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Arbeitsmigration nach Saudi-‍Arabien und ihre Wahrnehmung in Pakistan: Akteur*innen und Strategien der öffentlichen Sichtbarmachung
09 Oct 2020
6. Migranten als „neue Sklaven“? Profitstreben der Gatekeeper*innen, strukturelle Gewalt und politische Verfehlungen in der pakistanischen Migrationspolitik
„Jeder, ich betone jeder, mit dem ich gesprochen habe, war entweder selbst in Saudi-Arabien oder hat Verwandte, die zum Arbeiten dort waren, und dabei wurden die Erfahrungen der Hajj nicht mal berücksichtigt. Kurz: Saudi-Arabien spielt in dem Leben der meisten Pakistaner auf vielen Ebenen eine entscheidende Rolle: Als Ernährer, als Wallfahrtsort, als politischer Destabilisator, als islamisches Vorbild, als fütternde Hand, als Wurzel des pakistanischen Terrorismus, als Inkarnation der US-amerikanischen Verschwörung gegen die pakistanische Einheit etc. Es ist dieses ambivalente Hassliebeverhältnis, das sich wie ein roter Faden durch alle Gespräche führt und auch in den Diskussionen zu Arbeitsmigration thematisiert wird“ (Auszug aus meinem Forschungstagebuch vom 11.02.2016).
Wie der Auszug aus meinem Forschungstagebuch andeutet, wurde mir während meines Feldaufenthalts schnell bewusst, wie umfassend das Phänomen Migration nach Saudi-Arabien als wichtigstes Empfängerland die alltägliche Lebenswirklichkeit der pakistanischen Gesellschaft bestimmt. Nach der Verortung der neuen nationalen Öffentlichkeitsakteur*innen im Rahmen der bilateralen Beziehungen zwischen Pakistan und Saudi-Arabien folgt in diesem Kapitel nun die Problematisierung des Phänomens Migration auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene aus Perspektive der untersuchten Akteur*innen vor dem Hintergrund wissenschaftlichen Kontextwissens. Migration stellt somit den zweiten empirisch untersuchten Referenzrahmen dar, in dem sich die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen bewegen, der ihre Wirkräume und Handlungsweisen und somit auch die vermachtete Arena bzw. den Teilbereich der medialen Öffentlichkeit zu Migration prägt und konstituiert, zu dem sie Zugang erhalten wollen.
Wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, sind die bilateralen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Pakistan durch sensible, asymmetrische, tabuisierte, hierarchisierte und komplexe Beziehungsstränge geprägt, die auch die Wahrnehmung und Aushandlungsmöglichkeiten von sowie die Diskussionsräume zu Migration dominieren und limitieren. Migration nach Saudi-Arabien wird somit zu einem doppelten Tabu: Zum einen, weil die engen und asymmetrischen bilateralen Beziehungen zwischen Pakistan und Saudi-Arabien eine kritische Diskussion in der Arena pakistanischer Öffentlichkeit minimieren. Zum anderen erfährt Arbeitsmigration aus wirtschaftlichen Gründen eine solch existenzielle Bedeutung für die ökonomische Stabilität Pakistans, dass eine differenzierte Diskussion um Migration ins Königreich ebenfalls erschwert wird. Somit bewegen sich die untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen in einem auf zwei Ebenen sensiblen Feld, was ihren Zugang zur öffentlichen Arena begrenzt.
Aus ihrer Sicht hat die enge Verflechtung zwischen politischen und wirtschaftlichen Gatekeeper*innen im Migrationsnetzwerk dazu beigetragen, Migranten als Humankapital und wichtigstes Exportgut wahrzunehmen, ohne Aspekte der Fort- und Weiterbildung, des Arbeitsschutzes und der rechtlichen Absicherung für Migranten und ihre daheimbleibenden Familien umfassend zu diskutieren und politische Lösungen zu implementieren. Bestandteil dieser Haltung ist auch das kontrovers diskutierte Kafāla-System (Bürgschaftssystem), welches von den untersuchten Akteur*innen als Auslöser struktureller Gewalt gegen Migrant*innen kritisiert wird. Aufgrund dieser Aspekte wird Migration von den untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen als „neue Form der Sklaverei“ bezeichnet, was z. B. von Vertreter*innen des MRC hart kritisiert wird.
“Migrants are willing to take the risk because most of them are in their early twenties, they feel they have the strength to get through hard times and through the system for earning a lot of money. They think but themselves: Ok, why not? In Pakistan, there is no way to earn a similar amount of money. That’s why they are happy to go abroad. There is a societal factor, there is prestige factor and there is optimism that things will improve although the migration system is the biggest exploitation system you can ever imagine. It’s like real bonded slavery now, a modern form of bonded slavery. However, the desire to go abroad is much stronger than staying at home. They want to try their luck. It’s the Pakistani version of the American dream“ (SOH_ISL, Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:19:54-9#).
Die Fokussierung auf das wirtschaftliche Nutzpotenzial von Migration spiegelt sich auch in der pakistanischen Migrationsforschung wieder, wie bereits im Forschungsstand angedeutet wurde. Insbesondere die Studie von Gilani et al. (1981) bietet einen ersten Überblick zur Verwendung der Rücküberweisungen. Weitere Forschungen zu den Auswirkungen der Rückkehr von pakistanischen Migranten in ihre Heimat werden hinsichtlich ihres Investitionsverhaltens (vgl. Irfan et al. 1979; Iqbal/Khan 1981; Burki 1980; Perwaiz 1979; Gilani 1983, 1984; Amjad 1989; Arif 1999; Batzlen 1999; Adams 1998) und ihrer Wiedereingliederung in den pakistanischen Arbeitsmarkt (vgl. Arif 1995, 1996, 1998; Iqbal/Khan 1981) diskutiert. Es existieren umfangreiche Statistiken zu Berufs- und Bildungsstand, zu den während des Aufenthalts in den Empfängerstaaten angeeigneten Kenntnissen (vgl. Arif/Shahnaz 2000) und der regionalen Herkunft, um die entwicklungsfördernde Dimension pakistanischer Arbeitsmigration zu betonen. Da sich viele spätere Studien auf Statistiken aus den 1980er Jahren beziehen, lag der Schwerpunkt zeitgenössischer Untersuchungen auf der Aktualisierung dieser veralteten Daten (vgl. Arif 2004: 143). Dieser Forschungstrend setzt sich seit 2010 fort, betont nun aber zunehmend, die Rücküberweisungen formalisieren und zentralisieren zu müssen, um einen nachhaltigen Effekt für die wirtschaftliche Entwicklung zu erzielen (vgl. Amjad/Arif 2014; Amjad et al. 2013, 2014; Amjad 2010; Arif 2016). Insbesondere der quantitative Anstieg des Rücküberweisungsvolumens seit 2002 wird von den führenden Migrationswissenschaftler*innen analysiert (vgl. Arif et al. 2012). Gleiches gilt auch für pakistanische Migration nach Saudi-Arabien: Die Forschung fokussiert sich wie bei den anderen arabischen Golfmonarchien auf die Auswirkungen der Rücküberweisungen auf pakistanische Haushalte in ländlichen Gebiete sowie die Migrationskosten vor dem Hintergrund zunehmender Verschuldung, inoffizieller Rekrutierungskanäle und steigender Korruption (vgl. Arif 2010). Ziel müsse es sein, Migrationskosten zu reduzieren, um den wirtschaftlichen Nutzwert zu erhöhen, wie z. B. der einflussreiche Migrationswissenschaftler GAR_ISL im Interview herausstreicht:
„My point of view is that we can make migration a much better sector. When it benefits the country, it will benefit the society. In my opinion we need to reduce the costs of migration to make working conditions better over there and we have to understand that migration is not permanent, it is a temporary phenomenon (…) This type of discussion is missing in all aspects“ (GAR_ISL, Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:30:43-4#).
Diese kommerzialisierte Betrachtung von Migration wird jedoch von anderen neuen Öffentlichkeitsakteur*innen aus Zivilgesellschaft und Medien als „mindset of commercialisation“ und als Ausdruck des pakistanischen libertären Wirtschaftssystems, welches durch Korruption, Nepotismus und Patronagenetzwerke geprägt ist, kritisiert.
Ziel dieses Kapitels ist es, diese kritische Sichtweise der untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen zu konkretisieren. Dafür sollen die Interessen des pakistanischen Staates an Migration sowie die Perspektiven für Migration nach Saudi-Arabien aus Sichtweise der untersuchten Akteur*innen eingeordnet und an die bestehende Forschungsdiskussion rückgebunden werden (6.1), um danach die sozialen Auswirkungen des Kafāla-Systems (6.2), der irreguläre Status der Migranten (6.3) und die Implikationen auf ihre Lebenswirklichkeiten (6.4), die zunehmende Kommerzialisierung (6.5) sowie die von Kriminalisierung und mafiösen Netzwerken (6.6) geprägten prekären Arbeitsbedingungen für Migranten und die damit verbundenen Verfehlungen der pakistanischen Migrationspolitik (6.7) zu diskutieren.
6.1 Die Interessenslage des pakistanischen Staates: „It’s all about the business“
„It’s all about business“ (SIA_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:18:06-9#): So beschreibt SIA_LAH, der sich als renommierter Printjournalist bereits seit Jahren intensiv mit Migration beschäftigt, die Hauptmotivation des pakistanischen Staates, Migration nach Saudi-Arabien zu fördern. Das staatliche Hauptinteresse besteht seiner Meinung nach ausschließlich darin, die aus Migration generierten Rücküberweisungen zu erhöhen oder zumindest konstant zu halten, um die krisengeschüttelte einheimische Wirtschaft und den staatlichen Haushalt mit dringend notwendigen Einnahmen zu versorgen. Ähnlich äußert sich auch BUK_LAH vom MRC:
„The persons on a senior political level have not realized the situation as it should be. They just realized the migrant workers issues in terms of remittances only. They only consider labour migrants as a source of income, that’s all. They don’t care what is happening to them, what kind of challenges they have to face. They only see: Oh, the remittances increased or the remittances decreased. Thus, if the remittances decreased we should allow more people to go abroad in order to generate more income“ (Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:39:33-6#).
Für Pakistan wurde die Entsendung von Arbeitsmigranten seit den 1970er Jahren eine sozioökonomische Notwendigkeit, konnten doch dadurch einerseits der enorme Druck auf den inländischen Arbeitsmarkt reduziert und andererseits aufgrund der Rücküberweisungen die prekäre Haushaltslage verbessert werden – ähnlich wie in anderen asiatischen Entsendestaaten (vgl. Naufal/Genc 2013; Fargues/Shah 2018: 5). Pakistan litt zu zu dieser Zeit unter einer schwerwiegenden Wirtschaftskrise: Hohe Arbeitslosigkeit und grassierende Armut destabilisierten das politische System und forderten die marode Wirtschaft hinaus. Die Abspaltung West-Pakistans 1971 und die damit verbundene Neugründung Bangladeschs stellten die pakistanische Wirtschaft aufgrund wegfallender Einnahmen aus der Landwirtschaft vor ebenso enorme Herausforderungen, wie die noch immer nicht abgeschlossene Transformation des politischen und wirtschaftlichen Systems nach der Teilung Britisch-Indiens 1947, wie von mir untersuchte Politik- und Migrationswissenschaftler hervorheben (vgl. DIE_LAH, Interview, 28.01.2016, Lahore; QAS_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore). Präsident Zulfikar Ali Bhutto (reg. 1971-1973 als Staatspräsident und 1973-1977 als Premierminister) versuchte, dieser Krise mit einem Privatisierungsprogramm und einer Diversifizierung der externen Partner beizukommen, was die Entsendung von Migranten in die arabischen Golfmonarchien seit den 1970er Jahren rapide ansteigen ließ (vgl. Kapitel 1 und 5). Bis heute nahm die existenzielle Bedeutung der Rücküberweisungen signifikant zu: 2015 erhielt Pakistan 18,2 Mrd. US-Dollar an Rücküberweisungen aus aller Welt, die etwa 8% zum pakistanischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) beitrugen. Davon stammten allein 5,6 Mrd. US-Dollar aus Saudi-Arabien (vgl. Amjad et al. 2016).72 Damit sind sie fast so hoch wie 75% der Gesamtexporte (24 Mrd. US-Dollar in 2015) und konnten das Haushaltsdefizit von 18,6 Mrd. US-Dollar fast ausgleichen (vgl. ur Rehman 2017: 2). Sie stellen somit zweifellos ein stabilisierendes Element für die krisengeplagte pakistanische Wirtschaft in Form von Armutsbekämpfung (vgl. Javid et al. 2012; Adam 1998; Hussain/Anjum 2014. 376) dar und trugen unter anderem bei Naturkatastrophen wie dem verheerenden Erdbeben im Norden Pakistans im Oktober 2005 zum Wiederaufbau bei (vgl. Suleri/Savage 2006: ii).
Darüber hinaus zwingt der demographische Druck Teile der pakistanischen Gesellschaft zur Auswanderung: So hat sich die Bevölkerung in den letzten 65 Jahren auf 207 Millionen fast verfünffacht (vgl. Pakistan Bureau of Statistics 2017).73 Somit stünde die pakistanische Gesellschaft ohne Migration in die arabischen Golfmonarchien und andere Empfängerstaaten vor dem massiven Problem, einen noch größeren Anteil der jungen und rasch wachsenden Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt absorbieren zu müssen.74 Diese Notwendigkeit zur Migration wird von allen untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen anerkannt und als „Flucht aus der Armut“ bezeichnet, wie es ZAH_LAH vom CIMRAD nennt. Immerhin leben 31,2% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (vgl. UNDP). 40% aller pakistanischen Migranten verfügen über keine formelle Ausbildung, während knapp die Hälfte Hilfsarbeit ausübt. 2011 waren in Saudi-Arabien 23% der männlichen Migranten im Bausektor, 11% in der Industrie, 7% im Haushalt und 29% im Einzelhandel beschäftigt (vgl. De Bel-Air 2014). Nur jeder Zehnte hat eine qualifizierte Berufsausbildung oder ein Studium absolviert – ein Anteil, der sich in den letzten Jahren kaum verändert hat, sodass auch die Struktur des Arbeitsprofils seit den 1960er Jahren weitgehend unverändert geblieben ist („more of the same“; vgl. GIZ/ILO 2015: xi). Den Migranten und ihren Angehörigen ist bewusst, dass sie aufgrund der fehlenden Arbeitsmöglichkeiten, des hohen Armutsniveaus und des Stadt-Land-Gefälles kaum ausreichende berufliche Perspektiven in der pakistanischen Wirtschaft vorfinden, um ein gesichertes Auskommen generieren zu können, und suchen in der Migration eine Lösung für ihre Misere.
Zwischen 1971 und 2015 wählten mehr als 4,3 von insgesamt 8,6 Millionen (ILO 2016c: 5) und damit die Hälfte aller pakistanische Arbeitsmigranten Saudi-Arabien als Zielland, gefolgt von den VAE mit 32,9%, Oman (7,5%), Kuwait (2,1%), Bahrain (1,7%) und Katar mit 1,4% (vgl. BEOE 2015b: 1). Damit ist das Königreich das wichtigste Empfängerland pakistanischer Migranten weltweit. Im Jahr 2014 arbeiteten offiziell 1,9 Millionen pakistanische Migranten im Königreich, wenngleich inoffizielle Schätzungen von mehr als zwei Millionen ausgehen. Da keine aussagekräftigen Statistiken zu den Rückkehrern erhoben werden, kann deren Zahl für diesen Zeitraum mit fünf Millionen nur geschätzt werden.75 Dabei handelt es sich zu über 99% um verheiratete Männer mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren (vgl. Arif 2009: 15). Zwischen 1981 und 2015 stammten mehr als die Hälfte aller Migranten aus den ländlichen Gebieten des Punjabs (vor allem aus Attock, Rawalpindi, Jhelum, Gujrat und Faisalabad), gefolgt von KP mit 26% (vor allem aus Dir, Swat, Mardan, Peshawar, Mardan, Swabi und Malakand), dem Sindh mit 9%, AJK mit 7%, FATA mit 5% und Balutschistan mit 1% (vgl. Zafar 2016), in denen traditionell die landwirtschaftliche Produktivität geringer ist als in den regenreichen Provinzen Punjab und Sindh (vgl. Gazdar 2003: 9). Schätzungen gehen davon aus, dass bereits in den 1980er Jahren jede zehnte pakistanische Familie über mindestens einen sich im Ausland befindenden Angehörigen verfügte (vgl. Gilani 1986: 114). Nur 15% der Familien begleiten die jeweiligen Angehörigen, während die daheimgebliebenen Familienmitglieder von den Geldtransfers ihrer Verwandten profitieren, sodass es sich bei diesen Rücküberweisungen um eine von wenigen Einnahmequellen handelt, die nicht den privilegierten unternehmerischen oder politischen Gatekeeper*innen zugutekommt (vgl. Gilani 1984: 147). Dabei praktizieren die meisten Migranten eine „save there, eat here“-Strategie (Watkins 2003): Im Durchschnitt transferiert jeder pakistanische Migrant 261 US-Dollar im Monat nach Hause (vgl. Arif 2010: 2). Der Durchschnittslohn liegt in Saudi-Arabien mit 480 US-Dollar fast vier Mal so hoch wie in Pakistan (vgl. Amjad et al. 2016).
Somit hat sich Migration als Instrument des sozialen Aufstiegs etabliert: Die Angehörigen werden in die finanzielle Situation versetzt, Eigentum zu erwerben, Familiengeschäfte zu eröffnen, die medizinische Versorgung zu verbessern und ihren Kindern eine Schulbildung zukommen lassen zu können sowie die Konsumbereitschaft zu erhöhen (vgl. Seddon 2004: 415; Burki 1991; Arif 1999; Batzlen 1999); Häuser werden mittlerweile aus Stein und nicht mehr aus Lehm gebaut (vgl. Gilani 1986: 127). Mithilfe der Rücküberweisungen können Einkaufszentren, Moscheen, karitative Einrichtungen (vgl. Helweg 1983: 440) und Mädchenschulen (Choudhry 1982: 63) errichtet und Ersparnisse generiert werden, um beispielsweise Hochzeiten (vgl. Suleri/Savage 2006: 17) oder die Pilgerfahrten nach Saudi-Arabien (‘Umra und Ḥaǧǧ) zu finanzieren (vgl. Steimann 2005). Teilweise profitieren auch andere Familien und Nachbardörfer von den indirekten Auswirkungen der Rücküberweisungen, indem isolierte Gebiete in die nationale Wirtschaft integriert wurden (z.B. durch verbesserte Transportmöglichkeiten) (vgl. Burki 1984: 683; Nichols 2011: 148). Diese in der Sekundärliteratur vorherrschende Einschätzung wird auch von einflussreichen pakistanischen Migrationswissenschaftlern wie GAR_ISL vom Pakistan Institute of Development Economics (PIDE) in Lahore geteilt:
„As far as the positive side is concerned, migrants’ families are not starving and live in better houses. Some of them have moved away from their villages to Lahore and Karachi. They are capable of purchasing land and a house although the land prices have increased tremendously. They are also feeding their children well and some of them are studying abroad, in England, Australia and Malaysia, Singapore. That is a positive impact“ (GAR_ISL, Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:11:57-9#).
Somit hat die jahrzehntelange Migration eine neue pakistanische Mittelschicht entstehen lassen, die von sozioökonomischer Mobilität geprägt ist (vgl. Arif 2016: 265; Mckenzie/Rapoport 2007) und von historisch gewachsenen Netzwerken der Kettenmigration oder des „circulatory regimes“ (Markovits 2003: 3) profitiert, was auch JAK_ISL vom Migration Management Department des Registration Center der ILO bestätigt: „If a person from one family get the chance to go to Saudi Arabia, he used to bring other people to the same company abroad“ (JAK_ISL, Interview, 29.02.2016, Islamabad, #00:04:32-5#). Individuen und Haushalte, die vorher nur marginal in die Volkswirtschaft integriert waren, erfahren durch Migration gesellschaftlichen und sozioökonomischen Aufstieg (vgl. Shah 2016). So liegen die Einkünfte von Familien, die auf Rücküberweisungen zurückgreifen konnten, 17,3% höher als bei Familien ohne Unterstützung durch im Ausland arbeitende Angehörige (vgl. Ahmed et al. 2010: 27).
Aufgrund dieser signifikanten Bedeutung der Rücküberweisungen betonen die von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen, dass Migration ausschließlich auf das Phänomen der Gewinnmaximierung reduziert werde, soziale Missstände aber unberücksichtigt bleiben. So sagt z. B. REH_LAH von HRCP:
„(...) We are only interested in sending people. We don’t even care about them. They only send unskilled labour and they never thought of sending skilled labour over there“ (REH_LAH, Interview, 29.01.2016, Lahore, #00:29:48-3#).
Viele der untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen aus den Medien sehen diese Sichtweise ähnlich kritisch (vgl. BAD_ISL, Interview, 25.02.2016, Islamabad; RAI_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore; NOB_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore), da dadurch der kollektive Druck auf die Migranten seitens ihrer Familien sowie die hoffnungsvolle Euphorie auf den zu erwartenden sozialen Aufstieg nach ihrer Rückkehr unterschätzt wird (vgl. auch Gardner 2012: 47f.). Die Migranten müssen eine enorme soziale Verantwortung übernehmen, betont Migrationswissenschaftler GAR_ISL vom PIDE, werden sie doch von ihren daheimgebliebenen Familien zur einzigen Hoffnung stilisiert, die soziale und wirtschaftliche Misere zu überwinden. Immerhin haben die Rücküberweisungen auch eine Kultur der Selbstzufriedenheit bei den daheimgebliebenen Familien etabliert, die negative Auswirkungen auf die pakistanische Volkswirtschaft habe:
„It (Migration, d. Verf.) has created inflation in Pakistan because the family members are not working but they got money to spend and the prices of commodities are too high now. That creates a negative impact on our economy and they are not investing in anything except sending money to their families“ (GAR_ISL, Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:08:00-5#).
Diese individuelle, familiäre und staatliche Abhängigkeit von den Rücküberweisungen manifestiert den Rahmen für die limitierten Möglichkeiten, die Benachteiligungen durch Migration öffentlich sichtbar zu machen und medial auszuhandeln. Den neuen Öffentlichkeitsakteur*innen ist weitgehend bewusst, dass trotz aller Entbehrungen die Entscheidung, nach Saudi-Arabien auszuwandern, durch wirtschaftliche Zwänge motiviert ist und daher bestehende Risiken und Befürchtungen für die Migranten und ihre Familien irrelevant und auch vom Staat als Profiteur der Rücküberweisungen kaum berücksichtigt werden (vgl. RAI_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore; RAF_LAH, Interview, 06.02.2016, Lahore). Sie bewerten somit die aus der Migration neu entstehenden Perspektiven zum sozialen Aufstieg einerseits als Chance, die wirtschaftliche Situation der Betroffenen sowie des pakistanischen Staatshaushalts zu verbessern. Andererseits sehen sie die Haltung vieler Migranten, sich trotz der bestehenden Gefahren ohne ausreichende Vorbereitung in die Migration zu begeben, als gravierenden Missstand, der durch die auf Rücküberweisungen fixierte Haltung der Gatekeeper*innen noch gefördert wird. Damit wird die strukturelle Gewalt innerhalb des Migrationssystems teilweise legitimiert oder zumindest unwidersprochen akzeptiert. Die Position meiner Gesprächspartner*innen zeugt daher von einer ambivalenten Haltung gegenüber der Maximierung der Rücküberweisungen, weisen sie doch in ihrem Engagement auf die Benachteiligungen von Migration aufgrund der bestehenden Gewinnoptimierung hin und wollen in diesem Bereich zu einer medialen Diskussion und einem Umdenken der beteiligten Akteur*innen sorgen. Auswanderung wird so zu einem prekären Dauerzustand, in den viele Migranten und ihre Angehörigen übertriebene Hoffnungen projizieren. Diese Haltung reduziert die Handlungsspielräume der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen, sich gegenüber den traditionellen Gatekeepern*innen zu behaupten und eine differenzierte Diskussion im pakistanischen Teilbereich der medialen Öffentlichkeit zu Migration zu etablieren. Gleichzeitig wissen sie um die temporäre Volatilität der Migrationsflüsse, die von den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen im Empfängerland abhängen und sich somit kurzfristig zum Nachteil der Migranten verändern können, was auch das Volumen der Rücküberweisungen beeinträchtigt.
Insbesondere die Nationalisierungskampagnen des saudischen Arbeitsmarktes wie das Niṭāqāt-Programm (siehe Kapitel 1) werden von den meisten Gesprächspartner*innen als Gefährdung für die Perspektiven der pakistanischen Arbeitsmigration ins Königreich bewertet, da vor diesem Hintergrund die Ausweisung von pakistanischen Migranten droht, wie der Politikwissenschaftler IMG_ISL feststellt:
„Es gibt also das Risiko, dass Saudi-Arabien Pakistanis ausweisen hätte können, damit die Pakistaner nicht mehr nach Saudi-Arabien kommen können. Das würde ein doppeltes Risiko bedeuten: Verlust der Rücküberweisungen und Verlust der Jobs und gleichzeitig eine zusätzliche Belastung für den pakistanischen Arbeitsmarkt.“ (IMG_ISL, Interview, 25.02.2016, Islamabad, #00:04:54-6#).
Damit bezieht er sich vor allem auf die sogenannten undokumentierten Migranten76: So erhielten Arbeitskräfte, die sich angeblich illegal im Land aufgehalten hatten, zwischen Mai und November 2013 die Möglichkeit, sich offiziell registrieren zu lassen und so ihrer Deportation zu entgehen. Um diese Regulierung zu kontrollieren, führten saudische Sicherheitskräfte und die Polizei bis November 2013 insgesamt 20.703 Razzien in Unternehmen durch und gingen dabei häufig brutal gegen Migranten vor (vgl. Rajan/Joseph 2017: 283). Auf diese Razzien beziehen sich auch die in der Einleitung erwähnten Künstler von Khalli Walli. Dieses rigide Vorgehen zeigte Wirkung: Am Ende dieser Periode sollen sich 5,3 Millionen Migranten registriert haben (vgl. Shah 2014), während etwa eine Million in ihre Heimatländer deportiert wurde, darunter mehr als 33.000 Pakistaner (vgl. Shah 2016). Insgesamt wurden zwischen 2012 und 2015 aus allen Empfängerländern 242.817 pakistanische Migranten abgeschoben, davon mehr als die Hälfte aus Saudi-Arabien (vgl. BEOE 2015a: 21). Im ersten Halbjahr 2017 ging die Zahl der nach Saudi-Arabien reisenden Migranten um 75% zurück (vgl. BEOE 2017), was als weitere Auswirkung der Nationalisierungs- und Regulierungspolitik gesehen werden kann. Als Konsequenz kamen einige von Migranten dominierte Wirtschaftssektoren wie im Bau- oder dem Dienstleistungsbereich kurzzeitig fast vollständig zum Erliegen, weil kein adäquater Ersatz für die ausgewiesenen Migranten gefunden werden konnte.77 Auf diese Statistiken bezieht sich auch BUK_LAH vom MRC Lahore und setzt die Ausweisung von pakistanischen Migranten mit den sich fundamental ändernden Rahmenbedingungen in Saudi-Arabien in Beziehung – was er in seiner eigenen Familie erlebt:
„My brother-in-law was in Saudi Arabia and my wife spent 15 years there. The whole family was there about 20 years. But now the situation has changed. Inflation has risen in Saudi Arabia, terms of conditions are going to be tightened. In addition, Saudi Arabia wants to replace the foreign workers with nationals. This has created a situation that Pakistanis are thinking to come back or move to other destinations“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:07:59-1#).
Ein dauerhafter Exodus hätte dramatische Folgen für die pakistanische Gesellschaft und Wirtschaft, da zum einen die Mehreinnahmen aus den Rücküberweisungen reduziert und zum anderen der Bedarf an Arbeitsplätzen im Inland weiter anwachsen würden. Beide Phänomene könnten aufgrund der mangelhaften wirtschaftlichen Kapazitäten nicht bewältigt werden. Ohne eine langfristig angelegte Migrationsstrategie könnten die „Saudisierungskampagnen“ katastrophale Auswirkungen mit sich bringen, auf die das politische System in Pakistan nicht vorbereitet sei, pflichtet ihm sein Kollege von CIMRAD bei (vgl. ZAF_LAH, Interview, 22.01.2016, Lahore).
6.2 Das Kafāla-System in Saudi-Arabien: Kritik an der systemischen Ausbeutung im Migrationsprozess
Südasiatische Arbeitsmigration nach Saudi-Arabien ist geprägt von struktureller Gewalt, systemischer Ausbeutung und den stetigen Unsicherheiten im Entsendeland vor, während und nach dem Rekrutierungsprozess. So bestimmen bis zu 15 Stunden lange Arbeitstage, ungenügende Unterbringung in nicht-klimatisierten Containern und mangelhafte Schutzmaßnahmen auf den Baustellen, häufig nicht geleistete medizinische Versorgung sowie ausbleibende Lohnzahlungen vielfach die Lebenswirklichkeit pakistanischer Migranten im Servicebereich oder Baugewerbe. Insbesondere im häuslichen Bereich wird immer wieder über Vergewaltigungen, physische und psychische Misshandlungen durch Stockhiebe und Stromschläge, Säure- und Giftangriffen, Verbrennungen durch heißes Wasser, Schlaf- und Nahrungsentzug, Hausarrest oder dem Entzug der Bewegungsfreiheit berichtet (vgl. HRW 2008; HRW 2004). Diese prekären Arbeitsbedingungen werden von den untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen in ihrem medialen Engagement über unterschiedliche Instrumente adressiert: Eines ihrer wesentlichen Ziele ist es, die sozialen und menschenrechtlichen Auswirkungen des Migrationsprozesses sichtbar werden zu lassen und damit das bestehende Narrativ zum wirtschaftlichen Nutzwert der Migranten in Frage zu stellen. Als Hauptursache dieser Missstände nannten viele der neuen nationalen Öffentlichkeitsakteur*innen das Kafāla-System.
Mit dieser Argumentation bewegen sie sich in einer Forschungsdiskussion, die als Grundlage der systemischen Ausbeutung ebenfalls jenes Bürgschaftssystem nennt (vgl. Beaugé 1986; Thiollet 2011b; Dito 2014). Während in Privatunternehmen gewisse juristische Auflagen im Bereich des Arbeitsschutzes einzuhalten sind, bewegen sich vor allem südasiatische Hausangestellte in einem rechtsfreien Raum und sind weitgehend abhängig von ihrem Bürgen (kafīl), da der häusliche Bereich explizit vom saudischen Arbeitsrecht ausgenommen ist.78 Im saudischen Arbeitsgesetz von 1969 ist festgelegt, jede ausländische Arbeitskraft unter der Bürgschaft eines saudischen Arbeitgebers (kafīl) anstellen zu müssen (vgl. Labor Affairs Agency 1969). Das Kafāla-System bietet den politischen und juristischen Hintergrund für das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber*in (dem/der Bürg*in) und Arbeitnehmer*in (dem/der Arbeitsmigrant*in), welches ein asymmetrisches Machtgefüge bildet (vgl. Chaudoir 2010; Diop et al. 2015): In ihm verfügt der kafīl über eine enorme Verfügungsgewalt, da er den ausländischen Migranten u. a. dem Reisepass abnehmen, deren Bewegungsfreiheit kontrollieren und vertragliche Absprachen modifizieren kann. Insbesondere in der legalisierten Konfiszierung des Reisepasses liegt eine hohe symbolische Bedeutung, da diese Interaktion zwischen kafīl und Arbeitnehmer*in von Beginn des Vertragsverhältnisses „the premises for the dyadic relationship of power and dependency“ konstituiert (vgl. Longva 1997: 97). Der kafīl kann ein einseitiges und oftmals fristloses Kündigungsrecht aussprechen (vgl. Dito 2015: 82f.). In einem solchen Fall erlischt die an die spezifische Arbeitsstelle gebundene Aufenthaltsgenehmigung (iqāma) für den Migranten, der daraufhin unverzüglich das Land verlassen oder sich in den irregulären Aufenthalt begeben muss und damit Gefahr läuft, ausgewiesen zu werden (vgl. Winckler 2010; Baldwin-Edwards 2011). „Because the state deals only with the employer as the sole owner of the work permit, the migrant is therefore excluded from any possibility of having a say in these (…) factors” (Dito 2015: 83). Aufgrund dieser Charakteristika wird das Kafāla-System von der UN-Generalversammlung auch als „source of abuse and exploitation of migrants“ bezeichnet (UN 2014: 7). Das Kafāla-System beruht in einer rentenbasierten Gesellschaft (siehe Kapitel 1) auf Exklusion, um den Kreis der Günstlinge staatlicher Zuwendungen zu limitieren und die Einnahmen aus den raren Ressourcen an exklusive Empfänger zu verteilen (vgl. Kamrava 2012: 9; Springborg 2013: 302).
Das Kafāla-System existiert in allen golfarabischen Monarchien sowie anderen arabischen Ländern wie z. B. Jordanien. Dabei basiert es in diesen Ländern auf ähnlichen rechtlichen und sozialen Grundlagen, wird aber im Detail anders ausgestaltet. Es wird also deutlich, dass es sich bei der Diskussion um das Kafāla-System keineswegs um eine ausschließlich nationale Angelegenheit der Golfmonarchien, sondern vielmehr um ein transregionales Phänomen handelt, welches in unterschiedlichen Ausformungen in allen arabischen Golfmonarchien das Zusammenleben zwischen Staatsangehörigen und Migranten, die Lebenswirklichkeiten der Letztgenannten sowie das Verhältnis zwischen Empfänger- und Entsendestaaten prägt. Mittlerweile hat sich auch die Überzeugung in der Forschung durchgesetzt, dass das Kafāla-System zur kulturellen Sinnstiftung beiträgt und damit viel mehr als ein Mittel zur sozioökonomischen Ausbeutung darstellt. Dementsprechend reichen die Einschätzungen in der Literatur von negativen Zuschreibungen im Sinne einer modernen Form der Sklaverei bis hin zu durchaus differenzierenden Perspektiven, die im Kafāla-System auch eine Möglichkeit zu intensiviertem Austausch zwischen Migranten und Staatsangehörigen sehen, was integrativ wirken kann. Interessante Untersuchungen sind hierzu vor allem zu den kleineren arabischen Golfmonarchien erschienen. So betont Salazar Parreñas, dass es nicht ausreiche, nur die extremen Formen von struktureller Gewalt im Rahmen des Kafāla-Systems zu adressieren, sondern stattdessen eine differenzierende Darstellung der Lebenswirklichkeiten von Migranten angestrebt werden müsse, um der Heterogenität ihrer Situation gerecht werden zu können. Aus ihrer Sichtweise greife es zu kurz, Migranten auschließlich als Opfer und Bedürftige darzustellen. Stattdessen seien sie Treiber einer transregionalen Mobilität, die sich gleichsam auf Entsende- sowie Empfängerstaaten auswirke, sodass eine Dichotomie in „Opfer“ und „Täter“ deutlich zu kurz greife (vgl. Salazar Parreñas 2005; 2008). Diese eher differenzierte Sichtweise spiegelt sich jedoch bei den Aussagen der untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen nur rudimentär wider, was ich in der Schlussbetrachtung detaillierter ausführe.
Die Herkunft des Kafāla-Systems ist in der Forschung umstritten. Die meisten Expert*innen in der Wissenschaft führen es auf eine beduinische Tradition zurück, Fremden Schutz und Obdach zu gewähren (vgl. Beaugé 1986; Lucas/Richter 2012: 5; Asia Pacific Mission for Migrants 2014: 24; Longva 1997: 78), für deren Verhalten verantwortlich zu sein und für deren Sicherheit zu bürgen (vgl. Bajracharya/Sijapati 2011), aus diesen Besuchen aber auch Profit zu schlagen (Gardner 2010: 139). Andere Studien verfolgen allerdings den Ansatz, dass die Entwicklung des Kafāla-Systems auf die britische Kolonialherrschaft in den sogenannten Trucial States, den kleineren arabischen Golfmonarchien und hier zuerst in Bahrain im Jahr 1913, zurückzuführen ist, „not as an age-old practice in the Arabian Peninsula from time immemorial but as a very modern product of British colonial practices to control“ (AlShehabi 2019: 19f.). Die britische Verwaltung in Oman begann 1915, die Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften zu kontrollieren. Es folgten Kuwait 1925 sowie Katar 1938 (vgl. AlShehabi 2019: 18). So verantwortete und kontrollierte die britische Verwaltung seit den 1920er Jahren und vor allem nach Beginn der kommerziellen Ölproduktion bis in die 1970er Jahre die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften aus arabischen Nachbarländern sowie aus Indien und Pakistan entweder selbst oder delegierte das Rekrutierungsrecht an lokale Gruppen (vgl. AlShehabi 2019: 3).
Für viele Beobachter*innen gilt das Kafāla-System als eine Fortsetzung der Sklaverei (vgl. HRW 2004), die in Saudi-Arabien 1962 abgeschafft wurde: „Some of these problems echo the characteristics of slavery and feudal-like relationships (...)“ (Dito 2015: 89). Bis 1917 kontrollierte das Osmanische Reich vor allem die Küstenregion am Roten Meer um die Hafenstadt Dschidda und damit auch den Transport von Sklav*innen nach und aus dem Ḥiǧāz.79 Das Interesse des Osmanischen Reiches konzentrierte sich hauptsächlich auf die Pilgerströme in die beiden heiligen Stätten Mekka und Medina, die ebenfalls wie Dschidda im Ḥiǧāz liegen.80
Jährlich sollen bis zu 25.000 Sklav*innen über den Persischen Golf transportiert worden sein, die zumeist an der omanischen Küste anlandeten. Dabei diente Oman nur als Umschlagplatz für den regionalen Sklav*innenhandel, da mehr als die Hälfte der Sklav*innen weitertransportiert wurde (vgl. Sheriff 2005: 104). Die Handelsrouten führten von Ostafrika über das Rote Meer nach Zentralarabien und den Irak sowie über Oman nach Iran und über den Indischen Ozean. Zwar ging der Sklav*innenhandel in dieser Region bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich zurück, da die Briten ihren Einfluss vor allem seit 1882 in Ägypten ausweiteten und das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel und somit seine Kontrollbefugnisse im Ḥiǧāz nicht mehr aufrechterhalten konnte. Doch zum Erliegen kam die Sklaverei nicht (vgl. Campbell 2005: 10). Da es durch die Dampfschifffahrt noch mehr Pilger*innen möglich war, die Ḥaǧǧ nach Mekka und Medina zu unternehmen, wirkte sich dies auf die infrastrukturellen Anforderungen in den Pilgerstätten aus: Mehr Unterkünfte und Versorgungszentren für die muslimischen Pilger*innen aus aller Welt wurden benötigt, was den Bedarf an Arbeitskräften und sogleich auch die Zahl der Arbeitssklav*innen erhöhte (vgl. Fernyhough 1989). Sie arbeiteten als Hausbedienstete, wurden bei der Dattelernte, als Viehhirten, Wasserträger*innen, Kamelreiter*innen, Köch*innen oder Waschfrauen eingesetzt. Einige Frauen wurden als Konkubinen für tribale oder lokale Notablen versklavt. Eunuchensklaven bewachten al-Ka‘ba in Mekka oder dienten in Harems (vgl. Miers 2005: 121). Weiterhin wurden Arbeitssklav*innen von vielen Pilger*innen in Zentralarabien verkauft, um die Kosten für die Pilgerfahrt zu decken (vgl. Lewis 1990: 81). Die Möglichkeit, sich freizukaufen oder freigelassen zu werden, bestand nur für eine Minderheit, sodass vielen nur die Flucht blieb (vgl. Miers 2005: 123).
1934 sollen sich noch etwa 40.000 Sklav*innen im Westen Saudi-Arabiens befunden haben, wenngleich sich die Zahl aufgrund der wirtschaftlichen Depression zu Beginn der 1930er Jahre bereits reduziert hatte und die Preise für Arbeitssklav*innen kontinuierlich gesunken waren (vgl. Miers 2005: 124). Ibn Sa’ūd versuchte nach der Eroberung des Naǧd und des Ḥiǧāz, mit den Briten einen Vertrag zu schließen, in dem diese garantieren sollten, auf konsularische Manumission zu verzichten, was die jedoch ablehnten. Erst 1936, vier Jahre nach der Gründung des Königreiches Saudi-Arabien, gingen die Briten auf seine Forderung ein, da durch die Entdeckung des Erdöls Ibn Sa’ūd nun zu einem wichtigen Geschäftspartner geworden war und das Königreich an strategischer und ökonomischer Bedeutung gewonnen hatte (vgl. Klein 2005: 212). 1951 schätzte man die Zahl der Sklav*innen im gesamten Königreich auf 50.000. Sie kamen zumeist aus Äthiopien, Somalia, Sudan, Westafrika und Balutschistan. Erst unter Ibn Sa’ūds Sohn, König Sa’ūd (reg. 1953-1964), entwickelte sich eine Diskussion um die Abschaffung der Sklaverei.81 Diese wurde auch durch externe Faktoren beeinflusst: Wie bereits dargelegt wurde, geriet die saudische Führung in Konflikt mit dem ägyptischen Präsidenten Ǧamāl ‘Abd an-Nāṣir, der das Königshaus auch wegen der weiterhin bestehenden Sklaverei kritisierte. Diese Vorwürfe wirkten sich negativ auf die Reputation und die Vorbildfunktion der saudischen Führung als religiöse Gestaltungsmacht aus und trugen mit dazu bei, dass Sa’ūd im Juni 1962 ein königliches Dekret erließ, welches den Sklavenhandel offiziell verbot. Im Zuge dessen wurden die Freilassung der restlichen 15.000 bis 30.000 Sklav*innen, von denen sich etwa 70% im Besitz der Āl Sa’ūd befanden, und Kompensationszahlungen an die Besitzer angeordnet.
Trotz oder gerade wegen dieser historischen Entwicklung sehen viele der von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen das Kafāla-System als Basis für die systemische Diskriminierung der Migranten, wie es z. B. der National Programme Officer des SALM-Projekts im MRC Islambad verdeutlicht (vgl. HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:14:32-7#). Er bezieht sich in seiner Einschätzung u. a. auf weit verbreiteten Missbrauch während des Rekrutierungsprozesses, der in der Literatur umfassend dokumentiert ist: Viele Bürgen erwerben das Recht, Arbeitsmigranten rekrutieren zu dürfen, obwohl sie nur eine geringere Anzahl für den Eigenbedarf benötigen. Diese zusätzlichen Arbeitskräfte transferieren sie an andere saudische Arbeitgeber*innen gegen eine Vermittlungsgebühr weiter (vgl. Harroff-Tavel/ Nasri 2013: 16). Aufgrund dieser Praxis des Visahandels (tasattur) hat sich in Saudi-Arabien ein lukrativer Markt entwickelt, in dem „fake kafīls“ sogenannte „free visas“ (Āzād wīzā) ausstellen und über die Provisionen attraktive Gewinne generieren können.82 Im Zuge einer durch den Staat initiierten Liberalisierung gelang es mithilfe dieser Praxis einer kleinen Gruppe saudischer Investoren, ihren engen Kontakt zu einflussreichen Eliten der Königsfamilie zu ihrem Vorteil zu nutzen und sich weitere Annehmlichkeiten zu sichern (AlShehabi 2015: 35). Der sich daraus entwickelnde „crony capitalism“ (Baumol et al. 2007) förderte auch die Entstehung von „minor rentiers“ (Dito 2015: 94), da Staatsangehörige nicht mehr nur als Empfänger*innen die staatliche Alimentierung genossen, sondern als Investor*innen und Eigentümer*innen neue Privilegien und Einnahmemöglichkeiten erschließen konnten und sich eine „nouveau riche“ herausbildete (ebd.). Vor diesem Hintergrund entstand ein semi-legales Geschäftsmodell, welches saudische Staatsangehörige allein aufgrund ihrer Nationalität in die Lage versetzt, bei der Arbeitgebervermittlung attraktive Provisionen zu generieren. Darüber hinaus kaufen solche „Scheinbürgen“ den Migranten oftmals gegen eine Gebühr das Recht ab, sich einen neuen Bürgen zu suchen, was letztere unweigerlich in die illegale Beschäftigung bringt, wie der Vertreter des MRC in Lahore ausführt:
“If I’m a Saudi kafil and I’ve nothing to do but I do have the authority from the government that I can hire individuals from anywhere in the world. That is right for each and every Saudi citizen. I don’t have to look after those people and I don’t have to provide them with work. What I can do is to hire 50, 100, 200 people and say to those people: Ok, I hire you and you can work whatever you like to do in the kingdom. But you have to give me 1,000 Riyal per month. I’ll keep your passport and if you don’t pay me I just sack you” (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:25:07-6#).
Dieses Vorgehen führt dazu, dass unregistrierte Migranten keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung erhalten, weswegen sie jederzeit damit rechnen müssen, inhaftiert oder deportiert zu werden (vgl. Hertog 2014) – wie die Ausweisungskampagne 2013 zeigte. Weiterhin wird ihr im Vorfeld ausgehandelter Vertrag, in dem ihnen ein bestimmtes Gehalt sowie Aufgabengebiet zugesagt wurde, von den neuen Bürgen oftmals nicht akzeptiert, sodass sie deutlich weniger Geld verdienen bzw. in anderen als zuvor abgesprochenen Berufszweigen – häufig unterhalb ihrer eigentlichen Qualifikation – arbeiten müssen, so der Repräsentant der BLLF.
„Three or four of our workers were sent to Saudi Arabia as auto mechanics but after their arrival their employers shifted them to different types of jobs which is illegal. There is a rule that if you employ a worker for let’s say Medina Auto Workshop, you have to put him into that particular job. That is the rule. But people engage and employ on the name of one kafil and then out them in other jobs and other places“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:35:55-4#).
Dessen Aussage wird von wissenschaftlichen Erhebungen gestützt: Manchmal müssen Migranten nach ihrer Ankunft neue, in der Entlohnung 8-10% schlechter dotierte Arbeitsverträge unterzeichnen (vgl. Arif 2009: xii). Dieser einflussreichen Lobby an „Scheinbürgen“ gelingt es immer wieder, notwendige Reformmaßnahmen der Regierung zu verhindern oder zu verzögern, denn: „This person, who is doing nothing and is just getting 100,000 Riyal per month wants to continue this sort of income. He can improve his livelihood, his personal income, his welfare“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:25:39-2#). Adäquate Beschwerdekanäle existieren nicht, da gewerkschaftliche Organisationen in Saudi-Arabien verboten sind und auch die Konsulate oder Botschaften der jeweiligen Heimatländer häufig keinen Handlungsspielraum sehen oder die bestehenden Probleme ignorieren (vgl. HRW 2004: 4).
Interviewte Vertreter*innen pakistanischer Regierungsinstitutionen sehen in solch kritischen Bewertungen jedoch eine unverhältnismäßige Dämonisierung Saudi-Arabiens. Sie betonen stattdessen, dass die saudischen Behörden in der Vergangenheit durchaus Reformen im Kafāla-System angeregt hätten (vgl. JAK_ISL, Interview, 29.02.2016, Islamabad). In der Tat hat aufgrund der massiven internationalen Kritik nicht nur in Saudi-Arabien, sondern in allen arabischen Golfmonarchien eine kontroverse Diskussion über das Kafāla-System eingesetzt. So soll es in unterschiedlicher Form reformiert, modifiziert und modernisiert werden, ohne es uneingeschränkt abzuschaffen.83 „(…) We cannot overlook the vast reputation costs of the kafala for the Gulf countries. As criticism grows, these regimes become the target of unwanted negative publicity for their treatment of workers“ (Diop et al. 2018: 38). Ein Auslöser dafür waren die Berichte von Unfällen auf Baustellen in der Vorbereitung der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar (vgl. Amnesty International, o. J.; HRW 2012).
In Saudi-Arabien wurden 2012 Vorschläge vorgelegt, die individuelle Bürgschaft in die Verantwortung des Arbeitsministeriums zu überführen sowie einen Versicherungsschutz für Migranten anzubieten. Es sollte verboten werden, den Pass einzubehalten (vgl. Maleb 2015). Weiterhin führten im August 2013 das Ministry of Labour gemeinsam mit der Saudi Arabian Monetary Authority (SAMA) eine Mindestlohnpolitik ein, die sich zuerst an mitarbeiterstarke Unternehmen im Privatsektor richtete und bis Februar 2017 auf kleine und mittelständische Unternehmen ausgeweitet wurde (vgl. Ministry of Labour and Social Development 2016). Diese Politik billigt Arbeitskräften z. B. das Recht zu, ihren Bürgen zu wechseln, sollten sie drei Monate keinen Lohn erhalten haben (naqal kafāla) (vgl. Jureidini 2018: 15). Scheinbürgen, die illegal Arbeitsmigranten ins Land schleusen, werden seit April 2013 mit einer Strafe von 133 bis 267 US-Dollar sanktioniert (vgl. Casséus 2014). Es wurden bilaterale Abkommen zwischen Saudi-Arabien und Indien, den Philippinen, Sri Lanka und Indonesien geschlossen, um Hausangestellte besser zu schützen (vgl. Rajan/Joseph 2014). Im selben Jahr wurde das Musānid-Programm eingeführt, das den Schutz von Angestellten in Privathaushalten vorantreiben will, Anlaufstellen für Beratung und Beschwerden bietet, die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeiten und die Zahlung von Löhnen kontrollieren soll. 2015 wurden weitere dieser Überlegungen in bestehendes Recht überführt, wodurch die Konfiszierung von Reisepässen und einbehaltende Löhne ebenso mit Strafzahlungen belegt wurde, wie die Weigerung, Kopien der Arbeitsverträge an die Mitarbeiter*innen auszuhändigen (vgl. Hannan, 26.10.2015). Ähnliche Reformen fanden auch in den kleineren arabischen Golfmonarchien statt, eine generelle Abschaffung des Kafāla-Systems erfolgte bislang jedoch in keinem dieser Länder, obwohl dies in allen Golfstaaten – vor allem in Katar – intensiv diskutiert wird (vgl. u. a. Diop et al. 2018; Zahra 2015; Rahman 2011b; Diop et al. 2015).
Für die meisten untersuchten Akteur*innen gilt das Kafāla-System trotz dieser Reformen weiterhin als Symbol der Unterdrückung pakistanischer Migranten, als Sinnbild für die asymmetrischen Machtverhältnisse innerhalb des Migrationsprozesses sowie als Legitimator struktureller Gewalt und Ausbeutung, bei der Arbeitsmigranten oftmals als auszunutzende Arbeitskräfte angesehen werden, die behandelt würden „wie Tiere“, wie der Gewerkschaftsfunktionäre der Muttahida Labour Federation HAM_LAH betont. Aus dieser Sichtweise ziehen viele Öffentlichkeitsakteur*innen eine wesentliche Motivation, die strukturellen Benachteiligungen pakistanischer Migranten in der medialen Arena pakistanischer Öffentlichkeit zu verhandeln und für ihre Sichtbarkeit zu sorgen, um damit die mangelhaften Schutzmechanismen der pakistanischen Migrationspolitik zu kritisieren.
6.3 Irreguläre Migration: Asymmetrische Machtverhältnisse und daraus resultierende Unsicherheit der Migranten vor dem Hintergrund des Kafāla-Systems
Irreguläre Migration wird im Rahmen des Kafāla-Systems durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst, sodass es sich dabei um ein komplexes, fluides und dynamisches Phänomen und nicht immer um einen erzwungenen Zustand handelt (vgl. Dito 2015: 95). Viele Migranten emigrieren freiwillig auf illegalem Wege, da sie sich die hohen Migrationskosten nicht leisten können (vgl. Arif 2009: 30).
„As far as the migrant workers perspective is concerned, they think: I have the skills and I have a lot of friends inside Saudi Arabia who can help me to find a suitable job. They just have to manage to enter Saudi, then they will find a job in a relatives or a friends store or restaurant. They can work as freelancers. They do not need to work for a Saudi company, they can work for their cousins for instance“ (Taha Siddiqui, Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:27:32-3#).
Sollten Migranten aus einem der Aufnahmeländer bereits früher deportiert worden sein, ist es ihnen untersagt, in dieses Land erneut legal einzureisen. Schmuggel und Menschenhandel führen ebenso in die undokumentierte Beschäftigung, wie sich ohne reguläre iqāma weiter im Land aus beruflichen Gründen aufzuhalten.84 Diese Unsicherheiten tangieren auch die mentale Konstitution vieler Migranten: Aufgrund der hohen Migrationskosten, die in der Regel von Verwandten oder Bekannten getragen wurden, stehen die Migranten unter sozialem und finanziellem Druck, ihren Aufenthalt in Saudi-Arabien erfolgreich für sich und ihre Familie gestalten zu müssen. Viele schämen sich für ihre Situation und wollen ihre Angehörigen weder in Sorge versetzen, noch sie enttäuschen und vermitteln darum oftmals ein geschöntes und zu positives Bild ihrer Lebensumstände. So lassen sich die Migranten an freien Tagen vor Einkaufszentren und Touristenattraktionen fotografieren, um das Bild eines glücklichen und erfüllten Lebens zu präsentieren. Ebenso posten sie auf ihren Facebook-Seiten Bilder, die die Imagination einer zufriedenstellenden Existenz suggerieren, wie der Fernsehjournalist NAY_LAH bei einem Aufenthalt in Saudi-Arabien selbst beobachtete (vgl. Interview, 21.01.2016, Lahore). Diese Beeinträchtigungen werden aus Sichtweise der meisten Öffentlichkeitsakteur*innen in der politischen und öffentlichen Diskussion bislang kaum thematisiert (vgl. KAR_LAH, Interview, 01.02.2016, Lahore; AFR_ISL, Interview, 22.02.2016, Islamabad). Im Falle ausstehender Löhne leihen sich die Migranten Geld, um die versprochenen Rücküberweisungen leisten zu können und geraten somit in eine finanzielle Abhängigkeit, wodurch viele von ihnen hoch verschuldet in ihre Heimat zurückkehren (vgl. Gardner 2012: 54f.). Hinzu kommt eine Zunahme an innerfamiliärer Kriminalität, in der Verwandte oder Bekannte das Vertrauen des Migranten ausnutzen, um eigenen Profit zu generieren, ohne die versprochene Hilfe beim notwendigen Rekrutierungsprozess zu geben, so BUK_LAH vom MRC Lahore. Immer wieder berichten Migranten, die sich an ihn wenden, um Beratung und Unterstützung zu erhalten, von solchen oder ähnlichen Erfahrungen:
„They cannot imagine that a close relative or a good friend who recommends them to go abroad could do harm to them. Thus, it’s also about the trust between friends, within families (...) Everything is related to trust“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:44:12-1#).
Ein solcher Vertrauensbruch fragmentiert auch den innerfamiliären Zusammenhalt. Dies bringt Migranten in eine dauerhaft prekäre Situation, die unter Umständen Jahre oder Jahrzehnte andauern kann. Offizielle Zahlen liegen nicht vor, allerdings wurde der Anteil von Migranten mit irregulärem Status in den arabischen Golfmonarchien im Jahr 2001 auf 10% an der Gesamtbevölkerung und 15% an der erwerbstätigen Bevölkerung geschätzt. Mittlerweile könnte sich ihre Zahl noch erhöht haben, wie Studien aus dem Jahr 2017 andeuten (vgl. Rajan/Joseph 2017: 287).85 Weitere Auslöser für irreguläre Migration sind die Pilgerfahrten, die von vielen Migranten zum Anlass genommen werden, um im Anschluss im Königreich zu verbleiben, ihr Pilgervisum zu überziehen und sich auf dem Schwarzmarkt zu verdingen. Dies geschehe oftmals gar nicht in dem Bewusstsein, bestehendes saudisches Recht zu verletzen, wie BUK_LAH häufig von Migranten oder ihren Angehörigen berichtet werde:
„People do not know that it’s wrong in Islam to perform umrah or hajj illegally. Migrants often do the pilgrimage although they do not have a regular job inside Saudi. But this is illegal, this is forbidden and this is not acceptable in Islam“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:05:10-0#).
Die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen sehen es als Teil ihrer Aufgabe, auf die beschriebenen Versäumnisse im Rahmen ihrer medienstrategischen Vorgehensweise aufmerksam zu machen, politische Missstände zu kritisieren und Indikatoren und Implikationen innerhalb der pakistanischen Arena zu Migration zur öffentlichen Aushandlung zu stellen. Ohne eine solche öffentliche Diskussion könne keine ausreichende Sensibilisierung für das Schicksal der benachteiligten Migranten und ihrer Angehörigen erfolgen, was den Grad der sozialen Benachteiligung im Entsende- sowie im Empfängerland noch weiter erhöhe. Insbesondere wollen die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen für die Risiken möglicher illegaler bzw. irregulärer Migration sensibilisieren, um weitere Benachteiligungen der Migranten und ihrer Angehörigen zu verhindern.
6.4 Lebenswirklichkeiten der Migranten in Saudi-Arabien: Soziale Benachteiligung und Heimatsimagination
„These unprivileged, very poor people are looking at their visa as the one big chance of getting out of this circle. It’s happening for the last four, five decades and now it is a migration circle: Thus, a trend started. If I grew up in a family, there is not much work and I have not much to do, I see it as a prestige to migrate to the Gulf – for economic and religious reasons. Living in the country with the two holy places is a significant pull factor” (SOH_ISL, Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:08:31-4#).
Trotz der historischen Konstanz von Migrationsnetzwerken existiert keineswegs ein allgemein bekanntes Wissen zu den zu erwartenden Perspektiven im Empfängerland. Aus diesem Grund hat sich ein illusionäres Bild der Zustände in Saudi-Arabien verbreitet, welches als prägendes Narrativ die Sichtweise von zukünftigen Migranten auf die Lebenswirklichkeit im Empfängerland dominiert und verfälscht, was insbesondere von den Vertreter*innen der MRC bemängelt wird.
„The people think that Saudi Arabia is a brother Muslim country, a friend, but I think the way that Saudis treat Pakistanis in particular, is very bad. You have to experience these things to find out the reality. When they find out they realize that it’s too bad“ (HAY_ISL, Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:22:32-1#).
Auch in der Migrationsforschung wird dieses Phänomen diskutiert: Viele Migranten werden von weiten Teilen der saudischen Gesellschaft als nicht zu integrierende Außenseiter, als Bedrohung oder Symbol der kulturellen Überfremdung wahrgenommen (vgl. Fargues/Shah 2018: 1). Dies habe zu einer Kultur der „hyper alienation“ geführt, in der Migranten systematisch von den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen werden (vgl. AlShehabi 2015: 28) und „unsichtbar“ bleiben sollen (vgl. Vora 2013: 63). Diese stereotypen Fremdzuschreibungen erfolgen teilweise auch über die lokalen Medien, in denen Migranten aus unterschiedlichen Gründen stigmatisiert werden. Wie Falk am Beispiel der VAE analysiert, finden solche ethnisch motivierten Klassifizierungen insbesondere in den arabischsprachigen Medien statt:
„Vielmehr geht es um vorherrschende Zuschreibungen von Fremd- und Selbstbildern, die – bei aller Beharrlichkeit bestimmter Vorstellungen und Stereotype – einem ständigen Prozess der Veränderung und (Re-) Produktion unterworfen und in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu verstehen sind“ (Falk 2016: 4).86
Falk klassifiziert immer wiederkehrende mediale Erklärungsmuster, in denen Migranten für den Mangel an Arbeitsplätzen für emiratische Arbeitnehmer*innen verantwortlich seien (Arbeitsplätzeargument), häufiger kriminell auffällig (Kriminalitätsargument) und der emiratischen Wirtschaft aufgrund des abwandernden Kapitals in Form von Rücküberweisungen schaden würden (Argument der ökonomischen Belastung). Sie gelten als kulturelle Bedrohung aufgrund ihrer zahlenmäßigen Dominanz und seien daher in der Lage, die emiratische Bevölkerungsminderheit zu diskriminieren (Diskriminierungsargument) und die emiratische Identität auszulöschen (Identitätsargument):
„Emiratis erscheinen in dieser Darstellung als gesellschaftlich marginalisiert, als Opfer von Diskriminierung und Benachteiligung. Sie sind in ihrem Diskurs die eigentlichen Migranten, die Fremden im eigenen Land“ (Falk 2016: 172).
Auch wenn ähnliche Untersuchungen für Saudi-Arabien nicht vorliegen, können gewisse Parallelen in der medialen Wahrnehmung von Migranten als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Die auf „social divide“ (Gardner 2010: 96) und einer „dual society“ (Fargues 2011: 277) beruhende Arbeitsmarktpolitik wird auch im Königreich zum integralen Bestandteil einer Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung (vgl. Asfour 2006; Hudson 2006), um die nationale Identität in Abgrenzung zu den Einflüssen der Arbeitsmigranten zu „erfinden“ (Palik 2018: 105) und die lokalen, sprachlichen und sozialen Traditionen und das kulturelles Erbe (turāṯ) zu „bewahren“ (vgl. Hobsbawm/Ranger 1992). Die Trennung zwischen Staatsangehörigen (muwaṭin) und Migranten ist somit ein Versuch der Aufnahmegesellschaft, sich selbst in einer globalisierten Welt zu positionieren und abzugrenzen (vgl. Dresch 2006: 201). So wird Migranten in der Regel das Recht auf Einbürgerung verweigert (vgl. Longva 2005; Thiollet 2010; Longva 1997; Crystal 1995), da nur Kinder von männlichen Staatsangehörigen ebenfalls die Staatsbürgerschaft erlangen können (Prinzip der patrilinearen Sozialhierarchie): Es handelt sich um „restricted citizenship with unrestricted migration“ (AlShehabi 2015: 3). Migranten werden im Zuge dieses „negative othering“ (Palik 2018: 106) als Bedrohung und als Risiko für die nationale Einheit stigmatisiert, um den zumeist heterogenen und fragmentierten Gesellschaften, die sich durch unterschiedliche tribale, kulturelle, ethnische oder religiöse Strömungen (vgl. Ulrichsen 2017: 17) kennzeichnen, ein Gefühl der Einheit zu vermitteln. Arbeitsmigranten erhalten als „die Anderen“ innerhalb dieses Nationalismus keinen Platz. Damit versuchen die jeweiligen Herrscher, ihre zentrale Machtfunktion zu konsolidieren, was die ursprüngliche sozioökonomische „Nationalisierung“ des Arbeitsmarktes emotional-patriotisch auflädt und für politische Zwecke instrumentalisiert (Kinninmont 2017a). Das streng hierarchische Gesellschaftssystem in allen arabischen Golfmonarchien weist somit auch den meisten pakistanischen Arbeitsmigranten eine niedrige soziale Stellung zu, die von Ausgrenzung, Stereotypisierung und Xenophobie charakterisiert wird.87
Diese „‘persistence of temporariness‘ of migrant populations, which means they are neither temporary in reality nor permanent in status” (Dito 2015: 98) wirkt sich auf die Migranten und ihre Familien als enorme psychische Belastung aus. Zwar sind sie zu Beginn ihrer Migration ins Empfängerland davon überzeugt, dass es sich um einen zeitlich begrenzten Aufenthalt handelt, der nach drei oder fünf Jahren beendet sein wird, doch nicht selten weilen sie weitaus länger im Zielland. Längst ist somit die einstige Vorgabe des saudischen Staates, „Gastarbeit“ zeitlich zu begrenzen, zu einer permanenten Präsenz und einer „historischen Konstante“ geworden: Zwar werden die südasiatischen Arbeitsmigranten im saudischen Kontext noch immer als „Gastarbeiter“ (al-‘amāla al-wāfida, wörtlich „reisende Arbeitskraft“), als „ausländische Arbeitskraft“ (al-‘amāla al-ağnabīya), als „Nicht-Staatsangehörige“ (ġair muwāṭinūn) oder als „Expatriates“ (al-muġtaribūn) bezeichnet (vgl. Dehne 2010: 144; GLMM). Diese Termini implizieren einen temporär begrenzten Aufenthalt der Migranten im Königreich, um nach Ablauf ihres Arbeitsvertrages nach wenigen Jahren in die jeweiligen Heimatländer zurückzukehren. Doch vielen wurden ihre iqāma und ihre Arbeitsverträge um weitere Jahre verlängert, sodass die Durchschnittsverweildauer für einen pakistanischen Migranten in Saudi-Arabien bei 7,6 Jahren liegen soll (vgl. Arif 2010: 46).
Daraus erwächst die widersprüchliche Lebenswirklichkeit, nur temporär geduldet zu sein und darum die engen Bindungen an die Heimat nicht aufgeben zu wollen, obwohl man mitunter einen Großteil seines Lebens im Empfängerland verbringt. Unabhängig von den sozialen und rechtlichen Diskriminierungen ist diese emotionale Zerrissenheit, dieses „Gefangensein zwischen den Welten“, eine große Herausforderung für pakistanische Migranten, was auch die von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen feststellen (vgl. KAR_LAH, Interview, 01.02.2016, Lahore). In der Regel leben sie in einer kulturell fremden Heimat ohne ihre Familien, sehen diese sehr selten und kommunizieren mit ihnen zumeist nur über soziale Netzwerke. Dies verändert die persönlichen Bindungen an das familiäre Umfeld und dreht die einstigen Kristallationspunkte der individuellen Ambitionen um: Diente vor der Migration noch Saudi-Arabien als Ort der zu erfüllenden Wünsche, als religiöser und wirtschaftlicher Anker, um der sozialen Misere in der Heimat zu entfliehen, erwächst während des Aufenthaltes in Saudi-Arabien ein „Mythos der Rückkehr“ (Anwar 1979; vgl. auch Gupta/Ferguson 1992: 11). Dabei durchlaufen die Migranten häufig einen Prozess der Verklärung, der die alte Heimat überhöht und zu einem Hort der Selbstverwirklichung, der Sicherheit, der alten Werte und der Geborgenheit werden lässt. Pakistan wird zum neuen, alten Sehnsuchtsort der Migranten. Ihr eigentliches Leben findet in der Zukunft statt, die sie im Kreis ihrer Familie und Freunde in Pakistan sehen, während ihre Gegenwart als Übergangsstatus betrachtet wird, der kaum Relevanz für die individuelle Vorstellung von Glück und Selbsterfüllung besitzt. Der Aufenthalt in Saudi-Arabien ist notwendiges Übel, um sich die Vision eines besseren Lebens in der Heimat zu erfüllen. Dabei vergessen sie oftmals, dass aus einer eigentlichen Übergangs- rasch eine Dauerphase des eigenen Lebens geworden ist, welche nicht selten mehrere Jahrzehnte umfasst, wie es einige der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen beschreiben (vgl. WER_LAH, Interview, 04.02.2016, Lahore; SAL_LAH, Interview, 11.02.2016, Lahore; SHA_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore).
Diese Akteur*innen sehen darin eine doppelte Marginalisierung der Migranten: In der Heimat sowie im Aufnahmeland. Sie wollen diesen Umstand berücksichtigen, indem sie zukünftige Migranten über die zu erwartende Ungleichbehandlung informieren. So sollten sich Migranten nicht bis zur Selbstaufgabe assimilieren, wie Vertreter*innen des MRC berichten. Dies führe zu einer Manifestierung der ungleichen sozialen Beziehungen zwischen kafīl und Migranten, was ausgenutzt werden könne, um das asymmetrische Machtverhältnis zu festigen. Stattdessen sollen Migranten eine gewisse Balance zwischen Loyalität und Selbstbestimmung wahren. Sonst drohe die Gefahr, sich willenlos in das soziale System der Ausgrenzung zu fügen, was zusätzlichen Raum für weitere Diskriminierungen öffne oder sich in der grassierenden Kriminalisierung der Migranten durch mafiöse Akteur*innen niederschlage.
6.5 Kommerzialisierung von Migration: Rekrutierungsagenturen und die Genese mafiöser Netzwerke
„There is obviously a huge influential lobby group behind labour migration that is tremendously benefitting financially and economically from the current situation. Therefore, a controversial debate about social problems of labour migrants is not existing inside the Pakistani public because there are so many players behind it. They don’t want to solve the problems“ (SIA_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:11:19-7#).
Solche „Lobbygruppen“, welche von vielen neuen Öffentlichkeitsakteur*innen auch als „Mafia“ bezeichnet werden, profitieren vor allem von den Migrationskorridoren auf Süd-Süd-Ebene, da dort die rechtlichen Schutzmaßnahmen für die Migranten weder effizient noch Bestandteil der öffentlichen Debatte sind (vgl. RAZ_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore; AAL_LAH, Interview, 23.01.2016, Lahore). Die einzelnen Migrationsprofiteure sind über intransparente Netzwerke miteinander verbunden und fungieren als einflussreiche Gatekeeper*innen, um Diskussionen über irreguläre Migration und kriminelle Netzwerke in der von mir untersuchten Arena der pakistanischen Öffentlichkeit zu verhindern oder zu kontrollieren.
Im Rahmen der Rekrutierung beantragt ein saudischer Arbeitgeber beim Arbeitsministerium eine bestimmte Anzahl von Arbeitsvisa. Im Anschluss wendet er sich an eine private oder staatliche Rekrutierungsagentur (Overseas Employment Promoters, OEP), die mit Agenturen im Entsendeland zusammenarbeitet, die Migranten ins Land bringt und sich um die Formalitäten kümmert (siehe Abb. 5). Rekrutierungsagenturen vermitteln gegen eine hohe Gebühr asiatische Arbeitsmigranten an einen saudischen Arbeitgeber, organisieren das Arbeitsvisum und die Flugtickets. Allein in Pakistan existierten 2016 2.195 solcher offiziell registrierten Agenturen (vgl. BEOE 2016).
„Governments recognize the pivotal role recruitment agencies play in facilitating labor migration; without them, migration at the current scale would be impossible. At the same time, governments understand that, if left unregulated, agencies could abuse (at even higher rates than today) the very workers they are supposed to help, while increasing the cost of doing business for employers” (Agunias 2013).
Registrierte OEP erhalten vom pakistanischen Arbeitsministerium und dem Bureau of Emigration and Overseas Employment (BEOE) ihre offizielle Lizenz für eine Dauer von drei Jahren, die nach Ablauf verlängert werden kann (Arif 2009: 12). Doch nur eine geringe Anzahl der Agenturen lässt sich offiziell registrieren, um den hohen Lizenzkosten und der engeren Kontrolle durch die Regierungsinstitutionen zu entgehen. Stattdessen hat sich ein komplexer und intransparenter Markt an unregistrierten Rekrutierungsagenturen entwickelt. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Diese Agenturen schließen mit der Mehrzahl der interessierten Arbeitnehmer*innen bereits vor ihrer Ausreise Arbeitsverträge ab.88 Die Agent*innen fungieren als Vermittler*innen zwischen kafīl und der potenziellen Arbeitskraft im Entsendeland und arbeiten häufig mit lokalen Kontakten zusammen, die über die örtlichen Netzwerke verfügen, um passende Kandidaten zu identifizieren. Über dieses System können die Agenturen auf familiäre und lokale Räume begrenzte Migrationsnetzwerke zurückgreifen, die in Form von Kettenmigration (vgl. Gardner 2008; Vora 2008) dazu beitragen, generationenübergreifende Auswanderung zu etablieren, sodass mittlerweile die dritte Generation von Einwander*innen aus Südasien in Saudi-Arabien lebt und arbeitet. Dieses komplexe und hybride Rekrutierungssystem wird auch als „public-private partnership“ definiert (vgl. Thiollet 2016: 14).
Diese auf individuellen und kollektiven Wanderbewegungen beruhenden transkulturellen und translokalen Netzwerke sind über Generationen gewachsen (vgl. Gilbert 2002; Kour 2005). Bis heute greifen viele Rekrutierungsagenturen auf in Zeiten des Sklavenhandels und erzwungener oder freiwilliger Auswanderung entstandene Migrationskanäle zurück. Der Indische Ozean muss in diesem historischen Kontext als Kultur- und Zivilisationsraum verstanden werden, in dem unterschiedliche Gesellschaften über Handel etc. miteinander im Kontakt standen (vgl. McPherson 1998; Freitag 2004; Nichols 2011: 24).89 Diese Handelsbeziehungen, die sich über den Land- sowie den Seeweg ausbreiteten, bildeten die Grundlage für den später einsetzenden pazifischen Sklavenhandel und wurden von einflussreichen Händlerfamilien dominiert.
Besonders ab dem 17. Jahrhundert florierte der Sklavenhandel vom indischen Subkontinent über den Indischen Ozean in die unterschiedlichen Empfängerregionen in Afrika, Amerika, der Karibik, der Region des Persischen Golfes oder Europa und fand im 18. und 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. „Sklaverei war (...) ein dynamischer Bestandteil eines sich permanent verändernden, in globalen Bezügen vernetzenden und zunehmend kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftssystems, innerhalb dessen sie eine konstante wie flexible Größe darstellte“ (Mann 2012: 22). Für Mann schuf der Sklavenhandel „Zonen des Austauschs“ und „Zonen der Verdichtung“ im Arabischen Meer und dem Golf von Bengalen (2012: 31). Je mehr die europäische Präsenz im Raum des Indischen Ozeans anwuchs, umso umfangreicher engagierten sich die lokalen Händler*innen im Sklavenhandel, um die wachsende europäische Nachfrage befriedigen zu können. Die europäischen Kolonialmächte benötigten immer mehr Arbeitskräfte auf ihren Inselkolonien in der Karibik oder Afrika und suchten diese vor allem in Südindien, das so zu einer der wichtigsten „Fangregionen“ (Mann 2012: 123) wurde. Sklav*innen aus dem Indischen Ozean wurden vor allem nach Ost- und Südafrika, nach Madagaskar und in die Karibik verschifft. Auch die Bedeutung der Arabischen Halbinsel als Empfängerregion für Sklav*innen nahm an Bedeutung zu, wie bereits unter 6.2 erläutert wurde. Belegt ist auch, dass bereits ab 1641 indische Sklav*innen von holländischen und französischen Sklavenhändlern nach Réunion und Mauritius verschifft wurden.90
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich insbesondere in Großbritannien sowie in geringerem Umfang auch in Frankreich und den USA eine intensive Diskussion um die Abschaffung der Sklaverei, die in den folgenden Jahrzehnten zu einer einflussreichen Abolitionistenbewegung anschwoll.91 1834 kam es zur einheitlichen Abschaffung der Sklaverei, in den Westindischen Inseln folgte das Verbot 1838 und in Mauritius ein Jahr später. Sklavenbesitzer*innen war es nun nicht mehr gestattet, vor Gericht die Rückholung ihrer geflohenen Sklav*innen einzuklagen oder Kompensationszahlungen zu verlangen (vgl. Klein 2005: 202). Das endgültige Verbot der Sklaverei erfolgte für Britisch-Indien allerdings erst 1860 mit dem Indian Penal Code, in dem der Besitz und der Handel von Sklav*innen mit einer Haftstrafe von sieben bis zehn Jahren geahndet wurde (vgl. Chatterjee 2005). Dies führte umgehend zu Protesten bei einigen Sklavenbesitzer*innen, sodass sich ein illegaler Sklavenmarkt entwickelte, der noch bis ins frühe 20. Jahrhundert fortbestand (vgl. Klein 2005: 203).
Nach der Abschaffung der Sklaverei nutzte das System der Indentured Labor („Vetragsknechtschaft“ oder „Indentur“; vgl. Craig/King 1981: 152) viele administrative, organisatorische, strukturelle und translokale Netzwerke aus den Zeiten der Sklaverei weiter und passte es den neuen Gegebenheiten an (vgl. Clakre et al. 1990). Die Ursachen und Netzwerke südasiatischer Migration sind in der Geschichtswissenschaft insbesondere seit dem 18. Jahrhundert detailliert aufgearbeitet worden, wobei in der Forschung bestehende Kontinuitäten von kolonialer zu post-kolonialer Auswanderung hervorgehoben werden (Jain 2002). Insgesamt begaben sich von 1834 bis 1917 mehr als 1,3 Millionen indische Arbeitskräfte in die britischen Kolonien (vgl. Northrup 1995: 61-63). Andere Quellen gehen von 1,5 Millionen Migranten aus (vgl. Rana 2011: 100f.). Die erste Welle erfolgte ab dem Jahr 1834 nach Mauritius und nach Britisch-Guyana ab 1838. Dort sowie in Jamaika und Trinidad wurde ab 1844 das Indentured Labor-System gesetzlich legitimiert (vgl. Northrup 1995: 63). Weitere wichtige Aufnahmeländer von anderen Kolonialmächten waren Trinidad, Jamaika, die französischen Antillen, Réunion, Fidschi und auf dem afrikanischen Kontinent Südafrika, Kenia und Ostafrika (vgl. Clarke et al. 1990: 33).92 Korrupte Rekrutierungsagenten trugen weithin zur Ausbeutung der Zwangsarbeiter*innen bei, indem sie Löhne zahlten, die deutlich unter denen der freien Arbeiter*innen lagen, oder Gehälter auszahlten, die nur in speziellen Läden auf den Plantagen in Sach- und Konsumgüter eingetauscht werden konnten (vgl. Campbell 2005: 13). Die Löhne betrugen nicht mehr als 4 US-Dollar im Jahr (vgl. Kale 1995: 75).
Auch deswegen beschreibt Tinker das Indentured Labor-System als „a new system of slavery” (1974). Es habe nur Netzwerke und Praktiken fortgesetzt, die bereits während des Sklavenhandels eingeführt worden waren und die auf einem Rekrutierungssystem des „orientalistischen Rassismus“ beruht hätten (vgl. Pasha 1998). Mit Aufkommen des indischen Nationalismus änderte sich jedoch die politische Perspektive auf das Indentured Labor-Systems, was dessen Niedergang einleitete: 1916 verbot die indische Regierung arbeitsverpflichtende Migration. Dies führte einerseits zur Rücküberführung indischer Arbeitsmigranten aus den betreffenden Kolonien in ihre Heimat, während andererseits viele Migranten in ihrem jeweiligen Aufnahmeland blieben, weil sich dort bessere ökonomische Perspektiven boten und sich bereits lokale Netzwerke herausgebildet hatten, die es ihnen erleichterten, sich beruflich und sozial in ihre neue Heimat zu integrieren.
Diese historischen Kontinuitäten nutzen die von den Rekrutierungsagenturen beauftragten lokalen Vermittler*innen auch heute noch, um für Auswanderung zu werben, indem sie z. B. über Plakate oder Lautsprecherdurchsagen auf offene Stellen hinweisen (vgl. Arif 2009: 19). 37% aller pakistanischen Migrationskandidaten wenden sich an eine unregistrierte Agentur, während die Mehrheit – nämlich 56,6% – auf persönliche Kontakte zurückgreift, um den Migrationsprozess einzuleiten. Nur 4,5% emigrieren über offizielle Kanäle wie die Overseas Employment Corporation (OEC), der staatlichen Rekrutierungsagentur (vgl. Amjad 2016: 21). Ein Fünftel aller Migranten greift auf lokale Vermittler*innen zurück (vgl. Arif 2009: 42). Haben Rekrutierungsagent*innen das Vertrauen der kommunalen Entscheidungsträger*innen gewonnen, können diese häufig die notwendige Überzeugungsarbeit leisten, um Mitglieder der Gemeinde zur Migration zu bewegen.
Dieser Umstand fördert jedoch aus Sicht der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen massiven Missbrauch: Die Vermittler*innen instrumentalisieren das bei Widerrede verletzte Ehrgefühl zukünftiger Migranten, doch ohne die Unterstützung der lokalen Autoritäten können sie sich dagegen nicht zur Wehr setzen. Damit werden vor allem die Mitarbeiter*innen der MRC in Islamabad und Lahore konfrontiert, die in den Vorbereitungskursen vor kriminellen Rekrutierungsagenuren warnen, aber oftmals auf wenig Verständnis bei den zukünftigen Migranten stoßen: „We are a kind of a society in which we don’t say no!“
„We are a community-based society. If a person comes into a small village, he does it in accordance and on invitation of the village elders, of respected community leaders. Thus, the people trust the foreigner because he has the trust of the community leaders. Very clear, very simple (...) Again, it’s a question of prestige, of respect, and of honor“ (HAY_ISL, Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:13:27-1#).
Hinzu kommen die hohen Migrationskosten, die viele Migranten und ihre Familien in finanzielle Nöte stürzen, so HAY_ISL vom MRC in Islamabad. Dies belegen die verfügbaren Statistiken: Die Kosten für die Ausreise nach Saudi-Arabien betragen im Durchschnitt 4.290 US-Dollar (vgl. Amjad 2016: 42).93 Insbesondere durch den Einsatz von lokalen Subkontraktoren der OEP steigen die Kosten und liegen über den vom BEOE festgelegten Höchstgrenzen (Arif 2009: xii). Die Kosten für die Visaausstellung liegen bei den Rekrutierungsagenturen zumeist deutlich höher als die offiziellen Gebühren und haben zu einer „Kommerzialisierung“ („merchandisation“; Fargues et al. 2015: 1) des Migrationsprozesses auf Kosten aller südasiatischen Kandidaten geführt (vgl. Breeding 2012).
„Unfortunately, the market for migrant labour is highly inefficient and is characterised by poor information, where intermediaries exercise a dominant role and state policies impede movements and raise costs” (Abella 2018: 222).
67% der zukünftigen Migranten müssen sich bei Verwandten oder Bekannten verschulden, ein Drittel veräußert das wenige Eigentum oder nimmt Kredite mit hohen Zinsen bei lokalen Geldleiher*innen auf, um die Migrationskosten bezahlen und sich somit die Ausreise leisten zu können (vgl. Amjad 2016: 19). Damit begeben sich die Migranten jedoch in eine dreifache Abhängigkeit: Sie stehen nicht nur bei der Agentur und ihren zukünftigen Sponsoren in der Verpflichtung, sondern auch bei ihren Verwandten, denen sie Geld schulden. So liegen die Migrationskosten im Durchschnitt bei etwa 30% des in den ersten zwei bis drei Jahren verdienten Gesamtlohns von ungelernten Arbeitern (vgl. Abella/Martin 2014). Die Zeit, die Migrationskosten zu amortisieren, liegt im Fall von Saudi-Arabien bei neun Monaten. Um früher dieser Schuldenfalle zu entkommen, werden Überstunden angehäuft und die Gesundheit gefährdet, was die sogenannten „hidden costs“ nochmal erhöht (Abella 2018: 222f.). Daraus schlussfolgert BUK_LAH vom MRC in Lahore:
„(...) The migrants have to realize that their families, their friends are spending a lot of money to get them to Saudi Arabia and that they cannot come back because they don’t like it there or after they have performed hajj or umrah“ (Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:10:57-2#).
Bereits während der Kolonialzeit nutzten Händler*innen dieses System informeller Rücküberweisungen (vgl. Udovitch 1970; Wilson et al. 2003; Ballard 2003a; Ballard 2003b; Ballard 2003c; Prakash 2004), welches über persönliche, translokale Netzwerke den Transfer von Geldsummen über gewisse Entfernungen ermöglicht und sowohl als Instrument für eine Kreditleistung (vgl. Martin 2012: 11) als auch als „reliable transjurisdictional payments system“ (Ballard, o.J.: 25) bzw. Informal Value Transfer System (IVTS) definiert werden kann (vgl. Martin 2012: 3). Dabei handelt es sich um das sogenannte ḥawāla- oder hundi-System. Dieser informelle Transfer von Rücküberweisungen ist insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Fokus der Sicherheitskräfte und der öffentlichen Diskussion gerückt (vgl. Jost et al. 2000; Passas 1999; El Qorchi et al. 2003). Immerhin bieten sich aufgrund mangelhafter staatlicher Kontrolle Möglichkeiten, Geldsummen für kriminelle und/oder terroristische Aktivitäten zu transferieren, ohne elektronische Überweisungen oder Bankkonten nutzen zu müssen.
Arbeitsmigranten in Europa und insbesondere in den arabischen Golfmonarchien (vgl. Ballard 1988) bevorzugen dieses System gegenüber offiziell angebotenen Geldtransferoptionen jedoch, weil es kostengünstiger ist, kaum Verwaltungsarbeit benötigt sowie der persönliche Kontakt zu den hawaladars, den lokale Vermittler*innen, für viele vertrauenswürdiger erscheint, als elektronische Überweisungen (vgl. Ballard 2009). Ḥawāla-Zentren wie Dubai (vgl. Ballard 2010) sowie die pakistanische Hafenstadt Karachi dienen als Umschlagplätze für Geldtransfers und werden von dort an die jeweiligen Empfänger weitergeleitet. Noch immer sollen 40% der Familien die Rücküberweisungen über informelle Kanäle erhalten (vgl. Amjad et al. 2013: 367).
Durch die Einrichtung offizieller Transferkanäle im Rahmen der durch das pakistanische Finanzministerium, die pakistanische Staatsbank und das Ministry of Overseas Pakistanis (MOP) eingerichtete Pakistan Remittances Initiative (PRI) im August 2009 (vgl. Amjad et al. 2012) ist der Anteil informeller Geldüberweisungen im ḥawāla- oder hundi-System zwar zurückgegangen94, ohne jedoch das System der irregulären Rekrutierung nachhaltig zu schwächen, wie interviewte Migrationswissenschaftler bestätigen (vgl. NOB_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore; QAS_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore). Ziel der PRI ist es somit, eine offizielle Alternative zum Ḥawāla-System anzubieten, um den Geldtransfer kostengünstiger, leichter zugänglich und öffentlichkeitswirksamer zu gestalten und die Kontrollmechanismen der pakistanischen Regierung zu verbessern (vgl. Quereshi 2016). So wurden im Zuge der PRI die Kooperationen mit ausländischen Banken von 20 auf mehr als 400 ausgebaut, um Migranten den Transfer über elektronische Überweisungen zu ermöglichen. Die Anzahl von vormals fünf im Rücküberweisungsgeschäft aktiven nationalen Banken konnte auf 25 erhöht werden, die sogenannte „Cash over the counter“-Zahlungsmethoden (COC) und die standardisierte Nutzung von IBAN-Nummern einrichteten, um die Transaktionszeit für Überweisungen zu beschleunigen (vgl. State Bank of Pakistan 2015). Außerdem wurden 24-Stunden-Callcenter geschaffen (vgl. Amjad et al. 2013: 351). Allerdings wird der Rekrutierungsprozess noch immer von inoffiziellen und vielfach kriminellen Agenturen dominiert, was trotz der PRI die mafiösen Strukturen gestärkt habe, wie HAY_ISL vom MRC in Islamabad verdeutlicht:
„They are not legal, they are not registered. They are working on their own but they have a deal with the OEP. The illegal agency are buying visa agreements from the OEP and are selling them to the community. Thus, they buy four visas for 100,000 and are selling them for let’s say 150,000. Here is the problem because the costs are increasing“ (Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:04:37-4#).
Dass die Regierung um diese kriminellen Praktiken weiß, ist auch für ihren Kollegen BUK_LAH offenkundig, immerhin stünde die Regierung in Form des MOP und ihr zugeordnete Organisationen in ständigem Austausch mit den OEP.
„You need to travel to Saudi Arabia as a legal migrant. You have to contact the OEP, you have to look at the demand and you have to apply for a free job. Why do the Saudis abolish the Kafala system? Why do they need to allow someone who is hiring people that they don’t want? Thus, the Saudi government needs a process that nobody can hire a person that he does not need. Because otherwise the migrants are hired and the employer tries to get rid of them because he doesn’t need them. This causes illegal migration trouble“ (Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:22:08-3#).
Diese Fehlentwicklung beruhe dabei keineswegs auf fehlenden Kenntnissen bei den Behörden, sondern auf mangelndem politischem Willen. Daran habe auch die PRI nichts geändert, so ein Mitarbeiter von JPP. „We even know people that are part of this entire mafia but there is nothing you can do about it. The government isn’t doing anything about them“ (YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:17:25-3#). Der Polizei lägen in bestimmten Fällen konkrete Namen von kriminellen Agenten vor, über die umfassende Berichte, sogenannte First Information Reports (FIR), existieren würden, „but nothing ever happened“ (YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:17:48-0#).
Aus Sicht der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen hat eine breite öffentliche Diskussion um die Vor- und Nachteile der Überweisungskanäle bislang weder stattgefunden, noch sei sie von den traditionellen Gatekeeper*innen forciert worden. Dies müsse sich ändern, um die historisch gewachsenen Monopole der Rekrutierungsagenturen zu schwächen und den Migranten und ihren Angehörigen für eigenverantwortliches Handeln und einen kritischen Umgang mit der Kontrolle durch die Agenten zu sensibilisieren. Deswegen betrachten sie sich auch als Vermittler*innen von umfangreichen Informationen über die PRI und andere Möglichkeiten des offiziellen Transfers von Rücküberweisungen, um den Informationsstand der Migranten zu verbessern und möglichem Missbrauch und vorzubeugen.
6.6 Kriminalisierung durch inoffizielle Rekrutierungsagenturen: Migranten als Opfer
Für die meisten Öffentlichkeitsakteur*innen tragen die Rekrutierungsagenturen demnach eine Hauptverantwortung für die systemische Ausbeutung der Migranten. Sie zwingen viele von ihnen in die Kriminalität und betreiben illegalen Menschenhandel. Dabei beziehen sie sich auf ähnliche Erkenntnisse in der Literatur (vgl. McGeehan 2012; Mattar 2011; Esim/Smith 2004; Ali 2010). YAF_LAH, Mitarbeiter von JPP, bezeichnet die Rekrutierungsagenturen als „Mafia”:
„The mafia is so strong that even if a case does reach its endpoint, they pressure the witnesses so that the case can’t be solved legally. The mafia is really strong. They have their people in the airport, they have their people in the court, they have their people everywhere“ (Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:18:52-7#).
Im Rahmen dieser mafiösen Strukturen werde auch sexuelle Ausbeutung durch kriminelle Rekrutierungsagenturen forciert, wie ein Menschenrechtsaktivist der BLLF ausführt: „From Pakistan, persons, especially girls from 14-30 years, are trafficking to the Middle East, to Saudi Arabia and other countries such as UAE and also Afghanistan. A majority of these girls are trafficking for sex trade“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:17:25-9#). Insbesondere un- oder angelernte Arbeitskräfte werden leicht Opfer von Menschenhändlern, da sie weder über ausreichende Informationen noch über die finanziellen Ressourcen verfügen, um offizielle Rekrutierungskanäle zu wählen (vgl. Harroff-Tavel/Nasri 2013: 13-15; HRW 2007; HRW 2011; HRW 2010a; HRW 2010b; Vlieger 2011).
Viele pakistanische Migranten werden von dieser „Mafia“ vor ihrer Ausreise gezwungen, Drogen zu schlucken, um sie so über die saudische Grenze zu schmuggeln. Nach ihrer Ankunft werden sie häufig vom Grenzschutz inhaftiert und anschließend zum Tode verurteilt, führt YAF_LAH aus (Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:23:06-3#). Er ist bei JPP direkt mit diesen Fällen betreut und arbeitet seit Jahren zu den illegalen Praktiken der Migrationsmafia, die Auswanderer als Drogenkuriere missbrauchen. „Prior to the flight to Saudi Arabia, maybe two days in advance or so, those people who want to immigrate have to come to Karachi. There, these people were tortured in hotel.“ (YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:13:25-4#). Den Migranten werden oral oder anal Plastikbeutel mit Drogen eingeführt, die sie durch die Grenzkontrollen schmuggeln sollen (vgl. YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:13:57-7#).
„Two men were forced to take drugs and the recruiters said them before their departure to Saudi Arabia: ‚If you don’t do that, we will murder your sons. We will murder your families, whatever.’ They were still in Pakistan when they were captured. They came back to their home, tried to express their experiences and of course they knew the recruiters who punished them. But nobody listened to them“ (YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:17:12-5#).
Das kriminelle Netzwerk korrumpiert saudische Grenzbeamte, um die komplikationslose Einreise der Migranten sicherzustellen. Doch dies misslingt zunehmend, weil die saudischen Behörden die Kontrollen verschärft haben (vgl. YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:15:07-1#). Bei Leibesvisitationen entdecken die Sicherheitskräfte meistens die versteckten Drogen und überstellen die Migranten sofort an die Polizei. In zumeist kurzen Gerichtsprozessen, die ohne Zugang der Öffentlichkeit abgehalten werden, werden die Migranten zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt.95 Man könne sich nicht vorstellen, welchen unmenschlichen emotionalen Druck die Inhaftierten ausgesetzt seien, konstatiert YAF_LAH von JPP:
„The prisons in Saudi Arabia are extremely overcrowded. The detainees are not allowed to contact their families regularly, they are not supported with translation. They even do not know for what reason they have been arrested. They don’t understand what is going on. They don’t get sufficient opportunities to defend themselves. Apart from that, there is a massive discrimination against non-Saudis. It’s not that inmates discriminate against each other, it’s more related to the entire system“ (Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:35:03-3#).
Neben den inakzeptablen Haftbedingungen sei es vor allem die jahrelange Ungewissheit, die die Migranten quäle. Insbesondere an Freitagen stünden sie unter besonderem Druck, da an diesem Tag die Hinrichtungen stattfinden: „Between 6 am until 8 pm the prisoners are extremely worried, because at any point in this period of time, someone can come to behead them. They don’t know what is going to happen“ (YAF_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:35:36-5#). Der saudische Staat zeige zudem kein Interesse daran, die Verantwortlichen dieses Netzwerkes aufzudecken, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass einflussreiche Repräsentant*innen der saudischen Politik und der Wirtschaft, u. U. sogar Mitglieder des Königshauses, involviert sein könnten, wie von mehreren Öffentlichkeitsakteur*innen angedeutet wird (vgl. NAY_LAH, Interview, 21.01.2016, Lahore; MOE_LAH, Interview, 22.01.2016, Lahore). Viele Häftlinge legen unter psychischer und physischer Folter ein Geständnis ab. Damit verbinden sie die Hoffnung, Haftmilderung oder eine Begnadigung zu erfahren, was allerdings in der Mehrheit der Fälle nicht geschieht. Die meisten erfahren nur schrittweise von den ihnen zur Last gelegten Vorwürfe und sind von der Anklage zumeist überrascht. Die bereits beschriebene religiöse Attraktivität Saudi-Arabiens als „Hüter der beiden Heiligen Stätten“ wird dabei von den Rekrutierungsagent*innen vorsätzlich instrumentalisiert, um die Anreize der Migration noch zu erhöhen. Man wisse einfach, dass Migranten alles tun würden, um einmal heiligen Boden berühren zu können, erklärt YAF_LAH konsterniert.
Während unseres Interviews merke ich ihm an, wie sehr ihn diese Verbrechen emotional aufwühlen. Immer wieder gerät er während unseres Gesprächs ins Stocken und bittet einmal sogar um eine kurze Pause, in der er den Besprechungsraum des JPP verlässt. Es scheint im Anschluss, als habe er die mehrminütige Pause genutzt, um eine Zigarette zu rauchen, da er nach seiner Rückkehr nach Nikotin riecht. Er entschuldigt sich mehrfach für seine Befangenheit, macht aber gleichzeitig deutlich, wie sehr ihn die persönlichen Schicksale „unserer Klienten“, wie er die inhaftierten Migranten und ihre Angehörigen nennt, emotional belasten. Unterstützung von Seiten der pakistanischen Botschaft oder Konsulate sei in der Regel nicht zu erwarten. Sollte sich daran nichts ändern, könne sich Pakistan weder aus seinen semi-autoritären Strukturen, noch aus seiner wirtschaftlichen Misere befreien.
Laut Taha Siddiqui zeigt sich diese Ignoranz auch in der öffentlichen Diskussion:
„When it comes to the drug issue, the concept here is that these guys are doing it for money so they deserve it. There is no understanding that they fell into a trap, that they didn’t know what they are doing or even forced to do it. Nobody talks about who’s behind them, who’s controlling the drug trade here in Pakistan, who’s the mafia?“ (Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:28:20-5#).
„Nobody cares about it because everybody is benefitting from drug trafficking except the poor people. There is a general sense coming out of Bhutto’s time when the economic migration started. That was the time when my dad also went to Saudi Arabia. From these days we are obliged to the Saudis because they helped us. This is the general sense. They have given us so much money. Why should we criticize the feeding hand? In addition, you don’t have an understanding of human rights and inequality. Poverty is always linked to terrorism and crime without seeing what are the basic structural issues“ (Taha Siddiqui, Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:30:04-1#).
Die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen betrachten es demnach als ihre Verpflichtung, öffentlich auf die bestehenden Missstände hinsichtlich der Kriminalisierung von Migranten hinzuweisen. Damit formulieren sie einen Anspruch, der ihre Motivation und ihre Strategien beeinflusst und prägt, womit sie sich nicht selten in einem direkten Konflikt mit den bestehenden Regierungsinitiativen befinden, welche von den Akteur*innen aufgrund derer Ineffizienz, Desinteresse und Inkompetenz kritisiert werden.
6.7 Verfehlungen der Regierung: Migration „is not a hot topic“
“The government in general doesn’t have any strategical planning on these issues. They have their own priorities and labour migration is not one of these priorities at the moment. It’s not a hot topic” (ISL_LAH, Interview, 23.01.2016, Lahore, #00:07:59-0#).
Stellvertretend für alle untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen kritisiert der Aktivist ISL_LAH vom Free and Fair Election Network die bisherigen Verfehlungen der pakistanischen Regierung, eine kohärente und nachhaltige Migrationspolitik zu implementieren, die nicht nur die quantitative Steigerung der Migrantenentsendungen in die arabischen Golfstaaten als oberste Priorität ansieht, sondern auch die schrittweise Verbesserung des qualitativen Ausbildungsniveaus der zu entsendenden Arbeitskräfte sowie den Schutz der Migrantenrechte vor, während und nach dem Rekrutierungsprozess berücksichtigt. Es fehle eine funktionale, effektive und migrantenorientierte politische Strategie. Zwar hätten in der Vergangenheit Versuche wie die Einführung der PRI stattgefunden, die bestehenden Missstände politisch zu adressieren und zu sanktionieren, doch die Erfolge seien weitgehend ausgeblieben.
In der Tat wurde mit dem quantitativen Anstieg von pakistanischer Migration in die golfarabischen und andere Empfängerländer seit den 1960er und 1970er Jahren die Schaffung eines kohärenten nationalen Verwaltungsapparates zur Organisation der pakistanischen Migration zu einer politischen Notwendigkeit (vgl. Khan et al. 2014). Im Jahr 1971 wurde dafür das BEOE gegründet.96 Sein Hauptaufgabengebiet ist seitdem die Gewährleistung sicherer Migration durch die Ausstellung notwendiger Gesundheitszertifikate und Arbeitsverträge sowie die Durchführung medizinischer Tests (vgl. ILO 2016d: 27). Diese Maßnahmen werden durch die Zweigstellen der Protectors of Emigrates (POE) implementiert, die über sieben regionale Anlaufstellen in Karachi, Lahore, Rawalpindi, Multan, Malakand, Peshawar und Quetta die dort ansässigen Rekrutierungsagenturen kontrollieren sollen (vgl. BEOE 2017: 1).97 Das MOP widmet sich den Ausbildungs-, Beratungs- und Orientierungsangeboten für pakistanische Migranten. Es bietet darüber hinaus medizinische Versorgungsmaßnahmen für Migranten und ihre Angehörigen an (vgl. MOP 2014: 1). 1976 sollte mit der Gründung der OEC die staatlich kontrollierte Entsendung von Migranten durch eine offizielle Rekrutierungsagentur garantiert werden. Bis 2013 konnten über die OEC allerdings nur 137.955 Arbeitskräfte in ausländische Empfängerstaaten vermittelt werden (vgl. MOP 2014: ix), was auch an der Attraktivität unregistrierter Rekrutierungsgenturen liegt. Es folgte die Gründung der Overseas Pakistanis Foundation (OPF), die dem MOP untersteht, und sich gesondert um die Betreuung von Migranten und ihren daheimgebliebenen Familien bemüht, im Ausland verstorbene pakistanische Staatsangehörige in die Heimat überführt und Unterkünfte für Rückkehrer und deren wirtschaftliche Reintegration mitorganisiert (vgl. MOP 2014: 22; Arif 2009: 1). Im Falle von Beschwerden werden diese von den jeweiligen Konsulaten und Botschaften in den Empfängerländern an die Zentrale der OPF in Islamabad weitergeleitet, um eine Bearbeitung im Sinne der Migranten zu gewährleisten (vgl. MOP 2014: 40f.). Mittlerweile wurden auch Online-Beschwerdesysteme eingerichtet (vgl. Khokhar 2015: 4). Das OPF unterhält an den Flughäfen von Karachi, Lahore, Quetta, Peshawar, Multan, Sialkot, Turbat, Gwadar und Islamabad Informationsschalter für rückkehrende Migranten, um diese zu befragen, persönliche Daten zu erheben, sie im Bedarfsfall zu beraten und Statistiken zu archivieren (vgl. MOP 2014: 23). Im Juli 2001 führte die OPF einen Pension Scheme for Overseas Pakistanis ein, um mögliche Rentenansprüche für Migranten zu sichern (vgl. MOP 2014: 25).
Allerdings existierte trotz dieser Einzelmaßnahmen bis 2013 kein Entwurf für eine offizielle Migrationspolitik der pakistanischen Regierung, was von den neuen Öffentlichkeitsakteur*innen unisono als gravierende Leerstelle bezeichnet wird. Diese war zwar von der damaligen Interimsregierung unter Premierminister Mir Hazar Khan Khoso (regierte März bis Juni 2013) als Konzept für eine „National Policy for Overseas Pakistanis“ formuliert, aber nicht in geltendes Recht überführt und vom Parlament bewilligt worden. So bleibt eine offizielle Migrationspolitik seitdem vakant (vgl. ILO 2016d: 45). Übergeordnete Zielsetzungen dieses Entwurfs sehen vor, (1) die Anzahl der ausreisenden Migranten und damit die Rücküberweisungen zu erhöhen oder zumindest zu konsolidieren; (2) den Migrationsprozess effektiver zu gestalten, die institutionellen Kapazitäten zu stärken und den Rekrutierungsprozess zu formalisieren; (3) die berufliche Qualifikation der Migranten zu verbessern, indem vorbereitende Orientierungsmaßnahmen und Ausbildungsangebote ausgebaut werden und (4) die Migranten in gering bezahlten Branchen besser vor Ausbeutung zu schützen (vgl. Shah 2018: 128). Weiterhin lag ein Schwerpunkt auf der Erhöhung der Entsendequote von weiblichen Migranten, die zum damaligen Zeitpunkt nur 0,12% betrug. Für deportierte Migranten sollte geeigneter Versicherungsschutz angeboten werden. Auch im Bildungs- und Ausbildungsbereich ist vorgesehen, spezialisierte Institute und Lehreinrichtungen zu schaffen, um zukünftige Migranten auf die besonderen sektoralen Arbeitsmarktanforderungen in den Empfängerstaaten vorzubereiten und das Ausbildungsniveau zu verbessern, während in den Aufnahmeländern Diaspora-Netzwerke und migrationsrelevante Institutionen gefördert werden sollen (vgl. ILO, 20.02.2013). In den Empfängerländern sollten die Verantwortlich- und Zuständigkeiten der sogenannten Community Welfare Attachés (CWA) gestärkt werden, um schutzbedürftige Migranten besser und effizienter begleiten und beraten zu können (vgl. Jan 2010: 4).98 Es existieren derzeit 19 CWA in 14 Ländern, davon allein vier in Saudi-Arabien (je zwei in Riad und Dschidda) (vgl. MOP 2014: 33). Damit verfügt das Königreich über die höchste Anzahl an CWA in allen Empfängerländern. Um ein wesentliches Ziel – die quantitative Steigerung der Entsendung der Migranten unter sicheren Rahmenbedingungen – voranzutreiben, ist vorgesehen, in ausgewählten Zielländern pro-aktive Marketingmaßnahmen durch die Botschaften zu fördern oder Jobmessen durchzuführen (vgl. Jan 2010: 9).
Wesentliches Merkmal der neuen Migrationspolitik soll auch die Ausweitung der vorbereitenden Informationsmaßnahmen zur Orientierung zukünftiger Migranten werden. So ist geplant, One-Stop-Zentren in fünf Ballungsräumen zu gründen, die Migrationskandidaten und ihre Angehörigen für relevante Beratung, Gesundheitsversorgung und Informationsvermittlung zurate ziehen können. Seminare und Workshops sollen explizit auf die Bedingungen im Empfängerland vorbereiten, über auftretende Probleme informieren und beratende Anlaufstellen nennen, gleichzeitig aber auch zurückkehrende Migranten auf die Herausforderungen in der Heimat präparieren, indem ihnen Investitions- und Beschäftigungsoptionen aufgezeigt werden, sobald sie nach Pakistan einreisen. Um das Bildungsniveau der Migranten zu verbessern, bestehen Pläne der National Vocational and Technical Education Commission (NAVTEC), der regionalen Technical Education and Vocational Training Authorities (TEVTAs), des National Training Bureau (NTB) und des BEOE, Ausbildungszentren einzurichten, um in Absprache mit diversen Zielländern gezielt und bedarfsorientiert auszubilden. So existieren allein 300 Zentren von TEVTA im Punjab. Es konnten also in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte im Bereich der berufsbildenenden Maßnahmen erzielt werden, bestätigt NAD_LAH, Mitarbeiterin der TEVTA im Punjab und zuständig für die Fortbildungsmaßnahmen zukünftiger Migranten:
„We provide technical training in mechanical, engineering, technical and other fields. The minimum length of each course is three months and the maximum three years. We provide the companies with information about our activities, we arrange the interviews and after the interviews we get the data. The recruiter can directly find suitable candidates on our website or he can contact us directly to find the various resources. The role of our department is to get candidates in jobs overseas. At the moment, the main focus is on the Gulf countries but we want to expand our focus globally” (Interview, 09.02.2016, Lahore, #00:02:42-1#).
Allerdings betont NAD_LAH, dass ihre Abteilung erst im Herbst 2015 gegründet wurde. Vorher seien solche Kurse nicht angeboten worden (vgl. Interview, 09.02.2016, Lahore, #00:02:51-9#).
Von den untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen werden diese Maßnahmen und strukturellen Überlegungen der Regierung zwar befürwortet, sie bemängeln allerdings nach wie vor existierende Missstände. So fokussiere sich die Strategie ausschließlich auf staatliche Akteur*innen, die den Migrationsprozess optimieren und kontrollieren sollen, ohne allerdings die herausragende Bedeutung von sozialen translokalen Migrationsnetzwerken und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu berücksichtigen (vgl. Spivak 1996). Deswegen fühlen sich die Vertreter*innen der von mir untersuchten NRO von der Strategie ausgeschlossen. Weiterhin müsse die Kooperation zwischen Migrationsgemeinschaften in den Empfängerländern und den CWA gestärkt werden, um Austausch zu ermöglichen und nachhaltige Unterstützung zu gewährleisten. Gleiches gelte für eine engere Abstimmung zwischen unterschiedlichen asiatischen Entsendestaaten, die bisher nur im Ausnahmefall und selten institutionalisiert stattfinde. Außerdem würden die Auswirkungen auf die daheimbleibenden Familien weiterhin ignoriert: So müssten die Familien auf die Zeit der Abwesenheit männlicher Angehöriger vorbereitet werden, um sich dementsprechend zu organisieren und soziale Probleme zu vermeiden. Es fehlen somit umfassende Informationen zu den so genannten sozialen Rücküberweisungen, wie u. a. der renommierte Migrationswissenschaftler GAR_ISL vom PIDE betont:99
„Social remittances are not covered at all. I don’t see people talking about social remittances such as the skilled factor they are bringing in or the cultural diversity or social implications“ (Interview, 22.02.2016, Islamabad, #00:44:13-9#).
Dabei bezieht er sich auf das Konzept der sozialen Rücküberweisungen im Sinne von Levitt (1998; 2001). Die Dichotomie zwischen Diaspora-Gemeinschaften und daheimgebliebenen Gemeinschaften soll aufgebrochen werden, indem auf deren transkulturelle Interkonnektivität hingewiesen wird. Somit können soziale Rücküberweisungen als Informationsfluss in alle Richtungen verstanden (vgl. Khagram/Levitt 2007) und müssen als „kutureller Akt“ definiert werden: „It is not when or that these practices or identities may be cultural but rather that they are inherently cultural” (Levitt/ Lemba-Nieves 2011: 2). Nach jahrelanger Absenz kehren die männlichen Migranten in ihr persönliches Umfeld der „extended family“ (Gilani 1984: 150) zurück, welche in Abwesenheit der Migranten neue Organisationsstrukturen, alltägliche Abläufe und Regeln entwickelt haben, was sich insbesondere auf das Geschlechterverhältnis auswirken kann. Dabei reicht das Spektrum bei den daheimgebliebenen Frauen von Abgeschiedenheit (parda) bis zu einem höheren Grad an innerfamiliärer Verantwortung (vgl. Nichols 2011: 150), da sie nun nicht mehr ausschließlich die Kindererziehung, sondern auch finanzielle Aufgaben zur Aufrechterhaltung des Haushalts übernehmen (vgl. Levitt/ Lemba-Nieves 2010). Dies kann zu einem „dramatic change in the socio-economic hierarchy of the communities” führen (Gilani 1984: 146). Viele Männer erwarten, ihre traditionelle Aufgabe als Familienoberhaupt nach ihrer Rückkehr unwidersprochen wieder übernehmen zu können, verkennen dabei aber, dass sich während ihres Auslandsaufenthaltes neue soziale Hierarchien etabliert haben (vgl. Gilani 1984: 158). Solche Ergebnisse der Sozialwissenschaft werden auch von einigen der untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen problematisiert: So führt die neue Selbständigkeit der Mütter nicht selten zu Konflikten mit ihren Kindern, die ihre Autorität häufig nicht in dem vollen Umfang anerkennen wie die der Väter, hat HNA_LAH der HRCP beobachtet.
„It is also creating many kind of problems, social problems… The children don’t have their fathers with them because they are staying abroad. But traditionally, Pakistan is a male-dominated society. So they don’t listen to their mothers but they have money to spend and they even press their mothers to pay them for their wasteful activities. They do not study properly although the parents could afford the university fees which is very uncommon for the lower middle class. It’d not have been possible for me to go to such a university because my parents belonged to the lower middle class. That is the most negative impact“ (Interview, 23.01.2016, Lahore, #00:09:38-8#).
Dieses sensible Beziehungsgeflecht muss nach der Rückkehr der Migranten neu ausgehandelt werden, um Konflikte über Zuständig- und Verantwortlichkeiten zu vermeiden oder abzuschwächen. Den Rückkehrern hilft dabei meist ihr gewachsenes Ansehen innerhalb der Familie bzw. der Gemeinschaft. Durch ihre Auslandserfahrung gelten sie oftmals als soziale Gewinner, die dazu beigetragen haben, den wirtschaftlichen Standard ihrer Familien zu verbessern (vgl. Gilani 1986: 134). Dieses positive Image ist einerseits Segen, andererseits auch Bürde für die Heimkehrer: So erwartet die daheimgebliebene Familie von ihren männlichen Angehörigen, für den zukünftigen Wohlstand auch nach ihrer Rückkehr verantwortlich zu sein. Aufgrund ihrer jahrelangen Abwesenheit fehlt ihnen allerdings die notwendige Erfahrung, dieser Rolle gerecht zu werden. Viele müssen sich an ein Leben mit ihrer Familie erst wieder gewöhnen, haben ihre Kinder nicht aufwachsen sehen und stehen aufgrund der gestiegenen Erwartungen massiv unter Druck. Zwar konnten viele Rückkehrer während ihres Auslandsaufenthaltes ihre Kenntnisse erweitern, finden aber dennoch nicht sofort einen Arbeitsplatz (vgl. Gilani 1986; Kazi 1989; Arif 1991; Arif 1996). Diese neue Erfahrung der Arbeitslosigkeit führt vielfach zu Frustration und innerfamiliären Konflikten, da sie das positive Image der Rückkehrer schmälert. So hatten in den 1980er Jahren etwa 30% aller heimgekehrten Migranten auch innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Rückkehr immer noch keine neue Beschäftigung gefunden (vgl. Gilani 1986: 157). Viele verfügen trotz der finanziellen Rücküberweisungen nicht über das notwendige Kapital oder die Kenntnisse, um freiberuflich tätig zu werden und ihr eigenes Kleinunternehmen zu gründen (vgl. Arif 1998: 99) oder Landbesitz zu erwerben (vgl. Chaudhry 1980: 245). Sie erwarten vielmehr, aufgrund ihrer Migrationserfahrungen auf dem Arbeitsmarkt bessere Perspektiven vorzufinden (vgl. Arif/Irfan 1997: 4). Ältere Migranten sind unwilliger als jüngere Rückkehrer, in die Gemeinde zu investieren, worunter ihr sozialer Status leidet. Andere spüren den Neid von Mitgliedern der Gemeinschaft ohne Migrationserfahrung (vgl. Gilani 1984: 146) oder werden als religiös indoktrinierte Außenseiter wahrgenommen, die während ihres Aufenthaltes in Saudi-Arabien mit der Ideologie des Wahhabismus (vgl. Kapitel 5) in Kontakt gekommen seien und basierend auf diesen neuen Werten die traditionelle Islamauffassung in ihren Gemeinden verändern wollen. Nach ihrer Rückkehr bringen einige Migranten veränderte Vorstellungen vom Familienleben, von Religion und Geschlechtergerechtigkeit in ihr berufliches und persönliches Umfeld ein, welche oftmals den daheimgebliebenen Angehörigen fremd sind. In diesem Zusammenhang kann es zu Abgrenzung und Isolationsprozessen innerhalb der Migranten-Communities kommen, die sich nicht selten auch in zunehmender religiöser Radikalisierung niederschlagen können (aber nicht müssen). Immerhin sind die Rückkehrer und ihre Familien mit der Herausforderung konfrontiert, nach Jahren oder Jahrzehnten der physisch erfahrenen Distanz Nähe herzustellen, ein neues System der Familieneinheit zu entwickeln und bestehende Spannungen zu lösen.
Insbesondere dieser Aspekt wird von den meisten Öffentlichkeitsakteur*innen als besonders problematisch wahrgenommen. Da es vielen Migranten während ihres Aufenthaltes im Empfängerland gelungen sei, mithilfe der finanziellen Rücküberweisungen die ökonomische Situation ihrer Familien zu verbessern und dadurch den sozialen Aufstieg forcierten, verfügen sie nach ihrer Rückkehr durchaus über die notwendige soziale Reputation – den bereits beschriebenen „prestige factor“ (ISL_LAH, Interview, 23.01.2016, Lahore, #00:08:56-8#) – ihre kulturellen Vorstellungen innerhalb ihres ruralen und familiären Kontexts durchzusetzen. „In a sense, they have the money. So it’s money plus tradition which is a very strange kind of a combination. I would call it a deadly combination“ (ZAF_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore, #00:28:17-5#). Diese „tödliche Kombination“ ermögliche es ihnen, auch althergebrachte Geschlechter- und Glaubensvorstellungen nach ihren Erfahrungen in Saudi-Arabien in Frage zu stellen. „Women have to wear the abaya, and the religion is written outside of houses and cars. They have become more conservative. This creates problems for the Pakistani state“ (ZAF_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore, #00:25:09-6#). Somit habe sich ein Denken der Simplifizierung, der Intoleranz und der passiven Gottesfürchtigkeit manifestiert.
Um die analysierten Implikationen der sozialen Rücküberweisungen in ihrer Komplexität diskutieren und entsprechende politische Strategien entwickeln zu können, fordern demnach die untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen umfassende Maßnahmen der Politik und eine differenzierte mediale Diskussion – doch beides sei bisher ausgeblieben. Dies betont vor allem BEL_LAH von JPP und wirkt im Gespräch konsterniert:
„It’s both a lack of interest and a lack of capacities. Furthermore, it’s not a top political priority. You see, the state is unconcerned about the migrants situation. Its only concern is crime, that’s all. As long as the migrants are sending the money and are investing in house construction, the government says: Ok, thank you“ (Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:42:28-0#).
Außer Frage steht daher für sie, dass eine nachhaltige, kohärente und ressourcenbündelnde Integrationspolitik für rückkehrende Migranten unter Einbeziehung der staatlichen Institutionen sowie in enger Kooperation mit zivilgesellschaftlichen und internationalen Organisationen notwendig sei, um das Potenzial der Rückkehrer zu nutzen. Damit könnten einerseits soziale Spannungen wie die Gefahr der Radikalisierung, andererseits wirtschaftliche Probleme reduziert werden. Immerhin sollten rückkehrende Migranten nicht nur als Vermittler eines wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern auch als Träger kultureller Pluralität betrachtet werden. Viele von ihnen haben während ihres Aufenthalts ihre beruflichen Kenntnisse erweitert und sind persönlich gereift. Dies sollte sich die pakistanische Wirtschaft zunutze machen, anstatt nur die Gefahren und Risiken der Rückkehrer zu thematisieren. Doch um ein solches Umdenken zu erreichen, müsse eine mediale Diskussion um soziale Rücküberweisungen stattfinden; dies sei bislang aber nicht der Fall, wie BEL_LAH feststellt. Auch aufgrund dieser mangelnden Sichtbarkeit der sozialen Rücküberweisungen ist Migration aus ihrer Sicht zu einem Phänomen der Ausbeutung, der Benachteiligung und der strukturellen Gewalt geworden. Auch andere Öffentlichkeitsakteur*innen sehen es als Bestandteil ihres Engagements, vernachlässigte Themen wie die sozialen Rücküberweisungen im Teilbereich der pakistanischen Öffentlichkeit zu platzieren. Sie sind überzeugt davon, nur auf diesem Wege eine mediale Sensibilisierung herstellen zu können, um die politische Entscheidungsträger*innen zu einem nachhaltigen Handeln in der Migrationspolitik zu bewegen.
Diese Informationsvermittlung kann allerdings nur dann im benötigten Umfang bereitgestellt werden, wenn neben den staatlichen Institutionen auch NRO verstärkt in die Betreuung der Migranten und ihrer Familien einbezogen würden. Allerdings findet ein Austausch mit zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen nur sporadisch statt, was zu Frustration geführt hat (vgl. Jan 2010: 20). Anstatt eine gleichberechtigte Partnerschaft anzustreben, in der auch Kritik und offene Diskussionen den politischen Dialog mitprägen, habe man in der pakistanischen Politik und der medialen Öffentlichkeit gegenüber Saudi-Arabien jahrzehntelang einen Minderwertigkeitskomplex kultiviert, der sich mittlerweile verselbständigt habe, konstatieren vor allem Repräsentant*innen von pakistanischen NRO wie JPP. Dieser Komplex dominiert aus Sicht der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen die Arena der pakistanischen Öffentlichkeit und fungiert als wesentliche Zugangsbarriere, die die Sichtbarmachung von migrantenspezifischen Problemen erschwert. In der Konsequenz hielten es die Regierungen vielfach nicht für notwendig oder gar für unmöglich, eine selbständige und zielgruppenadressierte Migrationspolitik zu entwickeln. Stattdessen betonte man, die rechtlichen, kulturellen und politischen Bedingungen in den golfarabischen Empfängerländern akzeptieren zu müssen, da man auf politischer Ebene machtlos sei, eigene Vorstellungen und Forderungen vor allem im arbeitsrechtlichen Bereich durchzusetzen. Dies müsse sich endlich ändern, betont stellvertretend die Migrationswissenschaftlerin ZAF_LAH von CIMRAD:
„We have strong religious and personal relations with Saudi Arabia. Our administration and our ruling class believe that they are not interested in criticizing Saudi Arabia because otherwise the honor of the country is at stake. Instead, they should say: Yes, there is a problem. Let’s come together and try to combat it. In case of child labour, for many years, government and elites and administration have been saying: No, it’s due to poverty, it’s the responsibility of the parents, parents are ignorant. But we said: The employer is responsible. So after 35 years we have been able to convince the government that poverty is no reason to employ children“ (Interview, 26.01.2016, Lahore, #00:45:17-6#).
Immerhin sieht sich Pakistan mit anwachsender regionaler Konkurrenz aus anderen südasiatischen Entsendestaaten wie Indonesien oder Indien in den letzten Jahren konfrontiert. Dort reagierten die Regierungen auf die gestiegenen Ansprüche an die Arbeitskraft mit einer strukturierten Ausbildungsoffensive, umfassenden Sprach- und Orientierungskursen, politischen Initiativen und gesetzlichen Regelungen, die in Pakistan noch fehlen. Viele Migranten seien aufgrund des mangelnden Ausbildungsniveaus in Pakistan schlichtweg nicht mehr „wettbewerbsfähig“, wie interviewte pakistanische Unternehmer*innen beobachten (vgl. RAF_LAH, Interview, 06.02.2016, Lahore). Dies hat in der Folge zu den bereits erläuterten Deportationen aus Saudi-Arabien geführt. Für RAF_LAH stehe fest, dass es die Regierung seit Jahrzehnten versäumt habe, das Bildungssystem zu modernisieren, um sukzessive die Lehrinhalte und die Ausbildungsziele auf die Anforderungen der Empfängerstaaten anzupassen und damit auch die wirtschaftliche Attraktivität pakistanischer Migranten zu erhöhen. Dies habe zur Folge, dass weiterhin an der Entsendung von unterdurchschnittlich ausgebildeten Migranten festgehalten werde, ohne der veränderten Nachfrage in den Empfängerländern Rechnung zu tragen. In diesen Bereichen müsse die pakistanische Regierung deutlich nachbessern, um einerseits Pakistan weiterhin als attraktives Entsendeland zu positionieren und um andererseits die in den arabischen Golfstaaten, aber auch in Großbritannien oder Europa lebende Diaspora dazu zu animieren, verstärkt in ihrer Heimat zu investieren (vgl. ZAF_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore, #00:36:51-6#).
Von mir auf diese Kritikpunkte angesprochene Vertreter*innen der Regierungsinstitutionen zeigten sich durchaus selbstkritisch und reflektierten offen die derzeitigen Missstände in der Migrationspolitik, so der Regierungsbeamte MAT_ISL vom BEOE:
„Wir wollen das in Zukunft ändern, um das Potenzial der Rückkehrer für die einheimische Wirtschaft noch besser nutzen zu können. Immerhin sind viele von ihnen als ungelernte Arbeiter gegangen, kehren aber mit neuer Expertise zurück. Dementsprechend handelt es sich nicht selten um Brain-Grain“ (Interview, 29.02.2016, Islamabad, Gedächtnisprotokoll).
Um ihre Ziele realisieren zu können, kooperiert z. B. die OFP auch mit den Provinzregierungen (vor allem im Punjab) sowie mit lokalen NRO. Solche Initiativen in Zukunft noch auszubauen, beschreibt MAT_ISLs Kollege IQB_ISL als Schwerpunkt der operationalisierten pakistanischen Migrationspolitik:
„Das ist ein ganz wichtiges Anliegen, immerhin sind viele von ihnen 10, 15 oder 20 Jahre nicht zu Hause gewesen. Viele von ihnen müssen sich an das neue, alte Umfeld ebenso gewöhnen wie die Familien an die Rückkehrer. Das wird vor allem dadurch erleichtert, dass Rückkehrer aus dem Golf zumeist über wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Reputation verfügen“ (Interview, 29.02.2016, Islamabad, Gedächtnisprotokoll).
Ebenso wie in der Politik fehlten auch in der Migrationswissenschaft lange Zeit qualifizierte Forschungsinstitutionen, um der gewachsenen Bedeutung von Migration empirisch und quantitativ gerecht zu werden und mit notwendigen Daten dazu beizutragen, eine kohärente Migrationspolitik entwickeln zu können. Zwar arbeiteten renommierte Forschungszentren wie PIDE, wo auch G. M. Arif tätig ist, oder Universitäten wie die LUMS und die LSE punktuell und fachbereichsbezogen zu Einzelprojekten der Migration, ein eigenständiges Zentrum zur Migrationsforschung existierte allerdings über Jahrzehnte nicht. Dies änderte sich erst im Dezember 2014 mit der Gründung des auf Migrationswissenschaft spezialisierten und der LSE zugeordneten Forschungszentrums CIMRAD. Der späte Zeitpunkt der Gründung wird von Mitarbeiter*innen mit fehlender politischer Unterstützung begründet (vgl. ZAF_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore). Das strategische Ziel von CIMRAD ist klar umrissen: „Our aim is to assess what can the diaspora do for us?“ (ZAF_LAH, Interview, 26.01.2016, Lahore, #00:06:38-8#). Damit liegt der Fokus weiterhin auf dem wirtschaftlichen Nutzwert von Migration. Allerdings kann noch immer kaum auf verifizierbare, unabhängige und aktuelle Datensätze zurückgegriffen werden. Das Fehlen dieser Daten fällt vor allem bei der analytischen Betrachtung der pakistanischen Migration in die golfarabischen Monarchien negativ ins Gewicht, da man trotz der historischen Konstanz und der wirtschaftlichen Relevanz noch immer zu wenig über die Migrationsströme, die Motive, die sozialen Implikationen oder die lokalen Herausforderungen weiß. Zwar verfügt man über soziokulturelle und empirische Daten aus den VAE oder Kuwait, doch insbesondere für Saudi-Arabien fehlen solche Informationen; das Königreich wird somit auch von Migrationswissenschaftler*innen als „Black Box“ bezeichnet (vgl. G.M. Arif, Interview, Islamabad, 22.02.2016, #00:02:04-2#).
6.8 Zwischenanalyse
Wie diese zweite Ebene der analytischen Rahmung aus Sichtweise der untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen gezeigt hat, fällt Migration aus sozioökonomischen und politischen Aspekten eine wesentliche macht- und einflussbewahrende Bedeutung für traditionelle pakistanische Gatekeeper*innen zu. Dies wird insbesondere von untersuchten Migrationswissenschaftler*innen und NRO-Vertreter*innen in Frage gestellt und kritisiert. Die historische Entwicklung von Migrationsnetzwerken hat aus ihrer Sicht die Einflussnahme der Rekrutierungsagenturen auf den Migrationsprozess und somit auch die Räume für die systemische Kriminalisierung und Ausbeutung von Migranten ausgeweitet. Daneben bleiben die staatlich regulierten Schutzmaßnahmen zumeist wirkungslos oder wurden nur mit ungenügendem Engagement durchgesetzt. Migration nach Saudi-Arabien wird daher unter Berücksichtigung des sensiblen bilateralen Verhältnisses sowie des wirtschaftlichen Nutzwerts von Migration auf zweifacher Ebene als öffentlich kaum verhandelbares Phänomen wahrgenommen. Die omnipräsente Relevanz von Migration limitiert die Zugangsmöglichkeiten zu den Arenen der pakistanischen Teilöffentlichkeit, da zu viele traditionelle Gatekeeper*innen in der bestehenden Form des Migrationsprozesses eine profitable und rentable Einnahmequelle sehen, die durch den Migranten zugute kommenden Reformen gefährdet würde. Deswegen betrachten es die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen als ihre Aufgabe, solche Reformen anzumahnen und im medialen Teilbereich der pakistanischen Öffentlichkeit zur Verhandlung zu stellen.
6. Migranten als „neue Sklaven“? Profitstreben der Gatekeeper*innen, strukturelle Gewalt und politische Verfehlungen in der pakistanischen Migrationspolitik
6.1 Die Interessenslage des pakistanischen Staates: „It’s all about the business“
6.2 Das Kafāla-System in Saudi-Arabien: Kritik an der systemischen Ausbeutung im Migrationsprozess
6.3 Irreguläre Migration: Asymmetrische Machtverhältnisse und daraus resultierende Unsicherheit der Migranten vor dem Hintergrund des Kafāla-Systems
6.4 Lebenswirklichkeiten der Migranten in Saudi-Arabien: Soziale Benachteiligung und Heimatsimagination
6.5 Kommerzialisierung von Migration: Rekrutierungsagenturen und die Genese mafiöser Netzwerke
6.6 Kriminalisierung durch inoffizielle Rekrutierungsagenturen: Migranten als Opfer
6.7 Verfehlungen der Regierung: Migration „is not a hot topic“
6.8 Zwischenanalyse