloßer Echoraum globaler Diskurse. Vorstellungen von Urbanität und Stadtgesellschaft bleiben vielmehr auf konkrete individuelle Erfahrungen in lokalen Lebenswelten bezogen. Und mit Rückgriffen auf Denkfiguren wie den vidūṣaka oder die drei guṇas verankerten Autoren wie Bharati moderne urbane Erfahrung auch in älteren regionalsprachlichen Wissenstraditionen und Deutungsmustern des Subkontinents. Dass auch manche indische Subalterns der zweiten Generation, wie etwa Makarand Paranjape im bereits zitierten „Debating the Post-Condition in India. Critical Vernaculars, Unauthorized Modernities, Post-Colonial Contentions“ (2018) inzwischen eher national-konservative Projekte verfolgen, zeigt, wie weit eine solche Verschmelzung von neomarxistischem und neonationalem Denken im Zeichen eines unreflektierten Kulturalismus gehen kann.
Insgesamt schlägt die kritische Hindi-Stadtliteratur aber seit den 2000er Jahren eher die Richtung einer Befragung von konkreten Vorstellungen und Praktiken städtischer und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit ein. Daraus entstehen nun zunehmend Werke, die aus unterschiedlichen Perspektiven die normative, verfassungsrechtliche Definition von Staatsbürgerschaft hinterfragen und von der Wirksamkeit (vordemokratischer) exklusiver Auslegungen von städtischer und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit erzählen. Um diese Texte und das nach wie vor schwierige Verhältnis der Hindi-sprachigen Literatur zu den Idealvorstellungen von Bürgerschaft und Nation soll es im folgenden Kapitel gehen.
3. Urbane Utopien zwischen nationalem Einheitsideal und postkolonialer Kritik (1970-2000)
3.1 Gescheiterte Moderne? Hindi-Stadtliteratur als kritischer Diskursraum
3.2 Im Dschungel der Großstadt: Zivilisationskritische Erzählungen
3.3 (Alb)Traum Bombay: Utopische Erzählungen
3.4 Stadtschreiber der Nation: Auf der Suche nach dem postkolonialen Selbst
3.5 Zwischenfazit