Typesetting
Mythos und Moloch. Die Metropole in der modernen Hindi-Literatur (ca. 1970-2010)
20 Nov 2020
4. Von Bürgern und Fremden: Städtische Zugehörigkeit und Identität (seit 2000)
4.1 nāgarik'tā: Eine begriffsgeschichtliche Annäherung
„Guru, so heißt hier die Bürgerschaft beim Nachnamen.‍“ (guru yahāṁ kī nāgarik'tā kā ‚sar'nem‘ hai).682 Dieser Satz steht auf der zweiten Seite von Kashinath Singhs Varanasi-Roman „Mohalla Assi“ (kāśī kā assī),683 in dem die „Biodaten“ der Nachbarschaft Assi und seiner Bewohner umrissen werden. Bereits die eigenwillige Kombination aus dem ur-indischen Guru, dem englischen surname und der schwer übertragbaren nāgarik'tā, etwa: Bürgerschaft, vermittelt die Vorstellung von einer spezifisch lokalen, innerstädtischen Lebenswelt, in der sich Traditionsbewusstsein und Kollektivismus mit einem kosmopolitischen Einschlag verbinden.
Dieses Beispiel veranschaulicht den Spagat, den nāgarik'tā hier zwischen traditionellen und modernen Lebensbereichen und Bedeutungskontexten leistet. Der Begriff taucht sporadisch in Werken v.a. der Nullerjahre auf und ist eng an die Thematisierung von Zugehörigkeit zur städtischen Gesellschaft geknüpft. In den Jahren um die Jahrtausendwende ist eine Perspektivverschiebung in der literarischen Wahrnehmung von Urbanität zu beobachten, die sich im vermehrten Auftreten der Begriffe nāgarik'tā und nāgarik (Städter, Bürger) niederschlägt. Zugehörigkeit wird nicht, wie in der Nayī Kahānī und der sozialkritischen Erzählung, als individuelles Problem oder im Kontext gesellschaftlicher Utopien behandelt, sondern im Rahmen bürgerschaftlicher Teilhabe.
Das Hauptaugenmerk der Analyse in diesem Kapitel liegt auf zwei Prosatexten, die beide 2002 zuerst veröffentlicht wurden. Sie zeigen exemplarisch zwei (Erzähl)Perspektiven auf, aus denen Hindi-Autorinnen und Autoren städtische Zugehörigkeit und Teilhabe in den Blick nehmen: Kashinath Singhs Episodenroman „Mohalla Assi“ und Uday Prakashs Erzählung „Die Mauern von Delhi“ (dillī kī dīvār).684 Ganz schematisch lassen sich diese zwei Blickwinkel auf Bürgerschaft (nāgarik'tā) danach unterscheiden, ob städtische Zugehörigkeit vom Zentrum oder von der Peripherie aus betrachtet wird. Auf der einen Seite erzeugt Singhs Roman durch die „Insider“-Perspektive den Eindruck einer hermetischen traditionellen Lebenswelt in den Gassen eines Viertels in Banaras (Varanasi). Der Autor beschreibt, wie seine Bewohner angesichts massiver Einflüsse von außen um den Kern ihrer Identität ringen. Auf der anderen Seite erzählt Prakash aus Sicht eines Außenseiters vom sozialen Gefälle zwischen der ökonomischen Elite und informellen Lohnarbeitern. Während Singh also in Gesprächen und Geschichten das Bild einer gewachsenen und homogenen Bürgerschaft entstehen lässt, führt Prakash den Leser in „Die Mauern von Delhi“ in die dezidiert nicht-bürgerliche (anāgarik) Lebenswelt der Delhier Randgruppen, von Tagelöhnern, Bettlern und fliegenden Händlern.
Zum anderen unterscheiden sich die Schauplätze hinsichtlich ihrer ganz unterschiedlichen Ausformung von Stadt: Die Hauptstadt Neu-Delhi ist mit ihren 26 Millionen Einwohnern die größte Megastadt Indiens und aufstrebende „world class city“,685 ein Begriff, der mitunter stärker die Visionen von Stadtplanern und Politikern widerspiegelt als die tatsächliche, etwa wirtschaftliche, Bedeutung im Vergleich zu anderen Weltstädten. Als Kontrastfolie wird Banaras herangezogen, um städtische Zugehörigkeit in einer ‚Provinzstadt‘ zu beleuchten. Banaras zählt zu den heiligen Städten des Hinduismus. Mit „nur“ anderthalb Million Einwohnern686 kann die Stadt für südasiatische Verhältnisse, rein größenmäßig, freilich nicht als Megastadt gelten. Doch seit dem 19. Jahrhundert ist sie ein wichtiges Zentrum für (hindu-)nationalistische Bewegungen und gilt bis heute aufgrund ihrer historischen und religiösen Bedeutung als eine Hochburg für politische Aktionen und Parteiaktivitäten.687 Politische Führer von Parteien oder Vereinigungen wie der BJP und Hindu Vishwa Parishad nutzen die strategische Lage der Stadt im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh und dem (Hindi-sprachigen) cow-belt sowie ihre symbolische Strahlkraft als Wiege hinduistischer Kultur z.B. bei Wahlkämpfen. Als „heilige Stadt am Ganges“ hat sich Banaras längst auch einen Namen über Indien hinaus gemacht: Seit den 1960er Jahren ist sie ein beliebtes Ziel ausländischer Touristen und Studenten.
Wegen Banaras’ historischer, religiöser und politischer Bedeutung ist ein Vergleich mit der Hauptstadt Neu-Delhi also trotz des Größenunterschieds durchaus sinn- und reizvoll. Denn während Banaras das Image der traditionellen, „ewigen“ (hinduistischen) Kultur anhaftet, steht Delhi für die Zentrale der indischen Demokratie und für den wirtschaftlichen Aufschwung der 1990er Jahre, in Folge dessen sich eine ‚indisierte‘ Ausprägung nordamerikanischer Konsumkultur und urbanen Lifestyles herausbildete.688
Ziel dieses Kapitels ist es, vor diesem Hintergrund ganz unterschiedlicher urbaner Schauplätze das Bedeutungsspektrum und die Verwendung des Begriffs nāgarik'tā in zeitgenössischen Werken auszutarieren und ihn auf seine Praxistauglichkeit hin abzuklopfen: Was verstehen die Autorinnen und Autoren unter nāgarik'tā und nāgarik? An welche einheimischen historischen Modelle von „Städtertum“ oder Bürgerschaft knüpfen sie an? Eine semantische Taxonomie seiner Verwendung und Bedeutung in der Hindi-sprachigen Literatur der Nullerjahre erweist sich deshalb als aufschlussreich, da die Autorinnen und Autoren mitunter einen Bedeutungsrahmen anlegen, der sich nicht immer mit der nominellen Bedeutung von Bürgerschaft (nāgarik'tā) deckt. Innerhalb dieses Rahmens werden das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgelotet, sowie aktuelle Entwicklungen reflektiert und die Maßstäbe, an denen sich städtische oder bürgerschaftliche Zugehörigkeit bemisst, hinterfragt. Hindi-Stadtliteratur ist ein Medium, das die Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen durch den Gebrauch der „Volkssprache“ ermöglicht, etwa wenn es um die Formation städtischer Identität und Gemeinschaft geht.
Gegenwärtige Narrative über nāgarik'tā bewegen sich in einem Spannungsfeld. Es entsteht aus der Diskrepanz des modernen, verfassungsrechtlichen Verständnisses von (Staats-)Bürgerschaft und älteren Bedeutungen des Ausgangswortes nāgarik (Hindi) oder nāgaraka (Skt.), das sowohl einen kultivierten Lebensstil als auch einen elitären Status bezeichnet. Die Gründe für die Spannung zwischen inklusiven und exklusiven Vorstellungen von städtischer und bürgerschaftlicher Zugehörigkeit (nāgarik'tā) sind vor allem auf drei Bedeutungsstränge zurückzuführen, die parallel nebeneinander herlaufen, wie ein kurzer etymologischer Abriss verdeutlichen soll. Das Abstraktnomen, das sich aus nāgarik („Städter“, „urban“, „zivilisiert“), und dem Suffix -‍ („-‍sein“, „-‍heit“, „-‍tum“), zusammensetzt, bewegt sich in einem breiten Bedeutungsspektrum zwischen Staatsbürgerschaft und Bürgertum. Es umfasst unter dem Sammelbegriff Urbanität städtische Qualitäten, allen voran eine kultivierte Lebensweise, aber auch die Fähigkeit, gescheit oder gewieft zu handeln.689 In seiner Grundbedeutung bezeichnet nāgarik erstens einen Stadtbewohner, der bestimmte Kulturtechniken beherrscht, die ihn vom rustikalen Dörfler unterscheiden. Zweitens schwingt in der älteren Bedeutung von nāgaraka ein exklusiver Status qua Geburt mit, der mit einem kultivierten Lebensstil verbunden ist. In der indischen Verfassung steht der Neologismus drittens synonym für citizenship, was demokratische Teilhabe und einen Rechtsstatus beinhaltet.690 In diese verfassungsrechtliche Bedeutung sind wiederum zwei europäische Modelle von (Staats)Bürgerschaft eingegangen, die auch in der literarischen Bearbeitung ihren Niederschlag finden: Das griechische Modell hebt den ideellen Wert von Bürgerschaft als Praxis hervor, die eine gemeinsame Identität und gemeinschaftlichen Zusammenhalt schafft. Das römische Modell bezeichnet hingegen einen rechtlichen Status.691
Während es sich bei nāgarik'tā um eine Wortneuschöpfung zu handeln scheint, begegnet uns der nāgarik bzw. nāgaraka bereits in altindischen Texten wie dem Kāmāsūtra. Dort wird beschrieben, wie der „man-about-town“ das Dasein eines altindischen Playboys führte, wie Doninger und Kakar in einer Fußnote anmerken:
The man-about-town (nagaraka) is literally a man who lives in a city (a nagar), but the term designates a sophisticated connoisseur of the good life in general, of pleasure in particular, and of sex even more particularly. In our day, he would be called a playboy. He lives all by himself – which is very strange in India, where people are always connected to their families – and is rich. He has no caste, and V[atsyayana] does not even refer to his class, though Y[ashodhara]’s gloss on this passage interprets the four sources of his wealth in terms of the four classes.692
Die deutsche Übertragung „Lebemann“693 trifft vielleicht etwas nüchterner, aber umfassender auf das zu, was einen nāgaraka über seine sexuellen Ambitionen hinaus charakterisiert. Das erste Buch des berühmten Erotiklehrbuchs behandelt einführend die drei Lebensziele (artha, kāmā, dharma), die ein männliches Mitglied der höfischen Gesellschaft in der Zeit etwa des dritten Jahrhunderts n.Chr. idealerweise zu befolgen hatte.694 Das Kāmāsūtra ist daher als lebensphilosophisches Lehrbuch zu verstehen, das nicht nur Anleitung zur guten Lebensart ist, sondern auch die Anwendung von Machttricks beinhaltet (wie es in „gewieft“ zum Ausdruck kommt). Der Historiker A. Ghosh setzt in seinem Überblickskapitel zu „The City in Literature“ die Beschreibung des kultivierten, vermögenden Städters bei Vatsyayana, nāgaraka, mit dem englischen citizen gleich.695 Bei Kautilya bekleidet der nāgaraka laut Ghosh das Amt eines royal officers, womit neben der politischen Funktion, ähnlich wie bei Vatsyayana, auch ein gehobener ökonomischer Status verbunden war.696 In Kalidasas berühmtem Drama Śakuntalā aus dem 4. Jahrhundert n.Chr. tritt ebenfalls ein nāgaraka in Funktion eines städtischen Oberwachtmeisters auf.697 Die Wurzeln des Wortes reichen also bis in die klassischen Sanskrit-Quellen zurück und kennzeichnen einen rechtlich, ökonomisch und sozial prädestinierten Stadtbewohner: Bei Kautiliya und Kalidasa hat der nāgaraka etwa ein hohes Verwaltungsamt inne. Der Status des Städters bemisst sich also zum einen an seinem politischen Amt, wie wir es aus dem römisch-antiken Modell von Bürgerschaft kennen.698 Darüber hinaus kann das Leben des nāgaraka auch eine exklusive, kultivierte Lebensart (urbanitas) beinhalten, wie in Vatsyayanas Kāmāsūtra beschrieben.
Vergleiche mit in der Antike wurzelnden europäischen Modellen wie Bürgerschaft oder urbanitas verlangen nach einer begriffsgeschichtlichen Problematisierung. Können bzw. dürfen wir angesichts der unterschiedlichen kulturellen, historischen und sozialen Voraussetzungen der nāgarik'tā zum Beispiel einfach das „Bürgertum“ überstülpen? Die Scheu dürfte von der Sorge herrühren, angesichts des begriffsgeschichtlichen Ballasts von „Bürger“ einer eurozentrischen Deutung anheim zu fallen.699 In ihrer 2008 veröffentlichten Monographie „Bürger mit Turban“700 schlägt die Historikerin Margrit Pernau einen begriffsgeschichtlichen Ansatz vor, um das Aufkommen eines feudalen muslimischen Bildungsbürgertums im Delhi des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Pernau leistet mit ihrer umfangreichen Quellenstudie auch einen Beitrag zur Verflechtungsgeschichte: Sie plädiert dafür, „das Fremde aus seinem eigenen Bedeutungshorizont zu erklären“,701 wobei historische Begriffe wie Bürgertum und Öffentlichkeit für außereuropäische Konzepte – im indo-muslimischen Kontext etwa ashraf – geöffnet werden sollten. Pernaus Herangehensweise dient der vorliegenden Untersuchung des Begriffs als Orientierung. Da es jedoch keine standardisierte Einheitsübersetzung von nāgarik'tā und nāgarik geben kann und die kulturelle Eigenständigkeit im Ansatz bewahrt bleiben soll, läuft der einheimische Begriff stets in Klammern mit.
Diesen begriffstheoretischen und forschungsgeschichtlichen Überlegungen liegt die epistemologische Fragestellung zugrunde, inwiefern Konzepte und Visionen von Bürgertum oder urbanitas/civitas (für nāgarik'tā) – betrachtet man sie als Ausdruck für das urbane Ethos702 – Auskunft über Identitätsdiskurse geben können: Wie wird städtische Identität in einer lokalen, regionalsprachlichen Öffentlichkeit verhandelt? Wie vollzieht sich die literarische Konstruktion von städtischer Identität in Wechselwirkung und Abgrenzung zur normativen Auslegung von (Staats-)Bürgerschaft? Und aus welchen Gründen wird wer zur Stadt bzw. zur Gemeinschaft der Bürger als zugehörig erachtet oder nicht?
Gerade angesichts der seit den frühen 1990er Jahren zunehmenden globalen kulturellen und ökonomischen Vernetzung, die einerseits die Forderung nach einem weltumspannenden Bürgertum laut werden ließ,703 und andererseits sozio-ökonomische Ungerechtigkeitsverhältnisse verschärfte, soll untersucht werden, welches Verständnis von Bürgerschaft und städtischer Identität Singh und Prakash vermitteln. In beiden Erzählungen treten große Widersprüche hinsichtlich der Deutung von Bürgerschaft und städtischer Zugehörigkeit zutage: Bei Singh fühlen sich die Bewohner des Altstadtviertels Assi in Banaras in ihrer traditionellen Lebensweise vom Tourismus bedroht. Sie beanspruchen die Deutungshoheit über „ihr“ Viertel zurück. Pardoxerweise ist es genau dieses Traditionelle und genau diese Lebensart, wegen der so viele Touristen in die Stadt kommen. Prakash legt in seiner Geschichte den Widerspruch offen, der zwischen der nominellen Bedeutung von nāgarik'tā als demokratisches Grundrecht und der praktischen Auslegung als exklusiver Status besteht.
4.2 Innensichten auf Bürgerschaft: Banaras (Varanasi)
4.2.1 Kashinath Singhs „Mohalla Assi“ (2002): Aufbau, Inhalt und Sprache704
Kashinath Singh (geb. 1937) hat mit „Mohalla Assi“ einen vielschichtigen und vielstimmigen Stadtroman geschaffen, der das Klischee von der heiligen Stadt am Ganges auf den Kopf stellt. Singh, Bruder des Literaturkritikers Namwar Singh, veröffentlicht seit den späten 1960er Jahren Kurzgeschichten und Romane und hat viele Jahre als Professor für Hindi-Literatur und -Sprache an der Banaras Hindu University (BHU) in Varanasi gelehrt. Das Buch ist zugleich Erinnerung (saṃsmaraṇ)705 und Milieustudie aus einer dezidiert regionalsprachlichen Perspektive. Unter Einsatz von Umgangssprache, Dialekt und Vulgärausdrücken eröffnet das Buch Einblicke in die lokale Lebenswelt eines Viertels in Varansi (Assi) und seiner Bewohner.706
Heinz Werner Wessler schlägt in seinem Aufsatz „The Grammar of Assi“ vor, das als upanyās klassifizierte Werk über einen Roman im traditionellen Sinn hinaus als Archiv aufzufassen, das den Autor zum Chronisten der lokalsprachlichen städtischen Debattenkultur der 1990er Jahre macht.707 Anekdoten und satirische Portraits von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Stadt, des Bundesstaats und des Landes, darunter Politiker, stadtbekannte Pandits, Künstler, Verleger und der Autor selbst,708 tragen zur Vielstimmigkeit des Texts bei. Der Eindruck der nicht stringenten Erzählweise beruht unter anderem auf der Tatsache, dass die fünf Kapitel des Romans bereits separat in anderen Erzählbänden veröffentlicht worden waren.709 Der erste Teil (dekh tamāśā lak'ṛī kā) wurde sowohl in einem Theaterstück von Arun Pandey inszeniert,710 als auch in der Bollywood-Produktion „Mohalla Assi“, dessen Start für 2015 angesetzt war, jedoch von der Zensurbehörde CBFC immer wieder verschoben werden musste. Stein des Anstoßes war die obszöne Sprache (auch aus dem Mund des Gottes Shiva), weshalb das Censor Board Klage gegen den Produzenten Chandraprakash Dwivedi und Hauptdarsteller Sunny Deol erhob.711 Die Auseinandersetzung mit dem Stoff in mehreren künstlerischen Medien und die hohe Auflagenzahl des Buches lässt auf eine für einen Hindi-Roman ungewöhnlich große Popularität und Rezeption schließen.712
Anstelle einer zentralen Handlung oder eines Protagonisten steht ein Ort im Mittelpunkt des Geschehens: Pappus Teestand an der nördlichsten Kreuzung (caurāhā)713 des „geschichtsträchtigen Mohalla Assi“.714 Wie dem Vorwort zu entnehmen ist, hat Singh sein Werk (kr̥tī) als eine Milieuaufzeichnung angelegt. Er spricht von der „Liveshow dieses Viertels und Teeladens“, die sich aus „Romanen über Romanen und Geschichten über Geschichten“ speise.715 Pappus Laden wird zum Hauptquartier für Künstler, Verleger, Politiker und Bürger (nāgarik),716 wo man über aktuelle Nachrichten und Entwicklungen diskutiert, Informationen austauscht, Gerüchte weiterträgt und einander Beobachtungen der alltäglichen Art mitteilt. Zum Beispiel, wie sich die Größe des Schnurrbartes zur Autorität seines Trägers verhält (anders als erwartet wird Männern mit ansehnlichem Schnauzer nachgesagt, unter dem Pantoffel ihrer Frau zu stehen). Die Protagonisten betrachten die Stelldicheins rund um die Kreuzung von Assi als eine gesellschaftliche Tugend mit langer Tradition.717
Neben Pappus Teebude gehört zur bürgerlichen Öffentlichkeit des Mohalla Assi auch der jährliche Dichterwettstreit (kavi-sammelan). Politische Debattenkultur und Kunst gehen in dieser kulturellen Institution eine Symbiose ein. Politiker machen sich Elemente des Rhetorikwettstreits zunutze, um auf der Straße über dringliche und weniger dringliche Themen zu referieren. Umgekehrt bietet das Format die Möglichkeit, in traditionellen Erzählformen wie Fabeln und Parabeln über politische und gesellschaftliche Entwicklungen vom Leder zu ziehen.718 Indem der Autor den Dichterwettstreit durch die Wiedergabe ganzer Parabeln oder gesungener Gedichtpassagen im letzten Kapitel dokumentiert, verankert der Autor sein Werk sowohl in der lokalen Populärkultur als auch in den nationalen Erzähltraditionen des Subkontinents.
In „The Argumentative Indian“ beurteilt Amartya Sen erzählerische Weitschweifigkeit (prolixity) als ‚typisch indische‘ Eigenschaft, die bereits in den beiden Nationalepen, dem Mahābhārata und Rāmāyaṇa, angelegt sei.719 Obwohl Sens Beobachtung im Zusammenhang mit seiner Meistererzählung über eine jahrtausendealte indische Debattenkultur nicht frei von essentialistischen Deutungsmustern ist, drängen sich doch Parallelen zu Singhs Roman auf. Denn genau diese Erzählelemente – ineinander verschachtelte Sub- und Metageschichten, Parabeln, Anekdoten und Streitgespräche – bilden den Kern von Singhs Chronik. Es geht nicht darum, eine stringente Geschichte zu erzählen, sondern vielmehr, auszutarieren, wie im Zusammentreffen von modernen Entwicklungen und lokalen Befindlichkeiten städtische Identität ausgehandelt wird.
Der Autor konstruiert den spezifisch lokalen Charakter der Stadt durch eine in hohem Maße kodifizierte Sprache, um eine möglichst ‚echte‘ Wiedergabe der Lebenswelt von Assi und Banaras zu erreichen. Der mehrschichtige Effekt einer Collage kommt zum einen durch Rückgriffe auf die brahmanische Lebenswelt und deren religiös-mythische Tradition zustande: Zitate aus dem Mahabharata dienen etwa der allegorischen Untermalung, um Personen des öffentlichen Lebens und ihrer Rolle im tagespolitischen Geschehen zu charakterisieren oder zu karikieren. Eingeflochtene humoristische Sinnsprüche oder Liedzitate in Sanskrit oder einheimischen Volkssprachen wie Hindi und Bhojpuri erweitern den ohnehin schon vielschichtigen Text,720 indem traditionelle Formen mit neuem Inhalt gefüllt werden, und so das narrative Gewebe um eine sprachgeschichtliche Lage bereichern.
Besonders der zweite und dritte Teil des Buchs führen den außenstehenden Leser an die Grenze des Verstehens. Zunächst einmal bergen die episodenhafte Struktur mit den ständigen Sprüngen zwischen Rahmen- und Binnenhandlung, die ineinander verflochtenen Alltagsbegebenheiten, mäandernden Gesprächsströme, Anekdoten und Lebensweisheiten eine große Herausforderung an das Leseverständnis. All diese vielen Erzähllinien, die in ihrer Gesamtschau den Inhalt des Werkes bilden und auf tagespolitische Themen, reale Persönlichkeiten und Events wie den jährlichen Dichterwettstreit verweisen, setzen Insiderwissen voraus. Die Kapitel sind auch in soziolinguistischer Hinsicht sehr anspruchsvoll zu lesen, da neben umgangssprachlicher und dialektaler Rede und Vulgärausdrücken viele Metonymien in die Gespräche einfließen. So werden Wahlkämpfer mit Verweis auf die Käppies, die das jeweilige Parteisymbol tragen, als ṭopiyāṁs bezeichnet. Ein anderes Beispiel ist das Wort lālā, das Angehörige einer Gruppe bezeichnet, die sich aus unterschiedlichen Kasten mit gleichen politischen Zielen zusammensetzt. Neuschöpfungen zeugen vom spielerischen Umgang gerade mit englischen Ausdrücken, zum Beispiel wenn VIP (vī.āī.pī) als PIG (pī.āī.jī) verhohnepiepelt wird.721 Andere Wörter füllen die Assianer mit eigenen Bedeutungen, indem sie etwa die Marke für Damenhygieneartikel stayfree zu „free to stay“, also „immer für einen Schwatz zu haben“, ummünzen.722
Es benötigt daher ein fundiertes kulturelles Hintergrundwissen, um derlei Anspielungen zu verstehen. Dasselbe gilt für den – naturgemäß – sozio-kulturell verankerten Humor, der den satirischen Grundton der Erzählung ausmacht. Der Zugriff auf einer rein intellektuellen Ebene des Verstehens bleibt gerade bei humor- und anspielungsreichen Passagen unzureichend, was beim außenstehenden Leser permanent den Eindruck erweckt, Wortspiele, Witze und mutmaßlich doppelbödige Anspielungen nur halb zu verstehen. Auch dieser Umstand verstärkt den Eindruck der durch und durch lokalen Insiderperspektive auf das Viertel Assi, in dem ein ganz besonderer Lokalpatriotismus gepflegt wird.
4.2.2 Banārasīpan: Im Spannungsfeld von Tradition(alismus) und Tourismus
Kashinath Singh schreibt im Vorwort zur Bühnenversion anerkennend, dass es genau jene Banārasīpan, das Wesen von Banaras, einfange, die im Buch angelegt sei.723 Unter welchen Voraussetzungen kann diese Banārasīpan gedeihen und worüber definiert sie sich? Wenn „Guru der Nachnahme der hiesigen Bürgerschaft“ ist,724 auf wen bezieht sie sich dann? Bereits auf den ersten Seiten des Romans werden die wichtigsten „Charakterzüge“ vorgestellt, die das Viertel ausmachen. Dazu gehört ganz essentiell der Gruß, mit dem jeder, ohne Rücksicht auf Status oder Herkunft, angesprochen wird:
Der Ausruf „Har Har Mahadev“ gefolgt von „zur Fotze“ ist hier die übliche Begrüßung. Ob zum Dichterwettstreit an Holi, oder nach dem Ende der Ausgangssperre, egal, ob es sich um einen Minister handelt, oder ein nacktes Kind, das einem Esel hinterherjagt – bis hin zu hohem Besuch von George Bush, Margaret Thatcher oder Gorbatschow (König Kashi Naresh ausgenommen), allen gilt „Har Har Mahadev…“ Der einzige Unterschied ist, dass der erste Teil etwas Überwindung kostet, während der zweite ganz von allein hinterherflutscht.725
Der Assianer hat die Zeit gepachtet: „Getreu dem Motto ‚Soll mich die Welt doch am Arsch lecken‘ schlendert er in aller Seelenruhe umher: Dieser Gestus ist seine Visitenkarte.‍“726 Satirisch vermittelt der Erzähler die Lebensphilosophie der Bewohner (in Sanskrit): „Ob du dich anstrengst oder nicht, sterben musst du allemal, also wozu sich abrackern?“727 Immer wieder kommen die Bewohner auf die Qualitäten ihrer Lebensweise zu sprechen, die sie in Zeiten des Wandels als schützenswertes Kulturgut auffassen:
„Alle rennen sie wie blöde, aber wohin eigentlich, zur Fotze nochmal? Man könnte denken, alle hätten eine Zündschnur im Arsch. Und guck dir bloß die Gesichter an! Siehst du da auch nur einen Funken Freude? Sag doch mal, Kaushik, früher hatte der Mensch doch einen Schwanz, warum ist der weg? Tiere haben ihn doch auch noch.‍“728
Zeit, Gemütlichkeit und unterhaltende Frotzeleien, so lernt der Leser im Laufe des Buches, sind seit den 1980er Jahren dem zersetzenden Einfluss von Kapitalismus, neoliberaler Marktwirtschaft und Tourismus ausgesetzt. In Stellungnahmen zum Thema Fortschritt und dessen sichtbarstem Symptom, der zwanghaften Schnelligkeit, tut sich besonders Tanni Guru mit schnoddrig vorgetragener Selbstzufriedenheit hervor:
Meinte mal ein Mann zu Tanni Guru, der an der Kante von seinem Laden saß und die Beine baumeln ließ, an den Füßen steckten Gandhi-Latschen: „In welcher Welt lebst du bloß, Guru?! Amerika schickt jeden Tag einen zum Mond und du hast seit einer Stunde nichts Besseres zu tun, als deinen Paan weich zu kauen?“
Mit einem ‚Fatsch‘ spukte der Guru den Paan aus und sagte: „Jetzt merk dir mal eins! Ob Mond oder Sonne, wer zur Fotze was will, soll gefälligst selbst anrücken. Tanni Guru jedenfalls bewegt sich keinen Zentimeter vom Fleck. Kapiert?“729
Das erste Kapitel illustriert, wie Singh sich diesem speziellen Milieu der ‚Assianer‘ nähert, indem er eine satirische Klassifikation der verschiedenen „Arten“ (nasal) von Bewohnern und „Ureinwohnern“ (ādīvāsī) vornimmt und beschreibt, wie sich der Charakter und die Lebensart der Stadt im Laufe der letzten drei, vier Jahrzehnte durch die boomende Tourismusindustrie verändert haben.730 Wie sich die Gallier gegen die Römer behaupten, leisten die Assianer Widerstand gegen die Kolonisierung ihrer Lebenswelt. In Abgrenzung zum „verwestlichten Einheitsbrei“ der Megastädte Mumbai und Delhi vermittelt Singh das Bild eines urban village, das mit einem ganz eigenen obskuren Charme ausgestattet ist, der sie so ‚authentisch‘ erscheinen lässt.
Globale Einflüsse wie der Tourismus und die freie Marktwirtschaft machen sich im Erscheinungsbild bemerkbar, aber auch in der Stadtidentität. Unter den „Biodaten“ von Banaras beschreibt der Autor, wie sich das Erscheinungsbild der Bewohner von Assi unter der zunehmenden Umweltverpestung (pradūṣaṇ) durch die Mode aus Mumbai und Delhi gewandelt hat. Die traditionelle Kleidung, welche aus dem beliebten Allzwecktuch (gam'chā) besteht, das hier jedoch entgegen der üblichen Kleidernorm nicht über der Schulter oder um den Kopf gewickelt getragen wird, sondern als Lendentuch. Umgekehrt hängt der für letzteres eigentlich dafür vorgesehene laṁgoṭ über der Schulter:731 Ein Detail, das einerseits veranschaulicht, wie die Vorstellung von Tradition als ein Ursprünglichkeit vermittelndes, organisch-stabiles Konstrukt ständig satirisch aufgebrochen wird. Andererseits zeugt es auch vom Keim des Widerständigen, mit dem, Martina Löw zufolge, das Örtliche als Ressource für zivilgesellschaftliches Handeln entdeckt oder aber Ausbeutungs- und Opferzuweisungen nach dem Schema global-lokal auf der Seite des Lokalen gedacht werden: „Da nur im Lokalen Widerstand denkbar scheint, wird das Lokale als Dimension sozialer Wirklichkeit aufgerufen, die sich kritisch zu Homogenisierung und Globalisierung verhalten kann […]“.732 Diesem Verständnis zufolge rückt Singh die Lokalität Assi nicht nur als Gegenstand der Erzählung ins Zentrum, sondern erhebt sie zum Nabel der Welt und unangefochtenen Autorität:
Assī is the ‘Aṣṭhādhyāyī’ [Sanskrit grammar of Pāṇini] and Banāras is its ‘Bhāṣya’ [commentary]! For the last 30 to 35 years, Americans, mad from capitalism, come here and want the world to become its ‘ṭīkā’ [sub-commentary] … but would any change ever happen just because you want it to?733
Die Verortung der Stadt im Zentrum der Welt beruht auf einer Vorstellung, wie sie bereits im Kāśīmāhātmya und anderen mythisch-religiösen Texten über Banaras nachzulesen ist.734 Darüber hinaus festigt die Gleichsetzung Assis mit dem Aṣṭhādhyāyī die unangefochtene Autorität des Viertels und seiner Bewohner in der Deutung ihrer „Grammatik“, also ihrer Geschichte, Kultur und Lebensweise, wohingegen die Stadt Banaras und die Amerikaner lediglich Kommentare zu dieser Grammatik beisteuern. Die zahllosen Rückgriffe auf Mythen zielen dabei auf die Sphäre brahmanischer Gelehrsamkeit ab. Mit der Referenz auf lokales, elitäres Wissen und die Volkssprachen Hindi, Bhojpuri und Awadhi vollzieht sich die widerständige Abgrenzung von der globalen Autorität Amerikas. Dabei dient die Umkehrung von Zentrum und Peripherie als Erklärungsmodell, um die Interaktionen zwischen westlichen Besuchern und Stadtbewohnern aus einer alternativen Perspektive zu betrachten: „The basic pun is that ‚America‘ turns into the imagined periphery of Banāras.‍“735 Diese Art der Skalierung, also ein Hineinzoomen in eine topographisch und kulturgeschichtlich zentrale Örtlichkeit im Herzen der Stadt Banaras bewirkt einerseits eine Konzentration auf lokale, regionalsprachliche Sichtweisen und Vorstellungen von städtischem Leben und Alltagsgeschehen in einem räumlich und ideologisch abgesteckten Umfeld.
Doch das Viertel ist kein hermetisch abgeriegelter, sozial, sprachlich und politisch homogener Raum, auch wenn manche Schilderung im Roman das vermuten ließe. Henrike Donner und Geert de Neve erinnern daran, dass „The neighbourhood is a space in-between par excellence, a locality that connects the direct experiences of households and families with their participation in wider networks of city, nation and the world.‍“736 Auch ‚lokale‘ Vorstellungen von Bürgerschaft und städtischer Identität können nicht außerhalb globaler Zusammenhänge gedacht werden:
The neighbourhood is the place in which knowledge and experience of the wider world is articulated, and thus a prime location for the study of culture. Images and values of the wider world become meaningful only when translated into more localised narratives and practices located in such significant places of everyday interaction. It is precisely because of its mediating and translating role that the neighbourhood is an appropriate locale from where to start conceptualising the interconnectedness of places, peoples and cultures in a globalising world.737
Nicht zuletzt übersetzen die Assianer selbst globale Phänomene in ihre Lebenswelt: „Da können diese Wissenschaftler über Globalisierung, Liberalisierung, Multinationalisierung und noch so viele ‚i-sierungen‘ referieren wie sie wollen – ich mach mir meinen eigenen Reim darauf.‍“738 Der Ausspruch stammt von Larheram, auch „Barber Baba“ genannt, da er vor seiner Karriere als weltbekannter Tantriker Friseur in Assi war. Larheram zieht seine eigenen Lehren aus der Globalisierung. Er unterteilt Touristen in zwei Gruppen: Die erste Gruppe sind wohlhabende Touristen und die zweite sind 30 bis 35-jährige Sinnsucher, die in Kurta und Lungi gekleidet am Ghat oder auf den Bürgersteigen ihre Zeit mit Chai und Ganja vertreiben.739 Larherams Theorie ist, dass letztere nicht nur vor Maschinen und Geld aus ihrer Heimat nach Banaras geflüchtet sind. Nein, hier bekämen sie gegen einen erschwinglichen finanziellen Aufwand die Anerkennung und Wertschätzung, die ihnen in ihrer Gesellschaft versagt bleibe: „Hier tun sie sich ausgerechnet mit den kleinen Leuten zusammen! Kann sein, dass es noch andere Gründe gegeben hat, aber fest steht, dass sie weder von den höheren Kasten noch in ihrer Heimat so umsorgt und respektiert worden wären wie von denen.‍“740 Larheram selbst erweist sich im Folgenden als tüchtiger Geschäftsmann, als er zusammen mit seiner Frau Catherine ein Ashram für die Aussteiger und Sinnsucher gründet und seinem Spitznamen, frei übersetzt etwa Ram „Pinkepinke“ Sharma741, alle Ehre macht.
An Stellen wie dieser legt der satirische Erzählduktus das Konstruierte des Banārasī Lokalpatriotismus offen. Gerade in Reaktion auf den Massentourismus und andere globale Einflüsse bilden sich stadtkulturelle Differenzen überhaupt erst heraus.742 Homogenisierung und Heterogenisierung, die Löw als „kulturelle Wirkungen weltweiter Vernetzung“ definiert, schließen sich also nicht zwangsläufig gegenseitig aus, sondern stehen nicht selten in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander.743 Solche widerstreitenden Tendenzen sind es, die den Roman so interessant und anspruchsvoll zu lesen machen: Einerseits etabliert der Erzähler (und die Erzählstruktur selbst) eine „authentische“, gleichsam hermetische Lebenswelt. Andererseits arbeitet er sich mit satirischen Mitteln an dieser vermeintlich ‚traditionellen‘ und ‚lokalen‘ Lebenswelt ab, indem er sie als Produkt einer hausgemachten Vermarktung offenlegt. Der Begriff Tradition ist der Ball, der in diesem ambivalenten Bedeutungsfeld zwischen Ursprünglichkeit und dessen Hinterfragung hin und her gespielt wird.
Davon, wie schmal der Grat zwischen Tradition und Traditionalismus ist, erzählt die dritte Episode mit dem Titel „Das Assi der Heiligen, Unheiligen und Volltrottel“ (santoṃ, asantoṃ aur ghoṃghābasantoṃ kā assī). Sie markiert die zweite Hälfte des Buches, mit der Singh die spannungsvolle Beziehung zwischen Assianern und Ausländern und damit auch die Auswirkungen der Globalisierung auf das Leben der Einheimischen ins Blickfeld rückt. Gleich zu Beginn heißt es, Assighat sei zum Sklaven von Miami verkommen, das Viertel geographisch aufgeteilt zwischen Ausländern, die sich am Ghat aufhielten, und den Einheimischen an der Kreuzung (wo sich auch Pappus Teeladen befindet).
Die Schlüsselszene der Rahmenerzählung befindet sich am Ende des Kapitels. Catherine, Larherams Frau, besucht Pappus Teeladen, um Informationen über Assi für ihr neuestes Buch über Banaras zu erfragen. Im Gespräch lässt sie die anderen wissen, dass Varanasi, wie man es kennt, ihrer Meinung nach dem Untergang geweiht sei. Dieses harte Urteil, noch dazu von einer Zugezogenen, ist der Auslöser für Gaya Singh, die Ausländer und alle, die mit ihnen verdienen, für den Tod der Stadt verantwortlich zu machen. Aus dieser Szene bricht exemplarisch die ganze Spannung zwischen Tradition und Tourismus hervor: Gaya Singh scheint, mehr noch als Catherines forscher Kommentar, der Umstand zu stören, dass sich eine ausländische Frau, noch dazu eine, die fließend Hindi spricht und offenbar über umfangreiches lokalen Wissens verfügt, in den Erinnerungsdiskurs über das Viertel einmischt.744
Seine Klage schwillt zu einer umfassenden Kritik an, die sich gegen Amerika und alles richtet, wofür es steht, allen voran den aggressiven Finanzkapitalismus. Gaya Singh sieht im allgemeinen Kultur- und Werteverfall, der sich im Drogenkonsum, in der Korruption der örtlichen Jugend und in der arroganten Haltung der Ausländer äußert, die Symptome einer ökonomischen und kulturellen Überfremdung. Auf den Einwand des am Gespräch beteiligten Dinbandhus hin, nur die wenigsten Ausländer in der Stadt seien Amerikaner, entgegnet Singh zynisch:
„Die wenigsten?!“ Gaya Singh lachte, „hast du mal registriert, was in den Gassen los ist? Da rollt der Dollar! Dinbandhu, der Dollar ist Amerikas Zunge. Erst leckt sie ein Land nur ab, so zärtlich wie eine Kuh ihr Kalb. Wenn die Haut sich langsam abschält, dir das Fell über die Ohren gezogen wird, und es so richtig schmerzhaft wird, wenn auf der Zunge Widerhaken zu sehen sind und die Kiefer nur so knirschen und knacken, dann dämmert dir langsam, dass diese Zunge keiner Kuh gehört, sondern irgendeinem anderen Tier. Und bevor du’s dich versiehst, hat es ein Land nach dem anderen geschluckt, auch solche wie die Sowjetunion – da ist ein Viertel doch ein Klacks dagegen![“]745
Gaya Singh wirft nebenbei seinen Leuten Selbstgerechtigkeit vor – alle hielten sich und Assi für den Nabel der Welt, dabei hätte keiner im Blick, was vor sich gehe in Banaras. Als Beispiel führt er die vielen falschen Ehen (zum Zwecke der Visa-Verlängerung) und den Verkauf von Häusern an Ausländer an. Er gibt zu bedenken, dass die Globalisierung in Wahrheit ein Prozess sei, der lediglich eine Richtung kenne:
„Also das verstehen wir unter Globalisierung. Die können kommen und gehen wie es ihnen gefällt, und so lange bleiben, wie sie Lust haben, aber wir? Haben wir die Möglichkeit, auch nur ein einziges Mal nach Amerika zu reisen? Unser Zuhause ist ihr Zuhause, aber ihr Zuhause ist nur ihres, da hört die Freundschaft auf. Und, wir haben’s gerade erlebt, ein paar Tage später sagen sie, Assi geht vor die Hunde, gebt’s uns, wir polieren’s auf, dass es nur so blitzt! Morgen kommt Banaras dran, übermorgen kümmern wir uns um Delhi und überübermorgen schaukeln wir das ganze Land. Hinterher weiß man, ob man in Yashodas Schoß gelandet ist oder in Putanas!“746
Die beiden Frauennamen Yashoda und Putana stammen aus der populären Legende über Krishnas Geburt und Säuglingszeit, die unter keinem guten Stern stand, da das Kind Zielscheibe mehrerer (gescheiterter) Mordversuche wurde, wie im Bhāgavatapurāṇa geschildert. Nachdem Krishna vor seinem grausamen Onkel Kamsa in Sicherheit gebracht worden war, wuchs er wohlbehütet bei seinen Zieheltern, dem Hirten Nanda und dessen Frau Yashoda, auf. Im Auftrag von Kamsa bot sich ihnen die Dämonin (rākṣasī) Putana als Amme an, um das Neugeborene mit ihrer vergifteten Milch zu töten. Krishna jedoch saugte mit der Milch auch das Leben aus der Dämonin heraus und trug selber, abgesehen von seiner dunkelblauen Hautfarbe, keine bleibenden Schäden von dem Attentatsversuch davon.
In diesem Zitat aus dem über Jahrhunderte hinweg mündlich überlieferten Mythos drückt sich Gaya Singhs tiefes Misstrauen gegenüber äußeren, zunächst verlockenden Einflüssen aus, ja gar die Angst vor kultureller Unterhöhlung durch neokoloniale Kräfte, versinnbildlicht in der alles verschlingenden amerikanischen Dollar-Zunge. Auch in dem dieser Mahnrede unmittelbar folgenden Gleichnis berichtet Gaya Singh vom Königsspross Kashi Naresh, dessen ausgiebiger Fleischkonsum (māṃs-bhakṣaṇ) gefährliche Züge annahm, als der Prinz auf den Geschmack von Menschenfleisch kam und niemand es wagte, ihm Einhalt zu gebieten.747 Gaya Singh zieht in einem moralischen Fazit Parallelen zur heutigen Situation und konstatiert trocken, dass der menschenfressende Königssohn im aktuellen Zeitalter, dem verdorbenen Kaliyuga, Herrscher von Amerika sei. Die Feiglinge, die damals vor ihm geflohen waren, statt ihn dingfest zu machen, die Bewohner von Assi. Die Kritik am Ausverkauf des Viertels fällt in Gaya Singhs Kritik auf die Bewohner selbst zurück: Schließlich steckt in dieser ernüchternden Aussage die Erkenntnis, dass globale Phänomene wie der Kulturtourismus und Kapitalismus nicht einfach nur „von oben“ oktroyiert, sondern an Orten wie Banaras gerade auch konstituiert werden.748
Auch die vierte Episode des Bandes mit dem Titel „Was hat dich da bloß geritten, Pandey?“ (pāṃḍe kaun kumati toheṃ lagī)749 bietet Einblicke in das gespaltene Verhältnis von Tradition(alismus) und Tourismus. Sie handelt vom Astrologen Shastriji, der nach zähem Ringen seine Frau davon überzeugt, die Französin Madeleine als zahlenden Gast bei sich aufzunehmen und ihr – gegen seine eigenen brahmanischen Prinzipien verstoßend – Unterricht in Sanskrit zu erteilen, wobei die Aussicht auf üppige Einnahmen und ein damit steigender Lebensstandard keine ganz unwichtige Rolle für den jeweiligen Sinneswandel der beiden spielt. Dieser von außen betrachtet scheinbar unproblematische Fall offenbart aus der lokalen Innensicht die Spannungen und Konflikte, die unter der Oberfläche der heiligen Stadt brodeln. Der Keim für diese Spannungen ist, folgt man dem Erzähler, das weit verbreitete paying guest Geschäftsmodell, das den unteren Kasten seit Mitte der 1980er Jahre einen beachtlichen ökonomischen Aufstieg beschert hat.750 Brahmanen, die aus Gründen der Reinhaltung ihrer religiösen Werte und Sitten keine „Barbaren“ (mlecchas) bei sich aufnahmen (und die fleischessenden und verlotterten Ausländer erfüllten alle Kriterien dafür), mussten bald mit ansehen, wie sie ins Hintertreffen gerieten, während die Söhne und Töchter der Fischer und Fährmänner dank der Einkommensquelle Tourismus immer mit den neuesten technischen Geräten und modischen Accessoires aufwarten konnten.
Doch von vorne. Der Konflikt bahnt sich an, als der Brahmane Pandey Dharmnath Shastri und seine Frau mit der Bitte konfrontiert werden, eine Ausländerin bei sich wohnen zu lassen. Eines Tages steht ihr Bekannter Kanni Guru, bei dem es sich um das alter ego des Autors handeln dürfte,751 mit einer jungen Französin vor der Tür, die Sanskrit lernen möchte. Bereits die Wegbeschreibung von der bekannten Kreuzung (caurāhā) zum Haus des Pandits veranschaulicht, wie stark das Altstadtbild von den auf Kulturtourismus zugeschnittenen Herbergen und Aushängeschildern geprägt ist, die mit Turbo-Sprachkursen für A-Grade Pandits werben.752 Statt einer freundlichen Begrüßung entfährt der Hausherrin eine Schimpfsalve, die Kanni Guru anschließend äußerst diplomatisch für die des Hindi nicht mächtigen Madeleine übersetzt:
„Wo gabelt dieser Enkel von einem Mistkerl bloß immer wieder neue Huren auf?!“ polterte die Frau des Pandits los. „Schleich dich, sonst hab ich nur Ärger am Hals.‍“
Die Ausländerin blickte Kanni fragend an.
„Vielen herzlichen Dank, aber wir können nicht bleiben,“ sagte Kanni und machte es der Französin auf seine Art verständlich: „Sie heißt uns willkommen und will, dass wir reinkommen, aber der Herr Gelehrte ist nicht zu Hause. Er ist sicher gerade Mahishasurmardini, Hanuman und Durga einen Besuch abstatten. Very Highclass Devoty!“753
Bei einem nächsten Treffen belächelt Pandey Shastriji Madeleines Wunsch, Sanskrit zu lernen. Schließlich lasse sich die „Stimme der Götter“ (dev'vāṇī) nicht in ein paar Monaten erlernen, sondern erfordere ein gesamtes Leben, auch wenn das die vielen Halsabschneider in Banaras (darunter viele seiner Schüler, wie er offen zugibt), etwas Anderes behaupteten.754 Doch allmählich treten die berufsethischen Bedenken in den Hintergrund. Diese wirken ohnehin recht fadenscheinig; bietet der Pandey laut Aushängeschild doch selbst diese Art von Turbokursen an. Als er offen darüber nachdenkt, auch unter die Gastgeber zu gehen, wirft seine Frau ihm empört Doppelmoral vor.755 Dem Shastriji gelingt es erst, seine Frau umzustimmen, als er die 15.000 Rupien ins Spiel bringt, die sie monatlich verdienen würden.756
In diesem Streitgespräch wird deutlich, unter welchem Druck sich die alten Eliten, Pandits und Priester, sehen. Nicht nur verdienen sie an der Massenware ‚Tradition‘, sie untergraben mit der Demokratisierung und Säkularisierung der heiligen und geheimen Sprache Sanskrit ihre Legitimationsgrundlage – schließlich hatten traditionell nur kleine Kreise von Gelehrten und Priestern Zugang zu dieser Sprache, der ihren Machtstatus an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie sicherte. Bedenkt man, dass Brahmanen seit jeher eine „spirituelle und normative Leitfunktion“757 innehaben, also die höchsten Werte und Verhaltensnormen der Gesellschaft repräsentieren und kontrollieren, erscheint die Aufnahme eines mleccha – noch dazu einer weiße Frau – im Haus eines Brahmanen im Grunde wie eine Kapitulationserklärung an die moderne Zeit. Das Buch zeugt nicht nur von der zerstörerischen Macht der Tourismusindustrie, sondern auch von der sozialen Dynamik, die der Tourismus anstößt. Die Umwälzung der rigiden traditionellen Gesellschaftsordnung durch neue Einnahmequellen (paying guest) bietet sozial benachteiligten Gruppen die Chance zum Aufstieg.
Was zeichnet nāgarik'tā bei Singh schließlich aus? Eine mögliche Lesart hebt das inklusive Verständnis von Bürgerschaft (nāgarik'tā) in Banaras hervor: In der tiefen Skepsis gegenüber den vermeintlichen Segnungen der Moderne, wie Fortschritt und Effizienz, drückt sich die Sorge der Bürger von Assi aus, ihre lokale Lebenswelt gerate unter die Räder der globalen Gleichmacherei. Die guru-Bürgerschaft (nāgarik'tā) von Assi widersetzt sich in ihrem Selbstverständnis der kulturellen Überformung durch Neoliberalismus und Tourismus. Sie pflegen bewusst ihre Banārasipan, also ihre traditionellen Werte, Weltbilder und Praktiken, die dem neoliberalen Denken und Lebensstil entgegenstehen: Zeit und Langsamkeit, nicht zweckgebundene oder zielführende Kommunikation und die Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen. Der vielschichtige Umgang mit Sprache und die Einbindung lokalen Wissens lassen das Bild eines schützenswerten Biotops jenseits touristischer Klischees entstehen.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich der Roman in seiner Stellungnahme zur konfliktträchtigen Beziehung zwischen Lokalem und Globalem jedoch als deutlich differenzierter und ambivalenter. Das unterschwellige Narrativ vom widerständigen Lokalen,758 das sich sowohl in der voraussetzungsreichen Sprache (Dialekt, Umgangs- und Vulgärsprache, Anspielungen, Humor) als auch in der spezifischen Form städtischer Gemeinschaft (Mohalla) manifestiert, wird an mehreren Stellen unterlaufen. Zum einen macht sich das am Begriff der Tradition fest. Tradition ist ein zweischneidiges Schwert, welches das Besondere, das ‚Authentische‘ des Viertels und der Stadt ausmacht und zugleich ein Produkt seiner eigenen Vermarktungsindustrie ist. Zum anderen täuscht der lockere Plauderton und das egalitäre Ethos, das schon zu Beginn des Romans anklingt, über das exklusive Verständnis von Bürgerschaft hinweg. Die nāgariks entstammen einem elitären Milieu aus alteingesessenen, mehrheitlich konservativen Männern aus den traditionell besser gestellten Kasten, die durch den Tourismus an Einfluss und Autorität eingebüßt haben. Schließlich sind es die unteren Kasten, allen voran die Fährmänner, die schon sehr früh ihren Vorteil aus dem Tourismus geschlagen und den Brahmanen in ökonomischer Hinsicht längst den Rang abgelaufen haben. Frauen kommen in der Erzählung nur an zwei Stellen zu Wort; einmal handelt es sich um die bereits lange in Indien lebende Catherine, deren Kommentar über Banaras Tod Gaya Singhs wütende Abrechnung mit den Ausländern zur Folge hat, die er nicht nur für arrogant hält, sondern die er auch für den Untergang des Traditionsviertels mitverantwortlich macht. Die andere weibliche Protagonistin ist die Frau des Pandits, die sich so lange gegen die Idee ihres Mannes sträubt, eine Touristin zu beherbergen, bis letztlich die Aussicht auf eine klingelnde Haushaltskasse alle moralischen Bedenken über Bord wirft. Hinter dieser exklusiven Lesart von Bürgerschaft (nāgarik'tā) bzw. Banārasīpan steht der Versuch der konservativen Mittelschicht, angesichts der sozialen Umwälzungen die Deutungshoheit darüber zu behalten, was die Stadt im Kern ausmacht, wer dazugehört und wer nicht.
Die Thematisierung von Zugehörigkeit wirft im Umkehrschluss immer auch die Frage nach den Exklusionsmechanismen von Bürgerschaft auf. Wo verläuft die Grenze zwischen einem nāgarik und einem anāgarik, jemandem, der in der Stadt lebt und doch nicht dazugehört? Aus welcher Perspektive werden Kategorien wie eigen und fremd vor dem Hintergrund städtischer Zugehörigkeit in der Hindi-Literatur verhandelt?759 Was geschieht, wenn Autoren die Blickrichtung ändern und von außen auf Bürgerschaft schauen?
4.3 Außensichten auf Bürgerschaft: Delhi
4.3.1 Fremd in der eigenen Stadt? Von Außenseitern und ‚Unbürgern‘
In Sara Rais Kurzgeschichte „Amarvallari“ (amar'vallarī) bildet die Mauer um ein verwildertes Grundstück in einer mittelgroßen Stadt die Trennlinie zwischen Zivilem und Unzivilem:
Nachts stieg aus dem Gelände der süße Duft von Haschisch auf. Man konnte glühende Funken sehen, die wie rote Blütenblätter im Wind auseinandertrieben. Jeder wusste doch, dass sich seit Jahr und Tag die Vagabunden und Halunken der Stadt, die Außenseiter der Gesellschaft, abends auf diesem verwahrlosten Gelände mit Spielkarten und billigem Fusel versammelten. Das Würfelspiel florierte. Die rechtschaffenen Bürger aus der Mitte der Gesellschaft rümpften darüber nur die Nase.760
Obwohl Rai nicht auf den Ausdruck nāgarik zurückgreift, bewirkt die ironische Ein- und Begrenzung aus rechtschaffenen Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft (samāj ke hāśie ke andar rah'nevāle sammānya, sajjan log) auf der einen Seite und den Vagabunden und Halunken, den Ausgestoßenen (āvārā aur badmāś, sabhya samāj se niṣkāsit log) auf der anderen doch ihr Übriges. Die Situation dieser Außenseiter mutet auf den ersten Blick paradox an: Sie leben mitten in der Stadt, wenn sie auch keinen festen Wohnsitz (āvārā) haben, und werden wegen ihres nicht regelkonformen Verhaltens (badmāś) nicht als Teil der städtischen Gesellschaft angesehen. Hinter der Vorstellung von Mitte und Rand verbergen sich die Mechanismen von Inklusion und Exklusion, die den Begriff des nāgarik begleiten und mit dem eine soziale und ökonomische Zugehörigkeit verbunden ist.761 Während Rais Geschichte nur einen ungefähren Hinweis gibt, wer sich hinter den Fremden verbirgt, machen andere Beispiele deutlich, dass es sich bei solchen ‚Nichtstädtern‘ häufig um Arbeitsmigranten handelt, die in den Metropolen ihren Lebensunterhalt verdingen.
Das Hauptinteresse der Autorinnen und Autoren, die sich mit diesem Thema befassen, gilt der paradoxen physischen und sozio-ökonomischen Außenseiterexistenz städtischer Arbeitsmigranten. Sie teilen dieses Interesse mit Akademikern wie dem Historiker und Sozialwissenschaftler Partha Chatterjee, der auf die Dichotomie zwischen Bevölkerung (population) und Bürgertum bzw. Zivilgesellschaft (civil society) hingewiesen hat.762 (Nicht-)Zugehörigkeit steht häufig in Verbindung mit der Erfahrung mit Armut. Gagan Gill (geb. 1959) rückt zum Beispiel die Biographie eines Arbeitsmigranten in den Mittelpunkt ihres dokumentarischen Essays „Die Schlaflosen von Delhi“.763 In einem Interview befragt das alter ego der Autorin einen Rikschafahrer zu seiner Lebensgeschichte und dem Alltag auf der Straße. Im Gespräch stellt sich heraus, wie fremd er sich selbst nach vierzehn Jahren in der Hauptstadt fühlt. Sein Alltag spielt sich auf der Straße ab, er schläft in der Rikscha, er isst und wäscht sich am Straßenrand. Als die Interviewerin fragt, warum er sich für das ersparte Geld nicht eine Bleibe in Delhi gesucht hat, antwortet er: „Delhi ist nicht mein Zuhause. Ich denke die ganze Zeit immer nur an mein Dorf. Dort bin ich geboren, dort möchte ich sterben.‍“764 In den vielen Stunden des Wartens grübelt er darüber nach, warum er kein Zuhause hat und „hier auf der Straße herumgestoßen“ wird.
Dass die massenhafte Ausgrenzung und Benachteiligung großer Teile der städtischen Bevölkerung im Widerspruch zu den normativen Ansprüchen von Staatsbürgerschaft (citizenship) steht, beschäftigte auf Hindi-schreibende Schriftstellerinnen und Schriftsteller schon Jahre, bevor das Problem struktureller Ausgrenzung im demokratischen Rechtsstaat Indien die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften erregte.765 Obwohl ohne das Heer informeller Arbeiter die städtische Wirtschaft, Infrastruktur und der Dienstleistungssektor zusammenbrechen würden, lebt und arbeitet ein Großteil der Bevölkerung z.T. jahrzehntelang informell in den urbanen Ballungsräumen.766 Als die Hauptmerkmale des informellen Sektors, der eine unverzichtbare Säule der Wirtschaft bildet und das produzierende Gewerbe, den Bau und Transport einschließt,767 identifiziert Annapurna Shaw eine fehlende rechtliche Absicherung, hohe soziale Unsicherheit und geringe Löhne.768 Informelle Lebens- und Arbeitsbedingungen, die rund drei Viertel der städtischen Bevölkerung betreffen, gehen de facto mit einer Aufweichung von Grundrechten (etwa dem des Schutzes vor Ausbeutung) einher.769 Der Politologe Richard Bellamy zählt die Gründe auf, warum Menschen vom Bürgerstatus ausgeschlossen wurden und werden:
The first component, membership or belonging, concerns who is a citizen. In the past, many have been excluded from within as well as outside the political community. Internal exclusions have included those designated as natural inferiors on racial, gender, or other grounds; or as unqualified due to a lack of property or education; or as disqualified through having committed a crime or become jobless, homeless, or mentally ill.770
Im Vorwort zu „The Politics of Citizenship, Identity and State in South Asia“ machen die Herausgeber auf die systematische Diskriminierung von Arbeitsmigrantinnen und -‍migranten aufmerksam, die sie als klaren Verstoß gegen die in der Verfassung verankerten universalen (Staats)Bürgerrechte werten.771 Der idealistischen Forderung nach einem universalen Konzept von (Staats)Bürgerschaft, der die Autorinnen und Autoren Rechnung tragen wollen,772 folgt eine nüchterne Einschätzung der Ursachen, die die Gewährleistung und Umsetzung der in der Verfassung verbrieften Bürgerrechte in Südasien erschwert oder gar scheitern lassen. Nicht zuletzt seien die große Diversität, die hierarchische Gesellschaftsstruktur, soziale und ökonomische Ungleichheit, Unterentwicklung und politischer Extremismus Gründe, warum (Staats)Bürgerschaft im heutigen Südasien so umkämpft sei.
Wie bereits erwähnt, schließt das Konzept sowohl die staatsbürgerlich-humanistische Tradition ein, die sich auf kulturelle Werte wie Mitbestimmung und Gemeinwohl beruft (und der z.B. Gandhi nahestand), als auch die auf individuellen Rechten basierende neoliberale Tradition, welche z.B. Nehru in seinem Glauben an die Überwindung sozialer Ungleichheit durch sozioökonomischen Fortschritt vertrat.773 Im Extremfall könne letzteres Modell, Sobhanlal Datta Gupta zufolge, die Krise der Ungleichheit verstärken. Wenn nämlich der Staat seine Bürger allein dem Markt, NGOs und einem Netzwerk aus Agenturen und privaten Institutionen überlasse und damit „the relocation of the citizen in the sphere of governance, away from that of government“ vorantreibe.774 Harihar Bhattacharya unterstreicht die hier anklingende Sorge, die Bedeutung von citizenship verschiebe sich zunehmend von einer politischen und inklusiven Auffassung hin zu einem Verständnis, das den Bürger als Teil einer Wirtschafts- und Konsumgemeinschaft versteht. Gleichzeitig bewirke der Liberalisierungsprozess, dass Forderungen unter breiten Bevölkerungsschichten (the masses) nach mehr Rechten und Mitbestimmung laut würden.775
Solche Befürchtungen bezüglich einer Konsumentenbürgerschaft äußern Hindi-Autorinnen und Autoren wie Uday Prakash und Krishna Sobti schon ca. zehn Jahre vor Bhattacharya. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade Neu-Delhi zum Zentrum der literarischen Auseinandersetzung mit städtischer Zugehörigkeit wird.776 Schließlich entstand in der indischen Hauptstadt in den 1990er Jahren eine neue wohlhabende middle class, die Delhis Image einer aufstrebenden „world city“ prägte.777 Auf der anderen Seite hat die Hauptstadt in den 1990er Jahren 1,7 Millionen Arbeitsmigranten angezogen. Alleine zwischen 1991, dem Jahr der Liberalisierung, und 2001 betrug die Wachstumsrate im Ballungsraum von Delhi 52 %, und der Stadt selbst 36%, womit Delhi weit vor den anderen Megstädten Mumbai, Kalkutta und Chennai lag.778 Bei einem hohen Anteil von sogenannten lifetime migrants unter der Gesamtbevölkerung – für den Ballungsraum Delhi betrug er im Jahr 2001 43%779 – stellt sich die Frage nach städtischer und staatlicher Zugehörigkeit.
Ist Delhi die Hauptstadt der (Staats)Bürger? An den Begriff des nāgariks geknüpft öffnet Krishna Sobti in ihrem jüngsten Roman „Die Melodie der Zeit“ (samay-sar'gam) von 2000 den Raum für ein kritisch-reflektiertes Nachdenken über das Leben der bürgerlichen Mittelschicht um die Jahrtausendwende. Der Delhi-Roman wird aus der Perspektive der alleinstehenden, emanzipierten Rentnerin Aranya erzählt, die sich mit Nishan, einem alleinstehenden Witwer anfreundet. Die beiden Pensionäre tauschen sich über existentielle Fragen aus, reflektieren ihren Lebensweg und das spannungsreiche Verhältnis von individueller Unabhängigkeit und familiären Zwängen. Auch die besorgniserregenden Entwicklungen des öffentlichen Lebens, die Umweltverschmutzung, die dysfunktionale Infrastruktur und die steigenden Mieten, kommen zur Sprache. Dass vor allem die sozial schwächer gestellte Bevölkerung von diesen Problemen betroffen ist, wird in einer im Wortlaut wiedergegebenen politischen Kundgebung in Kapitel 18 deutlich, in der Rechte und Mitbestimmung für alle eingefordert werden:
Pay close attention to this. The world is not illusory for us. It is constant. […] It is always present, in gross or fine form. So why delude us about staying away from a better life? We have a Constitution to protect our rights. It speaks of the participation of people in democracy. Parliament is the protector of our democratic values. We may well be backward, weak, of schedule caste, but Parliament is ours too. We’re also the inhabitants of this country.780
Soziale und ökonomische Außenseiter werden bei Sobti zumindest ideell als Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen. So wundert sich die alternde Heldin Aranya, als sie auf ihrem Spaziergang ein Baby in der nahen Armensiedlung (jhuggī) weinen hört, was aus diesem „kleinen Bürger“ (nanhā nāgarik) wohl wird, wenn er groß ist.781 Würde ihm jemals gesellschaftliche Wohltätigkeit zuteil werden? Aranya spekuliert, dass dieses kleine Wesen schließlich der politische Führer von morgen sein könnte. Dass das weinende Kind aus dem Slum wie selbstverständlich als nāgarik (in der englischen Übersetzung citizen) bezeichnet wird und der Redner auf der Kundgebung die allgemeinen Bürgerrechte hochhält,782 spricht für ein demokratisches, verfassungsrechtliches Verständnis von Bürgerschaft. In den Augen der Protagonistin ist eine feste Bleibe, so bescheiden sie auch sein mag, die Grundvoraussetzung für ein gutes, „bürgerliches“ Leben: „Der Luxus der eigenen vier Wände bildet die Grundlage städtischen Lebens.‍“783 Ohne diese Voraussetzung ist der Status des nāgarik, also auch seine Zugehörigkeit zur Stadt, akut gefährdet, wie Uday Prakashs „Die Mauern von Delhi“ exemplarisch verdeutlicht. Der Autor schildert, wie ein Leben in den physischen und sozialen Nischen Delhis aus Sicht eines Tagelöhners aussehen kann.
4.3.2 Uday Prakash: „Die Mauern von Delhi“ (2002)
„Die Mauern von Delhi“ ist eine Erzählung aus dem Band „Die Leiden des Dattatreya“784 und erinnert an ein modernes Märchen, in dem der Traum vom großen Geld zunächst wahr zu werden scheint. Prakash zitiert den Aufstiegsmythos „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, der gerade im indischen Film auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblickt, wie beispielsweise Shree 420 (1955) oder Deewar (1975) zeigen. Dass der Aufstieg nicht durch harte Arbeit, sondern häufig nur auf kriminellen oder zumindest dubiosen Wegen möglich ist, wie beide Filme kritisch reflektieren, trifft auch für „Die Mauern von Delhi“ zu.
Die Erzählung handelt von Ramnivas, einem einfachen Tagelöhner aus Delhi, der über Nacht zu Reichtum kommt, als er während der Reinigungsarbeit in einem Fitnessstudio mit dem Stiel des Wischmopps buchstäblich auf einen Schatz stößt. In einem Hohlraum in der Wand verbirgt sich ein geheimes Lager voller Geldbündel – Schwarzgeld wie Ramnivas vermutet. In der nächsten Zeit lebt er in Saus und Braus, kann Frau und Kinder mit gutem Essen und kleinen Kostbarkeiten verwöhnen und zudem das Herz der jungen Sushma gewinnen, der er schon länger seine Aufwartung macht und die er nun offensiv mit Präsenten umwirbt. Schönen Kleidern und Schmuck folgt eine mehrtägige Liebesreise nach Agra. Auf der Suche nach einem Hotel, das über alle Annehmlichkeiten verfügen soll, die einem wohlsituierten Mann wie Ramnivas zustehen, erkundigt sich der argwöhnische Rikschafahrer, woher der Gast denn komme. Ramnivas, der wie viele andere Dörfler auch sein Glück in der Hauptstadt versucht hat, ist nicht um Antwort verlegen:
„Na aus Delhi! Dachtest wohl, wir sind aus U.P. oder M.P. Pem.Pi.?”, konterte Ramnivas prompt und strahlte Sushma triumphierend an. „Und nach Agra komm ich ständig, so alle zwei Wochen. Mit dem Dienstwagen.‍“ Hoffentlich würde dieser neunmalkluge Typ jetzt nicht nach seiner Arbeit fragen. Was sollte Ramnivas dann antworten? Viertklassige Fachkraft für Gebäudereinigung? Kehrdienstleiter? Tätigkeit im Hygiene-Service-Bereich? Aber der andere bohrte nicht weiter nach.785
Schon der erste Satz entlarvt Ramnivas durch die dialektal-ländliche Form apan als Landei. Die durch Sanskritismen hyperformalisierten Berufsbezeichnungen wie caturth śreṇī und svacch'tā karmī gaukeln einen Status vor, der einer Nachfrage gewiss nicht standhalten würde. Ramnivas lässt sich nicht zufällig eine großstädtische Herkunft angedeihen. Hinter dieser weltmännischen Pose steht der Wunsch, die eigene migrantische Herkunft abzustreifen und den damit verbundenen Außenseiterstatus gegen den eines Hauptstädters (mit festem, anerkannten Wohnsitz) einzutauschen. Dabei lässt das Zitat keinen Zweifel offen, woran sich dieser ‚Bürgerstatus‘ in Ramnivas Vorstellung vornehmlich bemisst: Nur wer ökonomisch gut gestellt und sozial angesehen ist, also der Bourgeoisie angehört, genießt den Status eines Delhiiten. Indem er die stereotypen Attribute aufzählt, die ihn – in seinen Augen – zum ernstzunehmenden Player machen, schießt er übers Ziel hinaus und kann sich glücklich schätzen, dass der Fahrer nicht weiter nachhakt.
Doch Übermut kommt vor dem Fall. Wie prekär sein Möchtegern-Dasein als reicher Delhiit ist, zeigt sich prompt: Noch in Agra reißt Ramnivas Glückssträhne jäh ab, als zwei Polizisten spätabends im Hotel aufkreuzen und wissen wollen, wer die junge Frau ist, mit der er sich vergnügt, schließlich mache sie nicht den Eindruck, volljährig zu sein. Der Eindruck wird bestätigt, als Sushma auf deren Nachfrage hin vor lauter Aufregung ihr wahres Alter – sie ist erst siebzehn – verrät. Ramnivas’ engagierte, aber doch billige Ausrede, es handele sich bei dem Mädchen um seine Schwägerin, nehmen die beiden natürlich nicht ab. Am Ende gelingt es ihm gerade noch, sie mit Whiskey und großen Mengen Butter Chicken gefügig zu machen. Allerdings fliegt sein Geheimnis mit dem Schwarzgeld auf, als er den Polizisten im Suff davon erzählt, wie ihm am nächsten Morgen Sushma berichtet. Er reist überstürzt nach Delhi zurück, wo bereits die Polizei auf ihn wartet. Offenbar wird er jedoch wieder freigelassen, denn er wendet sich in seiner Not an Vinayak Dattatreya, der Ramnivas sagenhafte Geschichte erzählt und eine wiederkehrende Erzählinstanz im Band bildet. Ihn bittet er um Rat und weiht ihn in sein Geheimnis um den Schatz ein.
Bevor Vinayak ihm jedoch helfen kann, ist Ramnivas schon verschwunden. Seine nicht identifizierte Leiche taucht bald darauf auf einem Foto in der Zeitung auf, in der es heißt, dass zwei Kriminelle mit mehreren 100.000 Rupien auf der Flucht erschossen wurden, nachdem sie das Feuer auf die Polizei eröffnet hatten. Es fallen einige Ungereimtheiten in der polizeilichen Darstellung des Tathergangs auf, zum Beispiel, dass die von Kugeln durchsiebten Leichen der beiden Männer außerhalb des Autos lagen. Zudem dürfte es sich bei der genannten Höhe des Diebesguts, so schlussfolgert Dattatreya aus eigenen Berechnungen, in Wahrheit nur um einen Teil des Schwarzgeldes handeln. Den Schatz bringt er mit einem Korruptionsfall in Verbindung, in den ein ranghohes Regierungsmitglied verwickelt war, das offenbar von der Polizei gedeckt wird. Aber auch Journalisten, bekannte Intellektuelle und Schriftsteller reihen sich in die Riege der korrupten Nutznießer ein:
Wenn Sie die Gedichte und Geschichten lesen, haben Sie vielleicht bemerkt, dass die Seiten heutzutage nach Alkohol stinken, dass sich hinter den Worten Knochen von Hühnern, Ziegen und unschuldigen Menschen häufen. Schlagen Sie mit einem Besenstiel gegen zeitgenössische Literatur und Sie stoßen auf ein Loch voller Banknoten. Dreckiges besudeltes Geld.786
Zwar erfährt der Leser nicht, auf welche Literatur genau der Erzähler hier anspielt, jedoch prangert er unumwunden die Bestechlichkeit und mangelnde Integrität auch von Intellektuellen und Literaten an, die für einen unabhängigen geistigen Diskurs unabdingbar sind.
Angesichts des bitteren Ausgangs von Ramnivas Schicksal erscheint Vinayak Dattatreyas Credo, jeder könne das Glück in den Mauern von Delhi finden, mindestens ironisch, wenn nicht gar zynisch. Er fordert den Leser auf, mit Hacke und Brecheisen bewaffnet nach Delhi zu kommen, um nachts in den Mauern der Stadt nach verborgenen Schätzen zu graben:
Wenn Sie diese Geschichte lesen, verlieren Sie keine Zeit. Schnappen Sie sich einen Spaten und ein Brecheisen und auf nach Delhi. Es gab nie einen anderen Weg, Millionär zu werden. Wenn Sie sich für ein Leben mit Arbeit, Aufrichtigkeit, Einsicht, Loyalität und Fleiß entscheiden, sterben Sie den sicheren Hungertod oder die Polizei heftet sich an Ihre Fersen.787
Die direkte Ansprache und die vom Erzähler implizierte Mitwisserschaft des Lesers wird als rhetorisches Mittel genutzt, um den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu erhöhen. Außerdem bewirkt sie, dass der Leser mit dieser Parallelgesellschaft sympathisiert:788„Fristen Sie auch so ein Dasein in Delhi, wo Sie nachts kein Auge zukriegen und um drei oder vier Uhr ziellos in der Gegend herumlaufen? Dann sind Sie bestimmt schon mal an der Straße vorbeigekommen, die vom Kingsway Camp zum Rajghat führt.‍“789
Prakashs Erzählung zeigt, wie innerhalb der bekannten Stadttopographie Räume einer flüchtigen (weil prekären) Parallelgesellschaft wachsen, die ein Nischendasein in Ruinen, an Straßenecken und Ausfallstraßen fristet. Manche Menschen verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Geld, Besitz, Reichtum, daran lässt dieses Zitat keinen Zweifel, gilt unter denjenigen, die an den Rändern der physischen und sozialen Stadt leben, als Schlüssel zu gesellschaftlichem Aufstieg und sozialer Anerkennung. Diese Wahrnehmung von (Staats)Bürgerschaft deckt sich mit der Einschätzung des Politikwissenschaftlers Harihar Bhattacharyya, der der citizenship in Südasien Züge einer neoliberalen Konsumenten-Bürgerschaft attestiert.790 Für eine positive Definition von nāgarik'tā auf Basis von Prakashs Erzählung hieße das, die Möglichkeit zu (staats-)bürgerschaftlicher Partizipation bemesse sich in den Augen städtischer ‚Außenseiter‘ in erster Linie an ökonomischen Maßstäben. Und ökonomisches Kapital ist untrennbar mit der Existenz in der Stadt gekoppelt.791 In Dattatreyas Worten, dem Erzähler von „Die Mauern von Delhi“, klingt das weitaus drastischer: „In Delhi, dieser Stadt der Reichen und Schönen, verschwinden die Armen, Kranken und Schwachen einfach so. Und kommen nicht zurück. […] In der Stadt überlebt nicht einmal die Erinnerung an sie.‍“792
Entsprechend sarkastisch wirkt der Aufruf, jeder solle auf der Stelle in die Hauptstadt kommen und ihre Schätze heben: „Falls Sie Ihrem Glück ein wenig nachhelfen wollen, egal, wo Sie sind, fahren Sie nach Delhi. Delhi ist nicht weit. Glauben Sie mir, nicht nur um Millionär zu werden, auch um schlicht sein täglich Brot zu verdienen, bleibt nur dieser eine Weg.‍“793 Die Aussage „Delhi ist nicht weit“ hat in diesem Kontext eine symbolische Bedeutung. Sie zitiert Raj Kapoors Film Ab Dilli door nahim (1957), in dem der Sohn des Arbeiters Hariram, der fälschlicherweise für den Mord an einem reichen Kaufmann verurteilt wurde, für Gerechtigkeit kämpft und allerlei Hindernisse überwinden muss, ehe er in Delhi sein Anliegen vor Präsident Nehru vortragen kann.794 Der Titel geht auf den populären Ausspruch des Sufi-Heiligens Hazrat Nizamuddin Auliya (1238-1325) zurück, „Bis nach Delhi ist es noch weit“ (Persisch: hunūz dehli dūr ast), mit dem dieser kühl auf die Drohung des damaligen Herrschers von Delhi, Ghayasuddin Tughluq, reagiert haben soll: Er wollte Auliya nach seiner Rückkehr nach Delhi köpfen lassen, da Auliya einer Aufforderung des Herrschers nicht nachgekommen war.795 Der Satz bezieht sich auf Tughluqs Heimreise von einer erfolgreichen Schlacht, während der er, kurz vor Delhi, bei einem Unfall umkam. Nizamuddins Ausspruch hat sich zu einer Redewendung verselbstständigt und enthält die Prophezeiung: Noch ist das Ziel nicht erreicht, noch kann sich das Blatt wenden.796 Anders als Kapoors Film und der Legende von Hazrat Nizamuddin nimmt Prakashs Geschichte keine gute Wendung. Am Ende gewinnen die Mächtigen, Ramnivas wird in Delhi kein fairer Prozess gemacht, sondern er findet dort den Tod.
Abgesehen davon, dass „Die Mauern von Delhi“ vom individuellen Schicksal eines ‚randständigen‘ Städters erzählt, ist die Geschichte gleichzeitig ein literarisches Dokument für die prekären Lebensbedingungen in indischen Megastädten, die mit dem Abflauen der Debatten um Übervölkerung und Landflucht in den ehemals kolonisierten Ländern Asiens keineswegs obsolet sind.797 Auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben treibt es Jahr für Jahr Millionen Menschen in Megastädte wie Delhi und Mumbai,798 um dort, genau wie Ramnivas, einen kargen Lebensunterhalt zu verdienen. Gyan Prakash fasst den Widerspruch zwischen Ideal (Stadt als Ort der Zivilgesellschaft) und Wirklichkeit (Nicht-Teilhabe vieler Städter) zusammen: „The nonlegal basis of urban existence and politics in the slums and squatter settlements of the global south mocks the classic ideal of the city as the space of civil society and rational discourse.‍“799 Gyan Prakash zielt hier mit Verweis auf Partha Chatterjee auf die Unterscheidung von Bevölkerung (population) und bürgerlicher Gesellschaft (civil society) ab, wobei letztere seit ihrer Entstehung in der Kolonialzeit einem kleinen Kreis (nationalistischer) Eliten vorbehalten blieb.800 Wozu damals schon nur ein kleiner Zirkel von Führungskräften der Unabhängigkeitsbewegung Zugang hatte, bleibt auch im postliberalen Indien nur den politischen und ökonomischen Eliten vorbehalten, wenn man Uday Prakash Glauben schenken darf. „Die Mauern von Delhi“ zitiert das Bild von der unbarmherzigen und korrupten Bürokratenstadt, die den Neureichen ein gutes Leben in sogenannten farmhouses, mondänen Landhäusern, im Speckgürtel Delhis beschert, so wie Rana Dasgupta es in dem düster-sarkastischen Portrait „Capital City“ (2014) beschreibt.801 Was Jon Stock in seiner Besprechung des Romans – Dasguptas Ausdruck „black money warrior“ weiterspinnend – „lawless elites“ tauft,802 begegnet uns bei Prakash in Gestalt von korrupten Polizisten und hochrangigen Politikern. Jedoch lernt der Leser nicht ihre Perspektive kennen, sondern die derjenigen, die den Lebensstil der Reichen – oftmals als informelle Arbeitskräfte – bewirtschaften. Tagelöhner wie Ramnivas. Die vereinfachte Darstellung einer Hierarchie, bei der die ausgebeutete Arbeiterschaft einer kleinen ausbeutenden Machtelite untersteht, trügt über die Vielschichtigkeit und Komplexität von Prakashs Erzählung hinweg. Denn auch der mittellose Ramnivas ist mit allen Wassern gewaschen und beweist street cleverness (nāgarik'tā). Schließlich genießen opportunistisches Verhalten und kriminelle Energie als Überlebensstrategien und Schutzmechanismus allgemeine Anerkennung.803 Nichtsdestotrotz gehören Ramnivas, dem ein Zufall illegitimen Reichtum beschert hat, die Sympathien des Lesers, weil er die Spielregeln nachahmt, nach denen gesellschaftliche Zugehörigkeit jenseits der nominellen Definition von (Staats)bürgerschaft tatsächlich praktiziert wird.
Der Begriff nāgarik'tā erfährt bei Prakash zuweilen eine ironische, ja zynische Aufladung. Er steht dann für sozio-ökonomische Randgruppen, deren Mitglieder aufgrund ihrer niederen Herkunft sowie mangelnden oder fehlenden Bildung und Qualifikation nicht als vollwertige Städter gelten. Sie bilden „eine andere Art der Bürgerschaft“ (ek alag tarah kī nāgarik'tā)804. Unter nāgarik'tā versammeln sich Tagelöhner, Bettler, Leprakranke, Irre, Drogensüchtige, kurzum all die namenlosen Außenseiter, die als unbürgerliche und wohl auch unzivilisierte Menschen (anāgarik manuṣya) gelten: „In den Jahren nach der Unabhängigkeit verkam dieser Park mehr und mehr zum Treffpunkt der vagabundierenden Bevölkerung aus Bettlern, Verrückten, Aussätzigen, Krüppeln, Süchtigen, auf der Strecke gebliebenen Außenseitern der Stadt.‍“805 Dieses unsichtbare Phänomen wertet der Erzähler als eine andere Spielart der Globalisierung (ek alag prakār kā bhūmaṃḍalīkaraṇ), von der wohl kaum ein Soziologe weiß oder je darüber spricht.806 Was die Soziologen nicht tun, tut nun Dattatreya. Dieser Hinweis ist in zweifacher Weise interessant: Inhaltlich zeugt Ramnivas Schicksal von den Schattenseiten der Globalisierung, die in den Augen des Erzählers dringend mehr Beachtung verdienen: Sozio-ökonomische Ungleichheiten verschärfen sich, zahllose Menschen in der Hauptstadt sind von der Zivilgesellschaft ausgeschlossen und genießen nicht dieselben Rechte wie diejenigen, die ‚innerhalb‘ der Stadtgesellschaft leben. Über ihre rein inhaltliche Bedeutung weist diese Aussage auch auf die Funktion von Literatur und auf das Selbstverständnis der Autorinnen und Autoren hin. Uday Prakash benutzt Literatur, um die Erfahrungen subalterner, politisch und sozio-ökonomisch benachteiligter Bevölkerungsgruppen in einem Medium zu verbreiten, das eher in den Mittelschichten konsumiert und rezipiert wird. Doch dieses Beispiel verdeutlicht einmal mehr, dass sich konservative Ideen und Ideale (von gesellschaftlicher Einheit und Gleichheit) mit einer (neo)marxistischen Kritik daran, dass Bürgerschaft vom ökonomischen Status abhängt und im Grunde nur der kapitalistischen Klasse vorbehalten ist, problemlos verbinden lassen. Prakash mischt sich auf einer politischen Ebene in seinem Selbstverständnis als Kulturträger in die Debatte um die praktische Auslegung des Bürgerschaftskonzepts ein. Der Autor, der vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit hauptberuflich als Journalist gearbeitet hat und in vielen seiner Erzählungen über soziale Ungleichheit, Korruption und Polizeiwillkür schreibt, fragt in „Die Mauern von Delhi“ nach, wie es um die in der Verfassung verankerten Grundrechte und um die demokratische Zivilgesellschaft wirklich steht. Die mantraartig vorgetragene Rede von der größten Demokratie der Welt gerät hier gefährlich aus dem Takt. Das Versprechen rechtlicher und sozialer Gleichstellung bleibt zumindest für Prakashs Protagonisten in weite Ferne gerückt.
4.4 Zwischenfazit
Die literarische Darstellung von Bürgerschaft (nāgarik'tā) in den hier vorgestellten Beispielen ist von großen Spannungen geprägt, welche auf das Nebeneinander unterschiedlicher Bedeutungsstränge zurückzuführen sind, wie der schlaglichtartige Blick auf die Wurzeln des Ausgangswortes nāgaraka in der klassischen indischen Literatur und auf die heutige verfassungsrechtliche Bedeutung gezeigt hat. Zwar ist staatsbürgerschaftliche Teilhabe (nāgarik'tā) ein demokratisches Grundrecht, jedoch wird diese normative Bedeutung von alltagspraktischen, bisweilen aus vordemokratischer Zeit stammenden Auffassungen unterwandert. Denn nāgarik'tā bezeichnet in den besprochenen Werken einen exklusiven Status bzw. die exklusive Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit denselben Werten und Praktiken. Lediglich die Beurteilung dieser Exklusivität fällt bei Singh und Prakash unterschiedlich aus, was durch die unterschiedlichen Perspektiven erreicht wird: Singh beschreibt nāgarik'tā gewissermaßen von innen und Prakash Nicht-Zugehörigkeit von außen.
Singh präsentiert mit der Innenperspektive das Ideal einer egalitären städtischen Wertegemeinschaft, die sich durch gemeinsame Praktiken, wie die öffentliche Debattenkultur, formiert. Das nachbarschaftliche Leben ist zugleich sozio-kulturelle Praxis und schützenswertes Gut, das sich über traditionelle Formen der Kommunikation definiert: Das gesellige Klatsch-und-Tratsch-Beisammensein bis hin zum politischen Meinungsstreit beim Chaiwala Pappu und der performative Dichterwettstreit sind die Mittel, die wesentlich das Nachdenken über städtisches Leben strukturieren und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitgliedern dieses nachbarschaftlichen Milieus stärken. Lokale Kennerschaft und Tradition bilden dabei das Substrat, aus dem sich das Selbstverständnis der Assianer als „ursprüngliche“ Städtergemeinschaft speist. Allerdings entlarvt der satirische Duktus des Erzählers Tradition oft genug als Traditionalismus. Denn das Ideal einer ‚authentischen‘ Bürgerschaft wird immer wieder unterlaufen, wenn die ablehnende Haltung der Bewohner von Assi gegenüber dem Tourismus und anderen Übeln des postkolonialen Zeitalters, allen voran dem globalen Kapitalismus, entlarvt wird. Denn Tradition gerät auch zur Ware, die den Lebensstil der Assianer entscheidend prägt und ihren Müßiggang auch erst ermöglicht. Es gibt zwei mögliche Lesarten, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen: Die erste Lesart stellt den Identitätsdiskurs der Assianer unter die Prämisse des widerständigen Lokalen, das sich in der Kritik an Kapitalismus, Globalisierung und (implizit) auch an kosmopolitischen Modellen von Bürgerschaft äußert. Die zweite Lesart hebt die Bedeutung konservativer Deutungshoheiten hervor: Eine Gemeinschaft von Bürgern (nāgariks) bestimmt durch ihre Praktiken und Werte, was städtische Identität ausmacht und wer dazugehört (und wer nicht). Hier scheint sich zu bestätigen, was Partha Chatterjee als das Narrativ der Gemeinschaft (community) bezeichnet hat, das sich auch im Kapitalismus hartnäckig halte:807 „Community, which ideally should have been banished from the kingdom of capital, continues to lead a subterranean, potentially subversive life within it because it refuses to go away.‍“808 Städtische Zugehörigkeit ist eng an die Vorstellung von einer exklusiven, reichen Gemeinschaft geknüpft: In „Die Mauern von Delhi“ von Uday Prakash wird genau dieser Zusammenhang zwischen Kapital und Gemeinschaft aus Sicht eines underdog-Protagonisten geschildert. Prakash wählt die Außenseiterperspektive eines „Nicht-Bürgers“ (anāgarik), der durch einen glücklichen Zufall über Nacht reich wird und sich augenblicklich am Ziel seiner Träume wähnt. Dass dem nicht so ist, wird spätestens klar, als ihm zwei korrupte Polizisten auf die Schliche kommen und er kurz darauf erschossen aufgefunden wird. Prakash entlarvt in „Die Mauern von Delhi“ die Diskrepanz zwischen der nominellen Bedeutung und praktischen Umsetzung von Bürgerschaft (nāgarik'tā). Durch die Außenseiterperspektive von Ramnivas bekommt der Leser eine Idee davon, wie das Leben an den physischen und sozioökonomischen Rändern der Hauptstadt Delhi aussieht. Die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft erscheint hier für den Fremden als unerreichbarer Status, der nur durch Herkunft, Wohlstand und Macht erlangt werden kann. Die Haltung gegenüber der Exklusivität von bürgerlicher Zugehörigkeit ist höchst ambivalent: Selbst wenn die Aufforderung des Erzählers, jeder solle sein Glück in den Mauern von Delhi suchen, statt mit ehrlicher Arbeit im eigenen Unglück zu verharren, ironisch gemeint sein dürfte, halten die Außenseiter genau diese exklusive Lebenswelt für erstrebenswert. Städtische (und staatliche) Zugehörigkeit definiert sich in den Augen von Ramnivas an einem elitären Besitzstatus.
Beide Geschichten erzählen von Globalisierungsverlierern. Bei Singh versuchen sich die Bewohner des Viertels Assi gegen den globalen Kapitalismus (und die Touristen) abzugrenzen, um ihre lokale Identität zu bewahren. Der Einfluss der Globalisierung hat eine sozio-ökonomische Umwälzung losgetreten, die zum Statusverlust der alten Eliten geführt hat und durch die Vermarktung einheimischer Traditionen und lokalen Wissens selbst zur Entwertung ihres Status beigetragen hat. Bei Prakash sind die unterirdischen Gänge, die sich durch ganz Delhi ziehen und unter dem gesamten Globus verlaufen, eine Metapher für die vielen ‚Unbürger‘, Tagelöhner, Obdachlosen, Kranken und Abgehängten, die die Nischen der Stadt bevölkern, aber in ihrer ‚illegalen‘ Existenz unsichtbar bleiben. Sie erwirtschaften die Privilegien der Mächtigen, aber sie verfügen über keinerlei Rechte, wie der Mord an Ramnivas vermuten lässt.
Trotz des pessimistischen Ausgangs klingt in Uday Prakashs „Die Mauern von Delhi“ doch ein neues Bewusstsein unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern an, subalterne Stimmen und Deutungen von (Staats)Bürgerschaft (nāgarik'tā) in den Erinnerungsdiskurs einzubringen, der um das Jahr 2000 herum v.a. von englischsprachigen Stadtbiographien und Memoiren über Delhi geprägt ist.809 In Büchern wie „Delhi. The first City“810 schaffen die Autorinnen und Autoren – aus Sicht der (ehemaligen) Eliten – ein positives Gegenbild zu gegenwärtigen Entwicklungen (Überbevölkerung, Konsumwahn und eine Unkultur der Neureichen), indem sie die Zeit ihrer Kindheit in den 1950er und 60er Jahren bis in die Zeit vor der Liberalisierung 1991 als vital und authentisch erinnern. Einen Gegenpol zu diesen oftmals nostalgischen Schwärmereien über Delhis glanzvolle Vergangenheit bildet dagegen eine Sammlung mit Tagebucheinträgen, Alltagsskizzen und semi-fiktionalen Geschichten von Jugendlichen, die über ihren Alltag in einer sogenannten informellen Siedlung am Ufer der Yamuna und über die Zerstörung ihres Zuhauses im Zuge der Stadtverschönerungsmaßnahmen für die Commonwealth Games 2010 berichten.811 Die Texte der jungen Erwachsenen stammen ursprünglich aus Blog-Einträgen, die in zwei Schritten eine Metamorphose vom digitalen Experiment zum literarischen Druckerzeugnis durchliefen: Die Hindi-sprachigen Texte aus dem Blog wurden bereits 2002 in dem in Eigenproduktion hergestellten zweisprachigen Band galiyoṃ se/By Lanes, „Durch die Gassen“, abgedruckt. 2010, ein Jahr vor dem hundertsten Geburtstag der Hauptstadt 2011, erschienen diese und andere Texte in englischer Übersetzung als Hardcover-Buch unter dem Titel „Trickster City“. Die Überführung alternativer Vorstellungen und Bilder von Delhi in ein global verfügbares und rezipierbares Druckerzeugnis, das traditionell von Mittel- und Oberschichten bedient wird, spricht dafür, dass auch bildungsferne Milieus am Prozess des mehrschichtigen Einschreibens beteiligt sind: Einmal schreiben die jungen Autorinnen und Autoren ihre „illegale“ Existenz in die physische Stadt ein. Und zweitens schreiben sie sich mit alternativen Erfahrungen in Erinnerungsdiskurse ein, die vor allem die bessere Vergangenheit der Stadt in den Blick nehmen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Thema Bürgerschaft und städtische Zugehörigkeit auch außerhalb der traditionellen literarischen Genres aufgegriffen wird. Zwar ist das keine völlig neue Entwicklung, denken wir an die autobiographischen Zeugnisse von Dalit-Schriftstellern. Sie verarbeiten vor allem die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der daheimgebliebenen Dalit-Gemeinschaft im dörflichen oder kleinstädtischen Umfeld und ihrer eigenen persönlichen Emanzipation in der Großstadt, die ein gewisses Maß an Anonymität und sozialen Aufstieg bietet.812
Im Unterschied zu vielen solcher literarischen Dalit-Zeugnisse bildet ge‍ra‍de das Narrativ der Gemeinschaft die Grundlage für das Selbstbild, das die jungen „Trickster City“-Autorinnen und -‍autoren von sich als vollwertige, „legale“ Städter entwerfen. Mit der eingehenden Beschreibung alltäglicher Praktiken, Tätigkeiten und Rituale, die sie als ganz normale Städter auszeichnen, legitimieren sie ihre Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft unter der Zuhilfenahme einer Denkfigur, die in der Hindi-Stadtliteratur eine lange Geschichte hat: Das Ideal von gesellschaftlicher und nationaler Einheit in der inneren Sphäre.
4. Von Bürgern und Fremden: Städtische Zugehörigkeit und Identität (seit 2000)
4.1 nāgarik'tā: Eine begriffsgeschichtliche Annäherung
4.2 Innensichten auf Bürgerschaft: Banaras (Varanasi)
4.3 Außensichten auf Bürgerschaft: Delhi
4.4 Zwischenfazit