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Arbeitsmigration nach Saudi-‍Arabien und ihre Wahrnehmung in Pakistan: Akteur*innen und Strategien der öffentlichen Sichtbarmachung
09 Oct 2020
8. Strategien und Praktiken der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen: Instrumente zur Herstellung von Sichtbarkeit in der öffentlichen Arena zu Migration
„Insbesondere der Besuch bei der NRO Justice Project Pakistan war inhaltlich sowie atmosphärisch mit Sicherheit ein bisheriger Höhepunkt meiner Reise. Deren Arbeit für den anwaltlichen und humanitären Schutz von inhaftierten pakistanischen Staatsbürgern im Ausland, darunter auch Saudi-Arabien, kann für meine Arbeit eine entscheidende Funktion als Beispiel eines idealen Öffentlichkeitsakteurs darstellen (...). Die Kolleg*innen, bei denen es sich hauptsächlich um Anwält*innen, aber auch Sozialwissenschaftler*innen handelt, begeben sich bei ihrer Parteinahme für betroffene Familien und ihrem Gang in die Öffentlichkeit durchaus in eine gewisse Gefahr“ (Auszug aus meinem Forschungstagebuch, Lahore, 17. Februar 2016).
In den Kapiteln 5-7 wurde die Arena der pakistanischen Öffentlichkeit zu Migration, in der sich die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen bewegen oder zu der sie Zutritt erhalten möchten, aus akteurszentrierter Sichtweise auf drei Ebenen analysiert, um zu verdeutlichen, mit welchen Zugangsproblemen, Hindernissen und kontrollierenden Gatekeeper*innen sie sich auseinandersetzen müssen. Aus ihnen konstituiert sich die Arena pakistanischer Öffentlichkeit zu Migration, in der die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen agieren und Migration sichtbar machen wollen.
Im folgenden Kapitel soll vor diesem Hintergrund untersucht werden, mit welchen Praktiken, Strategien und Instrumenten die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen aus Zivilgesellschaft, Journalismus und internationaler Organisationsstruktur auf unterschiedlichen Wegen versuchen, Zugang zur medialen Arena zu Migration zu erhalten, wie sie ihre issues in der Themenöffentlichkeit platzieren, wie sie mit den Gatekeeper*innen kooperieren oder die Konfrontation suchen, um ihre kritischen Aspekte zu Migration auszuhandeln, welches Agendasetting sie betreiben und wie sie ihre Anliagen framen.
Dies geschieht zumeist über zwei medienstrategische Ansätze: Zum einen sollen die zukünftigen Migranten und ihre Angehörigen in Form von Orientierung und Informationsvermittlung praktisch untersützt und dieses Bestreben in einer medialen Öffentlichkeit als zu diskutierendes Thema verankert werden. Zum anderen richtet sich die Arbeit der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen in Form von Agendasetting und Framing explizit an traditionelle Sprecher*innen bzw. Gatekeeper*innen der Arena pakistanischer Öffentlichkeit zu Migration. Beide Ansätze sind wechselseitig miteinander verknüpft und werden durch journalistische Berichterstattung unterstützt und ergänzt.
Um dieses komplexe Beziehungsgeflecht aufzubrechen, werden in Kapitel 8.1 Praktiken und Strategien vorgestellt, mit denen die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen ihrer „Schutzverantwortung“ gegenüber den Migranten nachkommen wollen, was anhand konkreter Initiativen, Kampagnen und Projekte untersucht wird. Die untersuchten Akteur*innen wollen ihrer sozialen, politischen, individuellen und institutionellen Verantwortung gerecht werden, um somit den Migranten in der Öffentlichkeit eine Stimme zu verleihen. Weiteres Ziel ist die Selbstertüchtigung bzw. die Orientierung der Migranten vor ihrer Ausreise (Kapitel 8.2): Abgeleitet aus der selbstdefinierten „Schutzverantwortung“ gegenüber den Migranten entwickeln die untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen Handlungspraktiken, um einerseits das bestehende Unwissen der Migranten über ihre Lebenswirklichkeiten im Empfängerland zu beheben und andererseits mit ihrem Engagement die Sichtbarkeit solcher Themen in der von mir untersuchten Arena pakistanischer Öffentlichkeit zu erhöhen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es allerdingsdem engen Austausch mit traditionellen Gatekeeper*innen. Es ist daher Teil der Strategie der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen, kreative und alternative Wege zu finden, um trotz der Sensibilität des Themas personale, institutionelle und kommunikative Netzwerke zu pakistanischen Regierungsvertreter*innen zu etablieren. Damit wollen sie als neue Sprecher*innen in der Arena der von mir untersuchten pakistanischen Öffentlichkeit Zutritt und Gehör erhalten. Wie dies erreicht werden soll, wird in 8.3 diskutiert. Weiterhin wird in Kapitel 8.4 analysiert, mit welchen Praktiken die untersuchten Akteur*innen den Austausch mit Vermittler*innen suchen, um in der Arena der Öffentlichkeit zu Migration ihre Vorhaben und Interessen öffentlich zu platzieren. Dazu soll die bessere Vernetzung untereinander beitragen, um ihre Anliegen als neue Sprecher*innen sicht- und hörbar werden zu lassen, Synergien zu schaffen und sich gegen die traditionellen Gatekeeper*innen zu behaupten. In Kapitel 8.5 werden Pläne und konkrete Maßnahmen zu einer solchen Netzwerkbildung vorgestellt.
8.1 Schutzverantwortung gegenüber den Migranten: „Talk about the protection of your people”
„Migrant (...) workers are first and foremost portrayed as victims, duped by agents and exploited and mistreated by employers“ (Moors et al. 2009). Diesen Zustand wollen alle von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen verändern: Demzufolge erfährt ihre „Schutzverantwortung“, wie es der Vertreter des MRC in Lahore nennt („our responsibilty to protect“, BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore), gegenüber den Migranten eine omnipräsente Bedeutung in ihrer alltäglichen Arbeit. Zum einen sollen die Migranten befähigt werden, ihre Probleme im Empfängerland selbst zu lösen oder zu vermeiden, auf die prekären Lebensbedingungen vorbereitet zu sein und nach ihrer Rückkehr Unterstützung bei der Integration zu erhalten. Zum anderen richten sich die Aktivitäten der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen explizit an die traditionellen Sprecher*innen innerhalb der medialen Arena von Öffentlichkeit zu Migration. Beide Ziele versuchen die untersuchten Akteur*innen mit unterschiedlichen Kampagnen, Projekten und Veranstaltungen zu erreichen, wie der Journalist TSH_LAH beobachtet und anregt:
„There should be awareness campaigns, there should be a training program, there should be seminars, there should be provided loans that they can build their own small business that they don’t have to go abroad. When migrants came back, their property was grabbed by other relatives. They lost all their belongings. When people come back after 20 years in Saudi Arabia, they were betrayed by others who say: Give me 500 Rupees in order to help you. I know a number of persons who have been treated in this way. They lost their money, they lost everything because they are not familiar with the current environment of Pakistan. They are not able to deal with the travel agencies or government departments because they are still mentally living in Saudi Arabia but are physically back in a homeland they don’t know anymore. It is not easy for them to return and integrate into a complete changed environment“ (Interview, 11.02.2016, Lahore, #00:32:57-5#).
JPP setzt sich aktiv dafür ein, auf die prekären Arbeitsbedigungen von Migranten in Saudi-Arabien in Form von öffentlichen Kampagnen hinzuweisen, so die Direktorin, denn:
„We do believe that protection starts from home. If you don’t talk about the protection of your people how do you expect other countries to do more?“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:30:57-4#).
JPP begann im Jahr 2014 sein Engagement zu Arbeitsmigration in die arabischen Golfmonarchien: Am 3. Dezember übergaben Mitarbeiter*innen von JPP eine Petition an den Lahore High Court in der Provinz Punjab im Auftrag der Familien zehn inhaftierter Migranten. Damit sollte auf das Scheitern der bisherigen Migrationspolitik der pakistanischen Regierung hingewiesen werden, wie ein interner Bericht konstatiert (JPP, Migrant Workers Project). Im Herbst 2015 wurde die Kampagne „Bring them back“ als Fortsetzung der ein Jahr zuvor begonnenen Aktivitäten initiiert, um die „Schutzverantwortung“ für inhaftierte Migranten in Saudi-Arabien weiter zu professionalisieren und zu medialisieren. Auf der Homepage des JPP findet man die entsprechenden Hintergrundinformationen zu dieser Kampagne:
„Millions of Pakistani migrant workers are living abroad to earn their livelihoods, they are a major contributor to Pakistan’s foreign exchange deposits. But not all of them are breathing free air; many of them end up in jails. There were 8597 Pakistani citizens in jails worldwide until 2014. Out of these 2393 are prisoned in Kingdom of Saudi Arabia alone. These prisoners, kept in callous conditions, have no access to their families, neutral translators and lawyers. They are deprived of their right to contact their respective consulate and fair trial. As Pakistan lacks a codified policy on consular support for its citizens imprisoned abroad many of these prisoners are facing an imminent threat of being executed. Saudi government has executed 40 Pakistani migrant workers since 2014. It should be noted that many Pakistani prisoners waiting for consular support are victims of drug trafficking, who were forced or coerced to traffic drugs” (JPP, Prisoners Abroad).
Darüber hinaus werden die Forderungen von JPP formuliert:
„The government has yet to formulate a codified policy on consular support. In response to a Lahore High Court petition filed by JPP on behalf of 10 migrant workers, the Pakistan government submitted a set of diffused ‘guidelines’ that it adheres to when dealing with cases of Pakistani prisoners. These are not readily disseminated or made available for the public, leading to a lack of understanding among officials and next to no awareness for prisoners about their rights. The government of Pakistan should formulate and implement a unified policy on consular support for imprisoned Pakistanis. Pakistan should immediately and forcefully represent on behalf of detained migrant Pakistani workers“ (JPP, Prisoners Abroad).
Ziel des Agendasettings war es, auf der eigenen Webseite sowie über soziale Netzwerke wie Twitter unter dem Hashtag #justiceformigrantsworkers und Facebook über konkrete individuelle Fälle von Inhaftierungen zu informieren, die Haftumstände aufzuklären, die Unrechtmäßigkeit des Strafverfahrens zu thematisieren und die sozialen Implikationen für die Angehörigen darzustellen. Thematisiert wurden vor allem drei gravierende Missstände: Erstens wurden die Haftbedingungen in Empfängerländern von Migranten wie Saudi-Arabien mithilfe des folgenden Slogans bemängelt: „Convicted Pakistanis are executes without any information given to their families nor are their bodies delivered home.“ Zweitens verfolgte JPP die Absicht, auf die fehlende politische Unterstützung für im Ausland inhaftierte pakistanische Staatsbürger hinzuweisen, womit die mangelhafte pakistanische Migrationspolitik und die Verfehlungen der Regierung kritisiert wurden. Damit sollte ihr Anliegen einer neuen Rahmung unterworfen werden, um bestehende öffentliche Sichtweisen und Narrative herauszufordern bzw. zu dekonstruieren: „Detained Pakistanis are not provided free legal counsel nor given access to impartial translators.“ Zuletzt rückte JPP auch die kriminellen Machenschaften der Rekrutierungsagenturen in den Fokus ihrer Medienstrategie, indem vor allem auf den bereits analysierten erzwungenen Drogenschmuggel hingewiesen wurde: „Most convicts: Poor, uneducated men are duped and tortured by travel agents into carrying drugs.“
Mithilfe dieses auf prägnanten Slogans basierenden Agendasettings, welches sich vor allem auf soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook sowie auf die eigene Homepage konzentriert, zielen die Initiatoren der Kampagne darauf ab, öffentliche Unterstützung und mediale Aufmerksamkeit zu schaffen. Es sollten Spenden generiert werden, indem das Solidaritätsgefühl und die Empathie der adressierten Konsumenten geweckt wurden. Dabei rekurrierte JPP u. a. auf die religiöse Verpflichtung des Almosengebens (zakāt), die als eine der fünf Säulen des Islams für alle Muslime als verpflichtend gilt. Da JPP in seiner Medienstrategie und seinem Engagement ansonsten keine religiösen Diskurse bediente oder mitprägte, wurde mit der Bitte um zakāt für Bedürftige ein neuer Aspekt innerhalb ihres Agendasettings virulent. Die Aufforderung, das zur Verfügung gestellte Geld der Spender könne Leben verändern, sollte einerseits die soziale Verantwortung eines/r jeden pakistanischen Muslim*a adressieren, andererseits auch eine direkte Verbindung zwischen der muslimischen Mehrheitsgesellschaft und den benachteiligten Mitbürgern herstellen, die im Glauben vereint und daher schutzbedürftig sind. Die soziale Hierarchie sollte durch diese Ansprache aufgehoben bzw. reduziert werden, um ein Gefühl der innergesellschaftlichen Solidarität herzustellen.
Weiteres zentrales Element der Medienstrategie des JPP ist die Organisation von öffentlichen Demonstrationen, an denen zumeist Angehörige der inhaftierten Migranten teilnehmen, um insbesondere vor dem Lahore High Court oder dem Lahore Press Club auf das Schicksal ihrer Familienmitglieder aufmerksam zu machen.113 Eine dieser Demonstrationen fand an einem sonnigen Dienstagnachmittag im Januar 2016 statt. Auf Initiative von JPP hatten sich etwa 20 pakistanische Männer, Frauen und Kinder vor dem Lahore High Court der Provinz Punjab versammelt. Dort demonstrierten sie mit Plakaten in Englisch und Urdu für die Freilassung ihrer männlichen Verwandten aus saudischer Gefangenschaft und hatten ihre eigene Verpflegung mitgebracht. Gelacht wurde selten, die Gespräche fanden gedämpft statt; die Anspannung und die mentale Belastung waren bei allen Anwesenden zu spüren. Im selben Jahr fanden weitere solcher Demonstrationen unter dem Slogan „Bring back our sons from Saudi jails“ statt (JPP 2016a; JPP 2016b). Im Rahmen dieser Demonstrationen sollte das Schicksal der inhaftierten oder exekutierten Migranten durch ihre Angehörigen sicht- und verhandelbar gemacht werden, indem sie sich unter Organisation der JPP direkt an einen Teil der pakistanischen Gatekeeper*innen – die Justiz – wandten. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten die Mitarbeiter*innen von JPP jedoch zuerst das Vertrauen der Angehörigen gewinnen, was aufgrund des vorhandenen Misstrauens gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen wie JPP, die bei den Angehörigen der Migranten als „Handlanger des korrupten Systems“ wahrgenommen werden, durchaus eine Herausforderung darstellte. Dies berichtet YAF_LAH, Mitarbeiter bei JPP, der sich persönlich um die Kontaktherstellung zu den Angehörigen bemüht hatte:
„The families are really reluctant to provide us with information because they didn’t trust us in the beginning. You know, we are an NGO and they had bad experiences with recruitment agencies that took so much money from them“ (Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:06:44-3#).
Deswegen war es notwendig, dass die Mitarbeiter*innen von JPP behutsam vorgehen, um ihre „Klienten“, wie YAF_LAH die Angehörigen der Migranten nennt, zur Teilnahme an den Demonstrationen zu überzeugen. Im Vorfeld wurden dafür umfassende Recherchen durchgeführt, um die inhaftierten Migranten zu identifizieren, ehe mit den Familien die Arbeit aufgenommen werden konnte.
„For example, for the migrant workers people, we took a month of investigation to get in touch with those people. We get their families out of their villages and then we had a huge meeting with all the family members. All the investigators took all the information and the we prepare the information for the press“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:09:39-3#).
Dafür mussten zu Beginn respektierte und bekannte Kontaktpersonen im persönlichen Umfeld der Migrantenfamilien identifiziert werden, um über diese „Mittler“ (middle persons) Vertrauen für die Anliegen des JPP herzustellen. Bei ihnen handelt es sich zumeist um einflussreiche Personen wie Dorfälteste, Familienpatrone oder auch Geistliche der jeweiligen Gemeinden (community leaders). Ziel dieser vertrauensbildendenden Maßnahmen war es, den Angehörigen Hoffnung und das Gefühl zu vermitteln, sie nicht mit ihren Sorgen allein zu lassen. Viele dieser Familien hatten seit Monaten nichts von ihren Angehörigen gehört. Dies führte zu mentalen Problemen bei allen Angehörigen, sodass JPP auch darauf einwirkte, in der Gemeinschaft das Leid der Ungewissheit und des Verlusts zu lindern.
Zu solchen Demonstrationen wurden auch Medienvertreter*innen von Presse und Fernsehen eingeladen, die im Rahmen dieses Medienevents betroffene Angehörige interviewten. Es war beabsichtigt, das Schicksal der pakistanischen Inhaftierten öffentlich sichtbar werden zu lassen, die Ohnmacht der Angehörigen gegenüber dem pakistanischen Rechtssystem zu artikulieren und mediale Berichterstattung zu generieren, wie YAF_LAH ausführt:
„Whenever we have a hearing at the Lahore High Court we make sure that we invite people from the media to come and report about the cases. We talk to the media and tell them what really happens in Saudi jails with our citizens. That’s how we try to pressurize the judiciary, the government, everyone… Because you know, media in Pakistan is extremely, extremely strong. They can sensationalize things (…)“ (Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:23:38-1#).
Das Schicksal der Migranten soll eine emotionale Reaktion der Rezipienten in Form von empathischer Solidarität, reaktivem Unverständnis und aktivem Engagement auslösen. Bestehende Narrative sollen mit diesen Aktivitäten neu „geframt“ werden.
An diesem Tag waren vier Fernsehteams und drei Journalist*innen von pakistanischen Tageszeitungen zugegen, interviewten betroffene Familien und fotografierten die Demonstrant*innen und ihre Plakate. JPP nutzte im Anschluss die getätigten Interviewaussagen ihrer Klient*innen, um mediale Aufmerksamkeit für Einzelschicksale zu erregen, wie z. B. im Fall von Muhammad Nazir, dessen Bruder seit Jahren ohne Gerichtsprozess in Saudi-Arabien inhaftiert war. Dabei wurden seine Aussagen auf der Facebook-Seite von JPP in übersetzter Form in der Kommentarspalte präsentiert:
„I request Prime Minister Nawaz Sharif to help not only my brother but the hundreds of other Pakistanis in Saudi jails. These people are the sole breadwinners of their families. The reason they went abroad was so they could feed their families. Saudis don't care if Pakistanis are in their jails, and that is so because our government takes no action. They say Saudi Arabia is our friend. Is this friendship if they kill my brother when he is innocent?“ (JPP, Facebook 29.06.2016).
Und Haji Abdul Haq, Vater eines wegen Drogenschmuggels inhaftierten Migranten, äußerte sich ebenfalls gegenüber den anwesenden Medienvertreter*innen:
„We are very poor and belong to the labour class. We are not educated. Our son was the only bread winner for our family. He went to Saudi Arabia to earn money so that he can support us but he got trapped by the agents and was arrested at the airport for smuggling drugs (…) He was a modest pious man who does not have any criminal record in Pakistan. We knocked at every door we could to get justice but no one helped us. Not even we were informed by the government regarding our son. We plead to the Pakistani government to help us and provide legal assistance to our children [in Saudi jails] and take action against the agent mafia” (JPP 2016a).
JPP zielt mit der Berichterstattung über solche Fälle darauf ab, neben allgemeinen Informationen zu den Haftbedingungen vor allem über persönliche Beispiele Nähe zu erzeugen, die Abstraktion des Phänomens anhand konkreter Einzelfälle zu reduzieren und somit die unrechtmäßige Behandlung pakistanischer Migranten sicht- und erfahrbarer für das adressierte Publikum werden zu lassen. Dieses Agendasetting schlägt sich auch in den von JPP veröffentlichten Publikationen nieder: So werden z.B. in Interviewzitaten mit Betroffenen die diskriminierenden Hafterfahrungen in der zweiten Ausgabe des Bulletins „Justice Bulletin: Plight of Migrant Workers“ aus September 2016 beschrieben. Darin berichtet Ramzan, Stiefbruder von Liaqat Ali, der 2015 in Saudi-Arabien wegen Drogenschmuggels verurteilt wurde, dass dieser vor seiner Ausreise von Rekrutierungsagenten gezwungen worden war, Drogen zu schlucken. Und „A.Q.“ spricht davon, nach seiner Inhaftierung in Saudi-Arabien mehr als 20 Mal verhört und mit Elektroschocks gefoltert worden zu sein. Anschließend hätten ihn die Vollzugsbeamten gezwungen, ein arabisches Geständnis zu unterzeichnen, welches er nicht verstanden habe (vgl. JPP 2016c: 2). Die Mutter des im Januar 2014 exekutierten Ibrar äußert ihr Unverständnis über die ausgebliebende Überstellung der Leiche ihres Sohnes: „If he has really been executed, then why hasn’t his body been transferred to us as is customary in Islam?“ (JPP 2016c: 3). Dabei speist JPP seine Berichte aus einer umfassenden Datenbank, in der das investigative Rechercheteam Hunderte Interviews mit Angehörigen und Bekannten von inhaftierten Migranten sowie deportierten Häftlinge zusammenträgt. Mir liegen darüber hinaus interne Akten von Fällen vor, in denen auf die persönlichen Umstände der Verhaftung, die Familiensituation und das rechtliche Vorgehen der Angehörigen eingegangen wird (vgl. JPP: Migrant Workers Project):114
  • Muhammad Irfan wurde 2009 in Saudi-Arabien wegen Heroinschmuggels zum Tode verurteilt. Daraufhin wandte sich dessen Vater an die Federal Investigation Agency (FIA) und beschuldigte die Rekrutierungsagenten, seinen Sohn zum Drogenschmuggel gezwungen zu haben. Diesem Vorwurf gaben die Ermittler*innen der FIA zuerst statt. Doch nachdem ein Kronzeuge während des Prozesses seine Aussage verweigerte, wurden die Vorwürfe fallengelassen. Die Beschuldigten wurden freigelassen.
  • Asmat Hayat wandte sich an einen Rekrutierungsagenten, der ihm zusagte, über Spenden seine Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien zu finanzieren. Bei seiner Einreise in Dschidda wurde er wegen Drogenschmuggels verhaftet und am 5. August 2015 exekutiert.
  • Der 60-jährige Nazir Ahmed wurde 2006 bei seiner Einreise nach Saudi-Arabien von den Behörden des Drogenschmuggels beschuldigt. Seine Familie blieb drei Monate über seine Festnahme uninformiert. Am 10. Juni 2015 wurde er hingerichtet.
  • Safeer Ahmed arbeitete vor seiner Ausreise nach Saudi-Arabien in einer Stahlfabrik. Ein Kollege brachte ihn in Kontakt mit einem Rekrutierungsagenten, den er mit dem Erlös aus dem Verkauf seines Motorrades bezahlte. Vor seiner Ausreise wurde ihm eine Tasche übergeben, die er nach Saudi-Arabien transportieren sollte und in der sich Drogen befanden. Nach seiner Ankunft in Dschidda sollte er eine bestimmte Telefonnummer anrufen, um die Übergabe der Tasche zu organisieren. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Auffällig ist, dass alle medialen Initiativen zu weiten Teilen in englischer Sprache stattfinden. Selbst viele Slogans der auf den von Familienangehörigen erstellten Plakaten bei den jeweiligen Demonstrationen sind in englischer Sprache verfasst, obwohl deren Träger*innen nach eigener Beobachtung die englische Sprache nur rudimentär beherrschen. So wurde mir mitgeteilt, dass den Teilnehmer*innen bei der Formulierung der Slogans von den Organisator*innen geholfen worden sei. Dieses Vorgehen orientiert sich somit konsequenterweise an der generellen Medienstrategie von JPP, mit ihren Kampagnen im virtuellen und öffentlichen Raum vor allem mediale und politische Sprecher*innen der englischsprachigen Arena zu Migration erreichen zu wollen.
Weiterhin treten JPP-Aktivist*innen in TV-Shows auf, geben interessierten Journalist*innen Interviews und lassen ihnen entsprechende Informationen zu Einzelfällen aus ihrer Datenbank zukommen. Dabei artikulieren die Mitarbeiter*innen ihre Anliegen zumeist eher in Unterhaltungssendungen wie Kochshows und nicht in politischen Sendeformaten. Aufgrund der Kommerzialisierung des Mediensystems erscheint dies nur in Form von Infotainment möglich. Diesem Ziel dient auch die Veröffentlichung des bereits erwähnten „Justice Bulletin: Plight of Migrant Workers“ aus September 2016, das u.a. interessierten Journalist*innen zur Verfügung gestellt wurde. Darin schildern die Verfasser*innen die kriminellen Rekrutierungspraktiken sowie den erzwungenen Drogenschmuggel, befassen sich mit Lösungsansätzen für eine kohärente und opferfokussierte Konsulatspolitik und nennen Beispiele, die aus den Recherchen des JPP im Umgang mit den Angehörigen inhaftierter Migranten stammen. So werden auf Seite 2 des Bulletins die OEP als „biggest villains in the sorry saga of imprisoned migrant workers” beschrieben (vgl. JPP 2016c: 2).115
Vor allem die empirische Sammlung und Aufarbeitung von Daten über in Saudi-Arabien inhaftierte Migranten ist zunehmend zu einem inhaltlichen Schwerpunkt des Agendasettings von JPP geworden. Dazu wurde intensiver als bisher mit internationalen Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet, um Synergieeffekte zu schaffen und gemeinsame Quellenzugänge zu nutzen. Im März 2018 wurde die von JPP in Zusammenarbeit mit Human Rights Watch veröffentlichte Studie „‘Caught in the Web‘: Treatment of Pakistanis in the Saudi Criminal Justice System“ herausgegeben. Diese Publikation stellt den bisherigen Höhepunkt des Folgeprojekts von „Bring them back“ – „Caught in the Web“ – dar, mit dem JPP die bisherigen Ziele (Informationsvermittlung, mediale Aufmerksamkeit und Schutzverantwortung) weiterverfolgte, diese aber um die Auswertung empirisch erhobener Daten ergänzte. Solche Informationen werden in der Studie präsentiert und basieren auf Interviews mit zwölf ehemals oder aktuell inhaftierten pakistanischen Migranten und mit sieben Familienmitgliedern von neun anderen Gefängnisinsassen, die zwischen September 2015 und November 2016 durchgeführt wurden (vgl. JPP 2018: 1). Die Studie kritisiert die mannigfaltigen Missstände innerhalb des saudischen Strafrechts, welches bislang nicht kodiert worden ist, sodass kein ausreichender Rechtsschutz gewährleistet werden könne (vgl. JPP 2018: 5). Dabei konzentrieren sich die Autor*innen auf die systemischen juristischen Verfehlungen, unter denen pakistanische Migranten in Saudi-Arabien zu leiden haben. Besonders signifikant sind die langen Haftzeiten ohne Prozess, fehlende Rechtsberatung und Sprachübersetzung sowie erzwungene Geständnisse (vgl. JPP 2018: 26). Nach Informationen von Familienangehörigen wurden vier dieser elf Migranten unter Druck gesetzt, als Drogenkuriere zu fungieren (vgl. JPP 2018: 2).
„If they chose to dispute the ruling, the courts permitted defendants to submit a written defense, but nevertheless the courts repeatedly summoned them for additional hearings in which judges presented the same predetermined rulings, leaving detainees with the impression that not accepting sentences would mean indefinite pretrial detention” (ebd.).
Neun Inhaftierte gaben an, erzwungene Geständnisse abgelegt zu haben. Viele von ihnen waren zuvor mit Faustschlägen, Auspeitschungen mit Gürteln und Elektroschocks drangsaliert worden. Von anderen wurde anstatt ihrer Unterschrift nur ein Fingerabdruck genommen, der als Schuldeingeständnis gewertet wurde. Ihnen wurde weder die Zeit gewährt, die vorgelegten Dokumente selbst zu prüfen noch sie sich aus dem Arabischen übersetzen zu lassen.
“I was working in [Saudi Arabia] for about three-and-a-half years so I could understand Arabic thus I did not ask for a translator. The judge did not tell me anything apart from my crime (…) I just silently accepted what was written in the letter because I wanted to get over the whole thing quickly. I had seen in the prison that prisoners who refused to sign the letter stay in the jail for a longer time” (Interview mit Fahad, Gujranwala, 12. November 2015, zit. in JPP 2018: 14).
Weiterhin erklärten vier Insassen, die ihnen zugeteilten Dolmetscher hätten in den Verhören bewusst missverständliche Übersetzungen geleistet (vgl. JPP 2018: 3). Mit Ausnahme von einem Fall wurde den Inhaftierten weder Zugang zu einem Anwalt gewährt noch zeigten Mitarbeiter*innen des pakistanischen Konsulats Präsenz, die pakistanischen Häftlinge zu betreuen. 61 von 83 offiziell registrierten pakistanischen Inhaftierungsfällen (Nafethah 2017)116 wurde länger als sechs Monate die Konsultation eines Anwalts vorenthalten (vgl. 2018: 12). Mitarbeiter*innen des Konsulats in Dschidda oder der Botschaft in Riad wurden auch deswegen nicht von den Insassen konsultiert, da diese weder das wenige ihnen zur Verfügung stehende Geld in einen Telefonanruf investieren wollten, noch Hoffnungen hegten, überhaupt Unterstützung zu erfahren. Fehlendes Vertrauen der Inhaftierten gegenüber den Repräsentant*innen des pakistanischen Staates resultierte in den meisten Fällen in wachsender Frustration und Resignation. Daneben bemängelten die Interviewten die katastrophalen Haftbedingungen wie unhygienische Sanitäranlagen, überfüllte Zellen, fehlende Schlafmöglichkeiten und unzureichende medizinische Versorgung (vgl. JPP 2018: 4). Am Ende der Studie werden diverse Empfehlungen an die saudische sowie die pakistanische Regierung gerichtet: So solle die saudische Regierung u. a. ein Strafgesetz kodifizieren, den regelmäßigen Zugang zu rechtlichem Beistand gewährleisten, die Todesstrafe abschaffen, die pakistanische Botschaft und das Konsulat umgehend nach der Festnahme eines pakistanischen Staatsangehörigen informieren, den Insassen ausreichend Zeit gewähren, die ihnen vorgelegten Dokumente zu prüfen, um aufgrund fehlender Sprach- und Rechtskenntnisse getroffene Geständnisse zu vermeiden, arabische Übersetzungsdienste verbessern, mit dem pakistanischen Staat eine Vereinbarung zum Gefangenenaustausch aushandeln sowie die Leichen exekutierter pakistanischer Häftlinge an ihre Familien überstellen. Die pakistanische Regierung solle sicherstellen, adäquate konsularische Unterstützung und anwaltlichen Beistand zur Verfügung zu stellen, das System der Drogenmafia zu bekämpfen und – mit Hinblick auf die medienstrategische Vorgehensweise von JPP entscheidend – zukünftige Migranten in Orientierungskursen auf die möglichen Risiken ihrer Migration vorzubereiten (vgl. JPP 2018: 7f.).
Im Anschluss an die Veröffentlichung der Studie organisierte JPP für ausgewählte Pressevertreter*innen am 7. März 2018 eine Diskussionsveranstaltung im Marriott Hotel in Islamabad, auf der die wesentlichen Inhalte der Studie präsentiert und mit anwesenden Expert*innen diskutiert wurden. Die Einführung durch die Direktorin von JPP, die Eröffnungsrede des Senators Farhatullah Babar sowie die anschließende Diskussion wurden auf der Facebook-Seite von JPP live übertragen (JPP, Facebook, 05.04.2018).117 In ihrem Eingangsstatement betonte die JPP-Direktorin, dass der Bericht einen Versuch darstelle, die „dangerous shortcomings of the Saudi justice system“ aufzuzeigen und Aufmerksamkeit innerhalb Pakistans zu kreieren. Die anschließende Podiumsdiskussion wurde mit Live-Kommentaren bei Twitter unter dem Hashtag #CaughtInAWeb begleitet. So verwies der User Sajjad darauf, dass die politische Elite des Landes kein Interesse daran zeige, sich um die Fälle der inhaftierten Migranten zu bemühen: „They are members of elite families who do not care about the community“ (@JusticeProject_, Twitter, 07.03.2018). Die Zivilgesellschaft müsse auch aufgrund dieser politischen Kultur der Ignoranz ihrer Schutzverantwortung gegenüber den Migranten nachkommen. Es sei außerdem ihre Aufgabe, intensiver daran zu arbeiten, die Aufmerksamkeit der Medien zu erreichen, denn: „Media has the power to push the government to act but the agenda has not been set“ (@JusticeProject_, Twitter, 07.03.2018).
Auf der JPP-eigenen Facebook-Seite wurden Fotos der Veranstaltung den zu diesem Zeitpunkt 12.602 Followern (Stand: 5. April 2018)118 zur Verfügung gestellt (vgl. JPP, Facebook, 05.04.2018). Darüber hinaus veröffentlichte JPP am 8. März 2018 einen gemeinsam mit Human Rights Watch produzierten Videoclip, der anhand eines Einzelfalles die Haftbedingungen pakistanischer Inhaftierter in Saudi-Arabien darstellt. Das einminütige Video widmet sich dem Verfahren gegen den Ehemann von Razia Bibi und findet sich unter folgendem Kommentar: „Razia Bibi‘s husband trial was conducted entirely in Arabic. He had no lawyer. After spending 14 years in Saudi jail, he was beheaded last year. His family has still not received his body“ (JPP Facebook, 05.04.2018). In dem mit englischen Untertiteln versehenen Clip wird Bibi zur Verhaftung ihres Mannes befragt, schildert die Foltermethoden und die fehlende Unterstützung durch einen Anwalt. Im Anschluss weist eine Mitarbeiterin von JPP, Rimmel Mohydin, darauf hin, dass es sich dabei keineswegs um einen Einzelfall handele. Die meisten pakistanischen Staatsangehörigen seien wegen Drogendelikten inhaftiert worden; ihnen gebühre das Recht auf ein faires Verfahren.119 Im Rahmen dieser Kampagne um Razia Bibi wurde bereits am 8. März 2017 ein in ihrem Namen verfasster Artikel auf der Homepage von Geo TV veröffentlicht, in dem die Hintergründe des Falls aus Sichtweise von Bibi geschildert werden. Die Informationen wurden von Mohydin übermittelt. Darin heißt es:
„My husband, Afzal has been in prison in Jeddah, Saudi Arabia since 2005 and on death row since 2009. For 12 years, he has languished behind bars, been tried in a language he does not understand and has never had a lawyer. He could be beheaded any day (…) The next time I heard from Afzal was a call. He told me he was in Saudi Arabia. He told me he was in jail. Two years later, another call. He told me he had been sentenced to death. There was my life before those phone calls, and the death I die every day ever since that phone call“ (Bibi, 13.03.2017).
Sie beschreibt, wie sie erfolglos versucht habe, bei den pakistanischen Behörden Unterstützung für ihren Mann zu erhalten und vor der Punjab Assembly in Lahore gemeinsam mit JPP demonstriert habe. Mit Hilfe von JPP habe sie mit anderen neun betroffenen Familien die bereits erwähnte Petition beim Lahore High Court eingereicht: „If they don’t respond to us, they might listen to the courts“ (Bibi, 13.03.2017). Sie könne mit ihrem Ehemann ein bis zwei Mal im Monat telefonieren und appelliert an die Politik, ihm zu helfen (ebd.).
Während für die Kampagne „Caught in the Web“ im Vergleich zum Vorläuferprojekt „Bring them back“ verstärkt die Nutzung sozialer Medien eingesetzt werden, wurde daneben vor allem in den englischsprachigen Tageszeitungen über das Projekt berichtet, wie die Direktorin von JPP erläutert:
„So we deliberately had every single day, Monday, Tuesday, Wednesday, Thursday, there are an op-ed in the major dailies or TV comment upon the clients’ families. And we have other people like experts speaking about it. And when we turn up on Friday – Boom (klatscht in die Hände) – we got the attention“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:06:55-6#).
Dabei liegt der Fokus nicht nur darauf, journalistische Berichterstattung zu generieren, sondern in Form von eigenen Meinungsbeiträgen über die Thematik und das Projekt zu informieren. So erschien von Sarah Belal am 6. März 2018 der Artikel „Caught in the Web“ in The Dawn. Darin schreibt sie:
„Now imagine being in a court of law. You are the defendant. The documents before you could say anything. You wouldn’t know, you cannot understand what the text says. You’re being talked about, your guilt measured but you have no idea how you or your story is being represented. For all you know, they could be saying you committed a mass murder when you’re really in there for a traffic violation“ (Belal, 08.03.2018).
In diesem Beitrag schildert sie die Disproportionalität zwischen dem engen pakistanisch-saudischen Verhältnis und den Misshandlungen der pakistanischen Bürger und kritisiert die fehlende Unterstützung durch das pakistanische Konsulat sowie die Verfehlungen der saudischen Behörden, die pakistanische Regierung über die Inhaftierung pakistanischer Migranten zu informieren: „This is not an issue that can be put on hold by buying more time; every day that passes brings more misery to Pakistanis detained abroad and to their families“ (Belal, 08.03.2018). Es folgte am 20. März 2018 ihr Meinungsartikel „Good friends...“. Darin führt sie die prekären Arbeitsbedingungen der pakistanischen Migranten im Königreich auch auf die asymmetrischen bilateralen Beziehungen mit Saudi-Arabien zurück:
„The highest number of foreign nationals executed in the kingdom have been Pakistanis, who are treated worse than any other nationality. How your citizens are treated is a much better mark of your diplomatic relations than the grand receptions officials receive” (Belal, 20.03.2018).
Es sei demnach höchste Zeit, eine effektive Konsularpolitik umzusetzen, um diese Missstände zu beheben.
„Helping prisoners in Saudi Arabia isn’t impossible. And for a country that since 1967 has reportedly trained over 8,200 Saudi armed forces personnel, it should not be a tall ask that its citizens be accorded their right to fair trial, consular access, and legal representation. After all, what good is a friendship that cannot withstand a confrontation?” (Belal, 20.03.2018)
Ähnlich wie JPP arbeitet auch BLLF in seinen Projekten mit betroffenen und benachteiligten Gruppen wie vor allem Zwangsarbeiter*innen zusammen, um ihnen institutionellen Schutz zu gewähren und deren Schicksale medial sichtbar zu machen. Allerdings konzentriert sich das Agendasetting im Vergleich zu JPP nur in geringerem Umfang auf das Thema Migration. So befinde man sich bei migrantenorientierten Projekten noch in der Entwicklungsphase. BLLF verfolgt jedoch ambitionierte Pläne, betont HUS_LAH, der die zukünftigen Kampagnen zu Migration initiieren und konzipieren soll:
„We can (…) launch a website with stories, news, interviews of overseas Pakistanis and then we can establish a liaison with FIA. We can cooperate with OPF and the Foreign Office. That will be helpful. We will go through Facebook, website, brochures, awareness raising workshops and legal assistance to victims who are still abroad or have returned after some problems. We also want to raise awareness through the kinship, relatives and friends of the victims“ (Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:33:14-1#).
Weiterhin will man sich stärker mit internationalen Migrationswissenschaftler*innen vernetzen, diesen einen Arbeitsplatz und in fernerer Zukunft auch ein Fellowship-Programm anbieten, um sie in die alltägliche Arbeit zu Migration zu integrieren und ihre Expertise für eigene Projekte zu nutzen:
„We want to provide them institutional and logistical support. That is part of our plan. Inshallah, in your next visit you can stay with us. Together we can end labour and economic exploitation. Together!“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:57:03-0#).
Um Zugang zu der öffentlichen Arena zu Migration zu erlangen, ist angedacht, die Breitenwirkung der Initiative nicht ausschließlich über klassische Medienarbeit in Form von Pressekonferenzen oder organisierte Interviews, sondern stattdessen über Mund-zu-Mund-Propaganda und eine auf die Adressat*innen abgestimmte Social-Media-Strategie zu erreichen. Ziel ist es, die zukünftigen Migranten und ihre Familien direkt zu adressieren:
„The migrants are aware of our activities through our website and our social media activities. If we are in contact with one worker, he will bring us in touch with others in order to raise awareness for our activities. Once we provide assistance to one worker, he becomes our activist“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:24:45-3#).
Insbesondere mit dem Versuch, Personen mit Migrationserfahrung als freiwillige Aktivist*innen – als „Sprachrohre“ – zu gewinnen, sollen Kontakte zu den Communities hergestellt und das Engagement der Initiative bei den relevanten Zielgruppen verbreitet werden. Über diese Netzwerke sollen zukünftige Migranten darüber informiert werden, welche Lebensbedingungen sie im Empfängerland erwarten, welchen Herausforderungen sie begegnen und wie sie sich vor Problemen mit ihrem Bürgen oder ihrem Agenten schützen könnten. Dies soll durch bereitgestellte Medienformate wie Videos, Audiodateien, Diskussionsforen und Chats in sozialen Medien begleitet werden:
„Besides we want to educate and inform our people, our community about what is happening in other countries. We will raise awareness, we will address recruitment agents and we want to establish a direct link either to phone calls or websites to verify and check the registration of employment person agents or agencies“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:30:53-6#).
Weiterhin ist geplant, eine Fotoausstellung zu organisieren, in der Motive von Migranten in ihren Lebenswirklichkeiten gezeigt werden sollen. Bislang organisierte BLLF in Zusammenarbeit mit der FES Foto- und Gemäldeausstellungen, deren Motive vor allem innerpakistanische Zwangsarbeiter*innen und Kinderarbeit darstellen. Einige dieser Bilder finden sich in den Räumlichkeiten des BLLF und wurden mir während meines Besuchs präsentiert (siehe Abb. 6): „This is our modern way of mobilization and awareness raising to elite class of Pakistan about what is happening on the ground“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:07:11-2#). Mir gegenüber bestätigten die lokalen Vertreter*innen der FES, dass es durchaus Überlegungen gebe, ähnliche Ausstellungen zu Migration zu unterstützen.
Auch das MRC widmet sich in erster Linie der Schutzverantwortung gegenüber den Migranten.
„We will start a media campaign and we will also use social media, television and radio stations. There will be a daily series focused on migration and every episode will have specific issues. One will be about migrants carrying drugs, one will be about the exploitation by OEPs or by the kafala system. Maybe this will start in the second or the third quarter of this year and will be a television drama. We want to cover issues such as: What are your dreams and what is the reality? We do have a media strategy which will be start in the second quarter of the year“ (HAY_ISL, Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:35:50-4#).
Insbesondere die Produktion einer Fernsehserie sowie von Flugzetteln und Informationsbroschüren, die sich explizit mit Alltagsproblemen von Migranten und ihren Familien beschäftigen, soll die mediale Diskussion um Migration anregen, ein öffentliches Bewusstsein für diese Thematik schaffen und das Phänomen emotionalisieren. Eine TV-Serie, die explizit nicht als Dokumentation, sondern als fiktives Drama konzipiert werden soll, könnte aus Sichtweise der MRC-Mitarbeiter*innen eine emotionale Verbindung des Zielpublikums zu den imaginären Migranten herstellen, um in einem weiteren Schritt ein mediales Bewusstsein in der pakistanischen Öffentlichkeit zu schaffen. Daher ist es – im Unterschied zu BLLF – verstärktes Ziel der medienstrategischen Bemühungen von MRC, traditionelle Sprecher*innen zu erreichen, um diese für die Belange der Migranten zu sensibilisieren.
Die von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen verfolgen in Form unterschiedlicher Projektarbeit somit das Ziel, ihrer Schutzverantwortung für die Migranten und ihren Angehörigen in unterschiedlicher Form nachzukommen, indem sie mit diversen medienstrategischen Ansätzen traditionelle Sprecher*innen bzw. Gatekeeper*innen des Teilbereichs pakistanischer Öffentlichkeit zu Migration zu adressieren. Dazu konzentrieren sie sich auf die Organisation von Medienevents und stellen weiterführende Informationen für eine englischsprachige Arena bereit. In den medienstrategischen Konzeptionen und ihrem Agendasetting findet sich somit ein elitenadressiertes Element, welches dazu beitragen soll, die Sichtbarkeit von Migration zu erhöhen.
8.2 Selbstertüchtigung der Migranten: „Travel Smart and Work Smart!”
Der karge Raum war stickig. Es roch nach Schweiß; Staub hing in der Luft. Die milchige Glasfront ließ die Hitze der Februarsonne ohne Schutz in das Gebäude fluten. Der Raum befindet sich in der Zweigstelle des MRC in Lahore, welche aus diesem Seminarraum sowie einem weiteren Büro inmitten eines unverputzten, dürftig restaurierten Gebäudes auf einer Industrieanlage in den Außenbezirken Lahores besteht. Es war spürbar, dass sich die Initiative noch im Aufbau befindet: Kabel hingen aus der Wand, Jalousien fehlten, im Flur montierte ein Techniker die fehlenden Deckenleuchten. Innerhalb des Seminarraumes saßen insgesamt etwa 40 pakistanische Männer an wackeligen Holztischen und lauschten gebannt dem Referenten, der am Kopfende des Raumes vor einem Laptop stand und mithilfe einer Urdu-sprachigen Präsentation über mögliche Hürden des Alltags in Saudi-Arabien dozierte. BUK_LAH, Mitarbeiter des MRC Lahore, sprach in Urdu zu seinem Publikum, bei dem es sich ausschließlich um Männer handelt, die die Absicht hatten, zeitnah ins Königreich auszuwandern. In der damaligen Sitzung erklärte er ihnen, dass ein komplikationsloses Leben in Saudi-Arabien für sie nur dann möglich sei, wenn sie sich an bestehende Regeln und Gesetze halten. Dazu gehöre, die Aufenthaltsgenehmigung (iqāma) ständig bei sich zu führen, sich strikt den Verkehrsregeln zu beugen, sollten sie als Chauffeur arbeiten, und bei möglichen Verkehrskontrollen weder die Vorlage der iqāma noch weiterer angefragter Dokumente zu verweigern. Für die weitere Vorbereitung wurden Informationsmaterialien in englischer Sprache und Urdu entwickelt, die den Migranten zur Verfügung gestellt werden. Für Saudi-Arabien wurde die 24-seitige Broschüre „Travel Smart – Work Smart. A guide for Pakistani migrant workers in Saudi Arabia“ erstellt (2015a).120 In ihr werden die zukünftigen Migranten auf ihre Rechten und Pflichten hingewiesen:
„Always remember, the best person to safeguard your interests is you! So Travel Smart and Work Smart!” (ILO 2015c: 4).
“Every day, many people – just like you – enter Saudi Arabia for work. Most of them encounter no major problems. But some are exploited by their employers, have their wages withheld or find themselves a kind of prisoner, with no one to call for help. There are ways to avoid this. If you are being abused, there are people in Saudi Arabia who can help you” (ILO 2015c: 5)
Es folgen sachdienliche Hinweise zum Kafāla-System, zur iqāma oder zu vertraglichen Fragen. So weist die Broschüre darauf hin, dass in den Arbeitsverträgen Gehälter und Jobbezeichnungen klar definiert sein müssen, um möglichem Missbrauch bereits vor der Ausreise vorzubeugen (vgl. ILO 2015c: 6). Auch Probleme wie Lohnkürzungen, Ausweisungen oder Arbeitgeberwechsel werden thematisiert. Dabei wird der Rat „Be careful!“ erteilt (vgl. ILO 2015c: 7). Ziel der Broschüre ist es, den zukünftigen Migranten das Gefühl zu vermitteln, sich nicht hilf- und schutzlos zu fühlen, sondern auch eigene Rechte einzufordern:
  • “You have the right to keep the original of your personal documents, including passport, visa and employment contract.
  • Your working hours are regulated, and you have the right to overtime compensation.
  • You have the right to refuse overtime work.
  • You have the right to working days off.
  • You have the right to one day off each week.
  • You have the right to public holidays.
  • You have the right to take medical leave.
  • You have the right to receive your wages during a period of illness.
  • You have the right to be paid the following provisions outlined in the Saudi Labour Code.
    • Wages of daily rate workers are paid at least once a week
    • Wages of monthly rate workers are paid once a month
    • If the work is performed by piece and it requires a period exceeding two weeks, a payment proportionate to the work completed by the worker must be made to the worker every week. The full balance of the wages is to be paid within the week immediately following the delivery of the work
    • In cases other than those mentioned here, wages are to be paid to the worker at least once a week.
  • You have the right to leave your workplace during your free time
  • You have the right to be paid for work completed even if you are arrested, quit your job or are fired” (ILO 2015c: 8f.).
Dafür sei es notwendig, die bestehenden Hilfsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen und die erforderliche Sensibilität für möglichen Missbrauch zu entwickeln: Migranten sollen keinen Fremden oder Rekrutierungsagenten vertrauen (vgl. ILO 2015c: 17). Im Falle von arbeitsrechtlichen Problemen sollen die Migranten ihre Familie und Freunde in Pakistan informieren oder sich an die CWA in den Botschaften und Konsulaten oder die Protector Offices wenden. Dafür werden die relevanten Kontaktdaten angegeben (vgl. ILO 2015c: 13). Migranten sollen mithilfe dieser Materialien die Sensibilität entwickeln, sich nicht allen lokalen Gegebenheiten zu beugen, werden aber auch angehalten, existierende Vorgaben einzuhalten, um Probleme vor Ort zu vermeiden, denn: „You have rights – and responsibilities! Knowing them can help you avoid abuse and help you make the most of your time in Saudi Arabia. Be aware!” (ILO 2015c: 24). Kulturelle Normen müssen ebenso akzeptiert werden wie ein respektvoller Umgang mit Frauen: „You should be respectful to women and never tease them, ogle or stare at them” (ebd.). Im Falle von Verhaftungen durch die Polizei solle man ohne Widerstand den Anordnungen Folge leisten, sich aber nach dem Grund der Verhaftung erkundigen. Außerdem solle man ohne juristische Beratung auf keinen Fall ein Geständnis oder andere Dokumente unterzeichnen (vgl. ILO 2015c: 15). Bei Gerichtsprozessen sollen die Migranten auf einen Übersetzer und Rechtsbeistand bestehen und sich Zeit nehmen, die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen sprachlich und inhaltlich zu verstehen, um kein übereiltes oder erzwungenes Geständnis abzulegen (vgl. ILO 2015c: 16). Entscheidend sei, so BUK_LAH, den zukünftigen Migranten in den Orientierungskursen und durch diese Broschüren ein Gefühl dafür zu geben, was sie erwarte. Viele werden von falschen oder naiven Erwartungen geleitet, hören auf die Erzählungen ihrer Verwandten und Freund*innen, die allerdings oftmals ihre eigene Version der Realität berichten:
„The people have never been there. They just heard from relatives strange stories but they didn’t experience them by their own. The migrants do not know what makes the Saudis tough against Pakistanis. We have to look into that perspective as well“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:18:32-5#).
Die meisten der Anwesenden nickten während seiner Präsentation verständig, nur wenige schrieben mit. Bei der Mehrheit der Anwesenden handele es sich um Analphabeten, erklärte mir BUK_LAH anschließend. Dieses vorbereitende Seminar dauerte insgesamt knapp 45 Minuten, Fragen wurden keine gestellt. Auch das sei die Regel, betonte er. Viele der Teilnehmer wären zum ersten Mal anwesend und trauten sich noch nicht, ihre Wissenslücken durch Nachfragen zu füllen, wie er sagte. Doch mit der Zeit ändere sich dies. In den ersten Sitzungen ist es demnach neben der Informationsvermittlung ein wesentliches Ziel, Vertrauen aufzubauen und eine konstruktive Gesprächsatmosphäre herzustellen. Soziale Barrieren stellen das größte Hindernis für einen Austausch auf Augenhöhe dar. Viele der Anwesenden haben Angst, sich zu öffnen, aus Scham, ihrem großen Ziel – der Auswanderung nach Saudi-Arabien – nicht näher zu kommen oder sich sogar damit zu schaden. Vor diesem Hintergrund sei es als großer Erfolg zu werten, dass etwa 40 Personen den Weg ins MRC Lahore gefunden haben, betont BUK_LAH. Ihm selbst habe das in den Seminaren vermittelte Wissen während seines Arbeitsaufenthaltes im Königreich gefehlt, erklärt er anhand einer Anekdote:
„I was in jail for one night during my stay in Saudi Arabia because I broke one rule of the traffic law. I took the U-turn from a wrong lane. They didn’t charge me a fine or gave me any punishment. They just put me in jail“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:14:03-8#).
„Unfortunately, the police officer forgot that he put me in jail. That was the problem because they don’t release me after half an hour but after one night. Thus, I asked another officer: Look, get me out. He answered: Only the one who put you in jail can get you out again. But this man left the office and went home“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:14:40-2#).
„All night I was waiting and waiting. The next morning, the police officer came in and said: Oh, he’s still here. Just get him out“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:15:07-2#).
Obwohl es sich bei dieser Episode für ihn um eine durchaus einschneidende Erfahrung handelte, die ihn die Härte des saudischen Systems spüren ließ, lachte er während seines Berichts häufig. Damit erfährt seine Schilderung einen beiläufigen Unterton, der nicht unbedingt zur Brisanz dieses Lebensereignisses passen will. Als ich ihn darauf ansprach, zögerte er kurz, war dann aber bereit zu antworten: Es sei falsch, allein den saudischen Behörden die Verantwortung an den bestehenden Missständen zuzuweisen, entgegnete er. Damals habe er sich nicht regelkonform verhalten, was er schmerzhaft zu spüren bekommen habe: „Of course, it was their behavior but it was my fault. I was the victim of my own mistake“ (BUK_LAH, Interview 03.02.2016, Lahore, #00:15:43-8#). Dies sei ihm eine Lehre gewesen und ebensolche Erfahrungen müsse er zukünftigen Migranten vermitteln. Die Verantwortung für die Qualität des Aufenthaltes im Empfängerland liege also keineswegs bei den saudischen Autoritäten oder der Aufnahmegesellschaft, sondern bei den Migranten selbst. Letztere stünden in der Pflicht, sich über die Gegebenheiten vor Ort im Vorfeld zu informieren, um oben geschilderte Situationen zu vermeiden und sich anzupassen. Immerhin haben selbst internationale Organisationen wie die ILO nur marginalen Einfluss auf die saudische Regierung. Die Strategie, verschärften öffentlichen Druck auf die saudische Führung auszuüben, um Reformen in der Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik umzusetzen, sei zwar für Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch eine akzeptable und notwendige Vorgehensweise, für die ILO aber keine Option, konstatierte BUK_LAH. Man müsse schließlich konstruktiv und problemorientiert mit den jeweiligen Regierungen zusammenarbeiten, um schrittweise Verbesserungen realisieren zu können. Weiterhin sei es nicht nur die Aufgabe des MRC, die Situation der Migranten zu verbessern und damit an den Interessen der Entsendestaaten ausgerichtete Politik zu betreiben, sondern auch die Perspektive der Empfängerstaaten zu berücksichtigen, um eine „Win-Win-Situation“ herbeiführen zu können, wie er sagte. Dass hierbei die humanitäre und soziale Lage der Migranten nicht vernachlässigt werden darf, stellt einen Balanceakt seiner Arbeit dar. Außerdem existieren seiner Meinung nach durchaus nachvollziehbare Gründe für die systemische Benachteiligung von Migranten, welche nicht über die Gegebenheiten im Zielland informiert worden seien. Dies verdeutlichte er anhand eines weiteren persönlichen Beispiels von der Einreise an saudischen Flughäfen:
„I lived in Saudi Arabia for 5-6 years. I knew exactly that there are thousands of people when you land in Riyadh or Dammam“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:02:39-7#).
„The people at the airports have to deal with hundreds of thousands of different nations every day. So they do not treat them differently. Everybody has a different psyche, a different attitude, a different behavior. They do not have the time to blame or to love them. They need to get their work done“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:02:28-2#).
Es sei also keineswegs ausschließlich dem Rassismus innerhalb der saudischen Mehrheitsgesellschaft geschuldet, der die Lebensbedingungen der einreisenden Migranten beeinträchtigt, sondern auch der Überlastung des involvierten Personals. Hinzu komme eine übertriebene Erwartungshaltung der Migranten, die oftmals der Meinung seien, ungerecht und unhöflich behandelt zu werden, obwohl es sich nur um eine professionelle und zeiteffiziente Vorgehensweise der saudischen Behörden handele:
„The migrants cannot expect that they will be treated in a very polite way. There, every half an hour a new plane lands with two-hundred people in it. So there is no time for polite treatment. We have to inform the migrant workers that they will be confronted with shocking behavior. They will be shocked because that’s what it is“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:03:13-3#).
In der Verantwortung des MRC liege es somit, das für Migranten „schockierende Verhalten“ saudischer Grenzbeamter zu erklären, um somit den gravierenden Widerspruch zwischen Erwartungen und Realität aufzulösen. Nur so seien die immer wiederkehrenden rechtlichen Beeinträchtigungen, sozialen Diskriminierungen und kulturellen Ausgrenzungen zu reduzieren.
„They (die saudische Bevölkerung; Anm. d. Verf.) are not rude until you do something that makes them rude. If you are ok, they are ok. If you are wrong, they are wrong. You know, everybody says: The Saudis are very tough. But I lived there and I didn’t find anything like that. If you are a legal worker, if you follow the rules, if you respect the culture, the ladies, the language – if you don’t do anything bad, there’s no problem at all. We have to inform the migrant workers about that here“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:06:55-4#).
Ein solches Verhalten erfordere zwar viel Empathie und kulturelle Sensibilität, führe aber eher zum Erfolg als die Konfrontation.
„You know, I try to understand what Saudis are thinking. When I arrived at the airport and I got to the desk where a fat Saudi with a big mustache was sitting. I thought by myself: How might he react? That’s what I did. But the people here who are in charge of this issues are not exposed to that situation“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:17:28-2#).
„When I went through the security control, I took off my shoes because the officers wanted to check whether I smuggle hashish in them. I was aware of that procedure and it was acceptable for me. But in general, the migrants are not aware of that. And this causes problems“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:17:57-1#).
„Therefore, I share my experiences with future migrants and give them orientation. There are hundreds of similar situations that I can explain to the people and tell them what happens when you go there“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:18:13-2#).
Es ist also von Vorteil, wenn die Mitarbeiter*innen des MRC über eigene Erfahrungen verfügen, von denen sie in den Kursen berichten können. Dazu gehört auch, mit den zukünftigen Migranten über alltägliche Kleinigkeiten zu diskutieren, auf die bei der Ausreise zu achten sei, so SOH_ISL vom MRC Islamabad:
„We also have to go into the nitty-gritty by explaining them you are not allowed to take this stuff into the airplane. The respective airline is prohibiting this. The migrants really don’t know these simple things. Most of them are flying for the first time in their life. They need help and information“ (SOH_ISL, Interview, 24.02.2016, Islamabad, #00:14:38-0#).
Ohne das Wissen um diese Details sind Migranten nicht in der Lage, ihren Aufenthalt in Saudi-Arabien und anderen Empfängerstaaten ohne gravierende Probleme zu meistern. Es handelt sich zumeist um Menschen, die häufig weder eine Schule besucht, noch eine Ausbildung absolviert haben. Viele sind vor ihrer Reise nach Saudi-Arabien nicht einmal in einer pakistanischen Großstadt gewesen oder mit dem Zug oder Bus gereist, sondern haben ausschließlich in ihren Dörfern gelebt. Es ist also auch das Ziel des MRC, zukünftige Migranten auf den „bevorstehenden Kulturschock“ vorzubereiten. SOH_ISL berichtete davon, dass sie selbst überrascht und durchaus schockiert gewesen sei, wie wenig Vorkenntnisse bei den Migranten über die bevorstehende Ausreise existieren. Viele hätten vollkommen übertriebene Erwartungen an ihr Leben in Saudi-Arabien geäußert. Dass es sich dabei um eine entbehrungsreiche, harte und oftmals frustrierende Zeit handeln könne, ist vielen nicht bewusst. Deswegen stellt das MRC während der Orientierungsseminare einige wenige fundamentale Fragen:
„We get the people and ask them: What is your plan? What do you earn now? What do you want to get? What are the advantages? What are the dos and what are the dont's? Afterwards they can decide whether they should go or not go“ (HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:03:53-5#).
Dazu gehört auch eine ergebnisoffene Diskussion um die zu leistenden Migrationskosten, die viele Migranten und ihre Angehörigen nicht realistisch kalkulieren. Stattdessen sind sie von der Vorstellung beseelt, allein durch die Ausreise wohlhabend werden zu können, ohne sich über die realen Kosten für die Visabeschaffung oder die Rekrutierungsagentur im Klaren zu sein. Dafür müsse man die Migranten sensibilisieren:
„If you want to earn a lot of money, you need to be informed well. Otherwise you’ll get a lot of trouble. If you need to pay 200,000 rupees for the Visa cost and you are going abroad for a salary that you can also earn here, you have to pay the donor at least one year the money back. That is his return on investment“ (HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:05:06-5#).
Ihr seien unzählige Fälle bekannt, in denen der Druck auf die Migranten so hoch geworden sei, dass sie psychisch und physisch gelitten hätten. Die Verantwortung gegenüber ihren Finanziers – zumeist Familienangehörige, Bekannte oder Agent*innen der Rekrutierungsagenturen – könne sich nur dann in einem erträglichen Rahmen bewegen, wenn den Migranten bewusst sei, auf welche finanzielle Belastung sie sich einließen. Dabei will das MRC helfen, indem eine Budgetkalkulation im Vorfeld der Auswanderung durchgeführt wird.
Um den Bekanntheitsgrad der Orientierungskurse zu verbessern und gezielt zukünftige Migranten anzusprechen, werden an ausgewählten strategischen Lokalitäten Poster und Broschüren über die Aktivitäten des MRC ausgelegt.
„There will be posters at all the prominent places where migrant workers go such as the Protectorate Office, TEVTA, medical colleges and other places. We will place those posters in the near future. There will be also information stands in all international departure lounges at the airports to those who are going abroad and are waiting for the boarding“ (HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:40:25-5#).
Dieses Vorgehen schien sich auszuzahlen: Das MRC in Lahore erhielt immer mehr Anrufe, Emails und Besuche, um sich über die Stundenpläne oder die Materialien zu informieren, so BUK_LAH. Dabei war ihm bewusst, dass die geographische Lage des MRC im Außenbezirk Township viele Interessierte davon abhielt, das MRC zu besuchen. Das Zentrum liegt an einer staubigen Schnellstraße in einem peripheren Industriegebiet Lahores, dem Industrial Relations Institute. Das Gelände ist von einer stacheldrahtbesäumten Mauer umgeben und besteht aus einigen halbzerfallenen ehemaligen Industriegebäuden. Nur ein kleines Schild an der Einfahrt weist auf das MRC hin. Dennoch sei er zufrieden, von der Regierung überhaupt eine Lokalität zur Verfügung gestellt bekommen zu haben, so BUK_LAH. Doch er wisse auch, dass es enorme Anstrengungen für die zukünftigen Migranten erfordere, sich nach Lahore zu begeben. Deswegen werden zunehmend solche Vorbereitungskurse auch an anderen Orten im Punjab angeboten.
Weiterhin plante das MRC, Online-Beschwerdesysteme einzurichten. Damit sollen Zugangshürden für die Migranten und ihre Familien abgebaut werden, die es sich oftmals nicht leisten können oder sich aus Scham scheuen, eine Beschwerdestelle aufzusuchen.
„We also want to develop an online complaint system together with the ministry which is named ‚online complaint system for migrants and overseas Pakistanis‘. When you klick the button, you’ll receive a tracking number and you can track your complain. You can upload supporting documents. Those who are staying in Pakistan and are close to MRC, can come to us to register their complaints. We’ll advise them how to track the complaint and we provide them with tracking numbers” (HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:38:37-9#).
Auch die eigene Facebook-Seite des MRC soll als Forum für Austausch fungieren. Auf ihr sollen zukünftig Migranten unterschiedlicher Empfängerstaaten Erfahrungen und Erwartungen teilen, auf die das MRC in Form von konkreten zielgruppenadressierten Aktionen reagieren kann. Um diese technischen Möglichkeiten bei den Migranten und ihren Angehörigen bekannt zu machen, sollen entsprechende Kampagnen initiiert werden, die auf den Homepages der beteiligten Institutionen, auf sozialen Plattformen, aber ebenso in Form von Lehrveranstaltungen und Roadshows ausreichende Informationen über die Beratungsangebote zur Verfügung stellen.
„We also want to establish awareness campaigns to inform migrants about this system. We have developed brochures in order to assist them if they face contractual or other problems during their work-related life. In addition, family members can register complaints of the behalf of the migrant“ (HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:39:32-5#).
Die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen aus Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen verstehen sich als „Prophet*innen“ der Migranten und ihrer Angehörigen und wollen die ungehörten Anliegen der Migranten in der Arena der pakistanischen Öffentlichkeit über entsprechendes Agendasetting platzieren. Damit streben sie danach, in direkten Austausch mit ihren Adressaten zu treten, indem sie ihre Medienstrategie auf die jeweiligen Communities anpassen und andere zielgruppenrelevante mediale Mittel wählen, um ihr Angebot sichtbar werden zu lassen. Deswegen unterscheiden sich die medienstrategisch eingesetzten Instrumente, mit denen die Gatekeeper*innen erreicht werden sollen: Dezentrale, lokale Face-to-Face-Kommunikation wird ergänzt mit Informationsvermittlung über Online-Medien und Mund-zu-Mund-Propaganda, während klassische Pressearbeit weitegehend irrelevant bleibt. Damit richten sich die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen an eine andere Arena innerhalb der fragmentierten pakistanischen Öffentlichkeit, in der zukünftige Migranten und ihre Angehörigen adressiert werden, was die Medienstrategie der untersuchten Akteur*innen ausweitet und diversifiziert.
8.3 „Sprachrohre“ als Interessensvertreter*innen: „We need a face!“
„It is our job to raise awareness in the public. (…) From my personal experience, I think that the Pakistani government does not move unless it is forced to do so. This is our job. And we need the public to convince the government“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:37:01-1#).
Um ihre issues erfolgreich in der öffentlichen Arena zu Migration platzieren zu können, sind die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen auf die Unterstützung traditioneller Sprecher*innen angewiesen. Diese sind die geeigneten Adressaten, um ihr Engagement zu Migration im passenden Teilbereich von Öffentlichkeit sichtbar zu machen, weswegen sich Organisationen wie JPP bemühen, mit ihnen intensiver in Austausch zu treten bzw. sie als „Prophet*innen“ oder „Sprachrohre“ für ihre Anliegen zu gewinnen.121 Ohne ein „bekanntes Gesicht“, welches innerhalb des elitenzentrierten Systems über die notwendige Reputation und Anerkennung verfügt, um die Belange von JPP zu vertreten, kann aus Sicht vieler der untersuchten Akteur*innen keine Öffentlichkeit hergestellt werden.
„It’s very important for our strategy that we need a face. If you can get a politician or a member of parliament or someone very important who cares about the issue then you are going to get press anyway“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:14:39-2#).
Deswegen richtet sich JPP vor allem an Richter*innen, Provinzminister*innen oder Parlamentsabgeordnete, die aufgrund ihrer prominenten Position in der Lage sind, den diversen Kampagnen ein Gesicht zu geben.
„We are very, very much focused on court and public! We think that these both are interlinked. You cannot separate one from the other (...). Ya, that’s very, very, very central to what we do” (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:05:53-5#).
So initiiert JPP öffentliche Diskussionsrunden, bei denen nicht nur Journalist*innen und Repräsentant*innen anderer NRO, sondern explizit auch Regierungsvertreter*innen als Referent*innen eingeladen werden. Vor diesem Hintergrund fand am 9. Februar 2017 eine Diskussionsrunde zum Thema „Protecting Overseas Pakistanis“ in den Räumen des National Press Club in Islamabad statt, an der neben der Direktorin von JPP, einem Journalisten von Express News und einem Mitglied von HRCP auch zwei Repräsentanten der National Assembly teilnahmen (vgl. JPP 2017c).
Auch bei der Präsentation der Studie „‘Caught in the Web‘: Treatment of Pakistanis in the Saudi Criminal Justice System“ am 7. März 2018 konnte mit dem Senator Farhatullah Babar ein Sprecher der öffentlichen Arena zu Migration gewonnen werden. Er beglückwünschte in seiner Rede JPP, sich intensiv für die „most vulnerable sections of our society“ zu engagieren: „The Justice Project Pakistan has been in the forefront to find ways and means to give them justice.” Der linksgerichtete Parlamentarier Babar ist Mitglied der Pakistan Peoples Party (PPP). Als früherer Pressesprecher des ehemaligen Staatspräsidenten Asif Ali Zardari, für den er von 2008 bis 2013 arbeitete, verfügt er über einen gewissen Bekanntheitsgrad. Er gilt mit seinen 73 Jahren als erfahrener und engagierter Politiker, der bereits in der Vergangenheit mit öffentlicher Kritik am politischen System auffiel (vgl. Khan, 09.03.2018). Babar hatte selbst fünf Jahre als Ingenieur für das saudische Unternehmen Dallah Avco gearbeitet und bezog sich in seiner Rede auf seine persönlichen Erfahrungen im Königreich. Immerhin habe er pakistanische Häftlinge in vier saudischen Gefängnissen besucht, um einen Eindruck von den Zuständen vor Ort zu gewinnen. Er habe sogar selbst einen Tag in einem saudischen Gefängnis verbringen müssen, was ihn sehr geprägt habe. Als Parlamentarier empfinde er es daher als seine Pflicht, das politische System und die Öffentlichkeit in Pakistan auf die prekären Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten hinzuweisen. Babar kann somit als einflussreicher traditioneller Sprecher der öffentlichen Arena zu Migration bezeichnet werden und übernimmt für JPP die Funktion eines „Sprachrohrs“. Ähnliche Personen will auch das MRC für sich gewinnen:
„You need to engage Pakistani politicians to attract the media. Thus, the minister or the governor should talk in TV about the labour migration issue. Otherwise, nobody will cover the event. You need to do a very good marketing. If you have a strike on the road against the government, you’ll have at least 30 channels covering it. But labour migration? Nobody is really interested in this issue“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #01:06:15-6#).
Nur im Dialog mit den Gatekeeper*innen kann es gelingen, die von ihnen dominierte öffentliche Arena zu Migration zu betreten bzw. sich von den akquirierten Prophet*innen vertreten zu lassen. Dieses Vorgehen empfinden viele der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen zwar als fragwürdiges, aber gleichzeitig als notwendiges Instrument, um ihrer Schutzverantwortung gegenüber den Migranten und ihrer Angehörigen nachkommen zu können. Immerhin fungieren die Prophet*innen nicht nur für die untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen als Sprachrohre, sondern sind aufgrund ihres gesellschaftlichen und politischen Einflusses in der Lage, im Sinne des Arenenmodells auch den Migranten eine Stimme zu verleihen. Den meisten der von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen ist es bisher jedoch nicht gelungen, dauerhaft traditionelle Sprecher*innen an sich zu binden. Dies liegt zum einen an der zögerlichen Haltung vieler Regierungsvertreter*innen, sich intensiver mit Missständen in der Migrationspolitik zu beschäftigen. Andererseits kritisieren die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen aber auch die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Regierungsinstitutionen (vgl. BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:40:29-9#).
8.4 Sichtbarmachung von Migration über Vermittler*innen: „Attracting the media to get attention”
Die untersuchten Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft und von internationalen Organisationen wollen mit ihren eingesetzten Strategien nicht nur kritische Sichtbarkeit von Migration bei den Betroffenen – also den Migranten und ihre Angehörigen – und den Gatekeeper*innen erreichen, sondern auch über einflussreiche mediale Vermittler*innen. Bei denen handelt es sich um ausgewählte Journalist*innen, die sich in ihrer beruflichen Karriere bereits über einen längeren Zeitraum mit kritischer Berichterstattung zu Migration beschäftigen und somit die Sprecherambitionen der zivilgesellschaftlichen Institutionen unterstützen können. Sie verfügen über die notwendigen Zugänge, Ressourcen, das Binnenwissen und die Kapazitäten, um die Anliegen der unterschiedlichen neuen Öffentlichkeitsakteur*innen sichtbar werden zu lassen. Allerdings beobachtete BUK_LAH vom MRC in Lahore, dass viele Journalist*innen als Gegenleistung für ihre Berichterstattung finanziell entschädigt werden wollen:
„I talked to almost 20 people from the media and I said to them that we will launch MRC and everybody has asked me for money as a charge to cover the launch (...) I just have some good friends in the media and asked them to do me a favor by publishing a short article in a local newspaper. But this is not what I want. I want a full editorial. But you have to pay them 150,000 Rupees in a local newspaper and 300,000-400,000 Rupees in a national newspaper such as Dawn“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #01:03:18-9#).
NRO dienen einigen Journalist*innen somit als potenziell lukrative Einnahmequelle innerhalb eines elitenzentrierten und kommerzialisierten Mediensystems, in dem prekäre Arbeitsbedingungen den bereits beschriebenen „envelope journalism“ forcieren. Daher reduziert sich die Zahl der potenziell interessierten Journalist*innen drastisch, weil viele der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen auf die finanziellen Forderungen nicht eingehen können bzw. wollen:
„We never ever pay for our media campaigns. What we actually have to do is to create the story in the sense that you have to pitch it again and again. Sometimes it takes time to find that one well-known person may write an op-ed“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:08:21-4#).
Während einige der untersuchten Öffentlichkeitsakteur*innen wie JPP und das MRC gezielt Journalist*innen ansprechen, diese einladen und ihnen weiterführende Informationen und Zugänge zu den diversen Veranstaltungsformaten zur Verfügung stellen, verfolgt das RC in diesem Bereich eine andere Strategie: So ist es zwar ein wesentliches Ziel der Initiatoren, mediale Öffentlichkeit zu ihren Aktivitäten in Karachi herzustellen, dabei beschränkt man sich aber bislang auf die Organisation von Medienevents. Dementsprechend wurden regionale und nationale Medienvertreter*innen zur offiziellen Eröffnung des RC in Karachi eingeladen und eine Pressekonferenz durchgeführt. Der Repräsentant des RC zeigte sich positiv überrascht von der medialen Resonanz:
„It was pretty good actually. A lot media people showed up and also some articles were published not only in the English newspapers but also in Urdu newspapers. It was generally positive. Obviously, there was not much awareness of this issue. Nobody really knows that so much people came to this port“ (JAK_ISL, Interview, 29.02.2016, Islamabad, #00:13:29-1#).
RC kann zwar nicht gänzlich auf die Zusammenarbeit mit Journalist*innen verzichten, wie bei der Organisation von Medienevents deutlich wird, konzentriert sich aber mehrheitlich auf einen anderen Ansatz. So sollen mithilfe lokaler Öffentlichkeitsarbeit die Migranten-Communities direkt erreicht und informiert werden.
„We are planning to achieve the media but through community-based actions not to the mainstream media. We want to organize different events in schools and colleges. These are activities targeted to inform people on migration issues especially when it comes to irregular migration. We looked not to television. I will not like to spend a million dollars for a add campaign which is not very sufficient. It doesn’t matter who many people saw it. This doesn’t tell me much. We don’t know if our target group has seen it or do only the rich people see it? It’s very difficult to evaluate. The community-based issues are based on theater plays in schools and colleges. Those things are easier to evaluate and to reach the target group at a low cost“ (JAK_ISL, Interview, 29.02.2016, Islamabad, #00:28:26-6#).
Es ist für die Aktivitäten des RC nicht von Bedeutung, möglichst eine breite Öffentlichkeit zu generieren, sondern die richtigen Empfänger*innen – also die Migranten und ihre Angehörigen – zu adressieren. Im Gegensatz zu kleineren Organisationen wie z. B. JPP ist das RC nicht auf eine breite mediale Sichtbarkeit angewiesen, da man keine Drittmittel akquirieren muss, was eine direktere Fokussierung auf die zu erreichenden Zielgruppen ermöglicht. So soll in Form von informellen Informationsseminaren, Posteraktionen an öffentlichen, häufig von zukünftigen Migranten und ihren Angehörigen frequentierten Orten oder Workshops in Schulen und Ausbildungszentren mit der betreffenden Zielgruppe ein schnellerer und effektiverer Austausch hergestellt werden. Die Ergebnisse kursieren durch informelle, personalisierte und community-basierte Kommunikationswege in Form des „Schneeballsystems“ innerhalb der Migrantengruppen und werden somit sichtbar.
Bei den während des Forschungsvorhabens identifizierten Vermittler*innen handelt es sich um die Printjournalist*innen MAH_LAH und SIA_LAH, die seit Jahren intensiv zu Migration arbeiten, auch den Repräsentant*innen des RC bekannt sind und sich im Rahmen ihres beruflichen Interesses an diesem Thema für unterschiedliche Jahrgänge im Fellowship-Programm von PANOS South Asia beworben hatten.122 Das Fellowship-Programm von PANOS South Asia ermöglicht es Journalist*innen aus den südasiatischen Teilnahmeländern, ein Stipendium für einen Arbeitsaufenthalt in einem Empfängerland südasiatischer Migranten zu erhalten, um vor Ort Berichte zu recherchieren und diese anschließend in unterschiedlicher Form zu veröffentlichen (siehe auch Kapitel 4). „We are going to meet there migrant laborers, the Pakistani embassies, the people who are dealing with labor migration in these respective countries such as the Ministry of labor“ (MAH_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:01:05-3#).
„The best part is that people from all the South Asian countries are participating in it. Thus, it is a transnational initiative that brings us all together in one subject which is labor migration. Pakistan is included“ (SIA_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:03:24-8#).
Dahinter steht das strategische Interesse der Initiative, Journalist*innen aus unterschiedlichen Herkunftsregionen miteinander zu vernetzen und Migration als wichtiges mediales Thema in klassischen Medienformaten zu etablieren. Dies habe sich durchaus positiv in der anschließenden medialen Sichtbarkeit der beteiligten Journalist*innen niedergeschlagen: „All the people who have participated in this initiative have significantly published op-eds and articles on this topic, which is very good“ (SIA_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:02:08-7#). Ihre Mitwirkung im PANOS-Netzwerk ermöglicht es ihnen, vor Ort investigative Hintergrundberichte zu verfassen, die anschließend auf dem „MIGRATION & LABOR: Panos South Asia Blog on Migrant Labor“ der South Asian Initiative for Migrant Labour Media Fellowship von PANOS South Asia und in anderen Medienformaten in elektronischer oder gedruckter Form veröffentlicht wurden. In ihren Artikeln konzentrieren sie sich auf die Verfehlungen der Regierungen, kriminelle Praktiken der Rekrutierungsagenturen, die strukturelle Ausbeutung und den Verschuldungsgrad der Migranten und ihrer Angehörigen, Menschen- und Arbeitsrechtverletzungen innerhalb des Kafāla-Systems, psychische und physische Beeinträchtigungen bei den Migranten als Folge dieser Fehlentwicklungen sowie politische Inaktivität auf saudischer und auf pakistanischer Seite.
In dem Blog wurden von Journalist SIA_LAH im Jahr 2016 die in Tabelle 6 genannten Artikel zu Migration aus Pakistan nach Saudi-Arabien bzw. in die arabischen Golfmonarchien veröffentlicht. Von Journalist MAH_LAH wurden 2015 die in Tabelle 7 genannten Artikel veröffentlicht.
Tabelle 6. Übersicht der von SIA_LAH veröffentlichten Artikel (2016). Quelle: eigene Zusammenstellung.
Titel
Datum
Inhalte
Regionale Schwerpunkte
Veröffentlichung in Medienformat
Migrant Workers in the Gulf Feel Pinch of Falling Oil Prices
21.09.2016
  • prekäre Arbeitsbedingungen
  • Ausweisungspolitik der Empfängerstaaten / Nationalisierung des Arbeitsmarktes
  • Rekrutierungsagenturen
  • Rücküberweisungen
  • Schutzverantwortung
  • Regierungsinitiativen
VAE
Inter Press Service, internationale Presseagentur
Out of work across the sea
14.08.2016
  • prekäre Arbeitsbedingungen
  • Ausweisungspolitik der Empfängerstaaten / Nationalisierung des Arbeitsmarktes
  • Rekrutierungsagenturen
  • Schutzverantwortung
  • Regierungsinitiativen
Saudi-Arabien
The News on Sunday, Pakistan
Tabelle 7. Übersicht der von MAH_LAH veröffentlichten Artikel (2015). Quelle: eigene Zusammenstellung.
Titel
Datum
Inhalt
Regionale Schwerpunkte
Veröffentlichung in Medienformat
Study identifies major hurdles in way of justice for migrant workers
30.11.2015
  • prekäre Arbeitsbedingungen
  • verfehlte Migrationspolitik
  • Schutzverantwortung
  • Beschwerdesystem
arabische Golfmonarchien
The Dawn, Pakistan
Migrant workers ‘in throes of medical juggernaut’
27.11.2015
  • Orientierung und medizinische Prävention
  • prekäre Arbeitsbedingungen
  • verfehlte Migrationspolitik
Saudi-Arabien
The Dawn, Pakistan
Human trafficking thrives as Pakistan sits on draft law
10.11.2015
  • Menschenhandel
  • verfehlte Migrationspolitik
  • Schutzverantwortung
arabische Golfmonarchien, Europa
The Dawn, Pakistan
Punjab working on idea to facilitate migrant labour
01.10.2015
  • verfehlte Migrationspolitik
  • Schutzverantwortung
  • Beschwerdesystem
arabische Golfmonarchien
The Dawn, Pakistan
Counselling centre for migrants
21.09.2015
  • Schutzverantwortung
  • Beschwerdesystem
  • Orientierung
  • MRC
arabische Golfmonarchien
The Dawn, Pakistan
Allerdings stehen diese Journalist*innen weiterhin vor massiven Herausforderungen, da sie von traditionellen Gatekeeper*innen in ihrer Medienarbeit behindert werden. So hätte jede/r einzelne Teilnehmer*in ohne weitreichende Unterstützung durch die Organisator*innen im Zielland agieren müssen, berichtet SIA_LAH. Oftmals hätten sich die Botschaften oder in seinem Fall die katarischen Ministerien geweigert, ihm für Interviews zur Verfügung zu stehen oder weiterführende Informationen bereitzustellen. Bei diesen Problemen habe auch die Anbindung an PANOS South Asia nicht geholfen.
„During my time in Qatar, I was not asked a single time to go and talk to the workers because the organizers have been very careful to avoid problems with the authorities. Therefore, I tried it on my own. I contacted the Pakistani embassy and I met a couple of contractors and finally I wrote a couple of stories. Otherwise it would not have been possible because the organizers said to us: Be careful and don’t talk to any worker“ (MAH_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:16:35-6#).
Diese von den Initiator*innen ausgedrückte Vorsicht im Umgang mit den Autoritäten in den Empfängerstaaten habe im Resultat dazu geführt, dass eigene Zugänge zu Quellen akquiriert werden mussten, was von PANOS South Asia kaum unterstützt worden sei:
„It was not a good experience for me. One person from Bangladesh and me have been working in Qatar but it has not been very satisfying for me because we didn’t get any support in order to meet local labour migrants, visit construction sites, talk to official authorities or to employer companies. But I did my best to do it on my own“ (MAH_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:12:52-6#).
MAH_LAH vermittelt in seinen Äußerungen den Eindruck, als habe dieses Programm hauptsächlich isolierte Recherchemöglichkeiten angeboten, die er despektierlich „Hotel-Journalismus“ nennt. Allerdings gibt er zu, dass er zu hohe Erwartungen an seinen Aufenthalt in Katar gehabt habe und nur bedingt willens und in der Lage gewesen sei, seine Geschichten selbst zu recherchieren; so spricht er kein Arabisch. Hinzu müsse aufgrund der Kommerzialisierung des Mediensystems weiterhin viel Überzeugungsarbeit aufgewendet werden, um die jeweiligen Chefredaktionen von der Notwendigkeit zu überzeugen, kritische Themen zu Migration zu platzieren.
„Actually in Pakistan, our media cannot succeed to give space to bonded and child labour inside Pakistan. The problem is: The victims are not lucrative clients. Media is based on advertisements that are coming from multinational companies, from governments. Thus, elites are their lucrative clients. The workers in general are not lucrative clients (…) This is the problem of media over here“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:40:50-3#).
Die Rahmenbedingungen werden auch in einem institutionalisierten Rahmen wie bei PANOS South Asia von den traditionellen Sprecher*innen aus Politik, Medien und Wirtschaft bestimmt.123
„We have hardly succeeded in attracting the media to get attention. No general newspaper have decided to give space to this issue. Media has space for news when something occurs but it’s very hard for us to get the attention of the media. Due to the lack of policy, we cannot write a number of columns about our project or the national problem in general. However, media is not only responsible for this lack of awareness. Civil society is responsible“ (HUS_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:42:26-4#).
Die ILO strebt danach, bestehende Initiativen wie PANOS South Asia oder MFA weiter zu stärken, um die mediale Sichtbarkeit von Migration auf transnationaler Ebene zu intensivieren. Hierzu wurde 2015 ein eigenes Projekt eingerichtet: Unter dem Namen „Breaking Stereotypes on Labour Migration“ wird seitdem jährlich ein globaler Wettbewerb durchgeführt, der Journalist*innen für ihre kritische Berichterstattung zu Migration auszeichnet. Ziel ist es, öffentliche Informationen zu Migration, Zwangsarbeit und Menschenschmuggel anzubieten, indem über die Arbeitsbedingungen und die rechtlichen Grundlagen zum Arbeitsschutz und kreative Lösungsansätze zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Migranten berichtet wird, Sichtweisen der Migranten, Regierungen, Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften wiedergegeben werden, Vorurteile und Stereotype in Bezug auf Xenophobie oder Diskriminierungen innerhalb des Arbeitsmarktes bekämpft und neue Perspektiven hinsichtlich einer besseren Migrationspolitik präsentiert werden sollen (vgl. ILO 2016).
“The objective of the competition is to recognize exemplary media coverage on labour migration by encouraging professional journalists to produce written articles or videos/multimedia that while not overlooking the negative aspects (e.g. often a hard reality of exploitation and violation of human and labour rights), also show the positive results of fair labour migration governance, and highlight key aspects of migration (e.g. recruitment) as well as the positive contribution of migrant workers to countries of origin, transit and destination” (ILO 2016).
Eingereicht werden können Artikel oder Videos (vgl. ILO, 14.09.2018). Die Preisträger*innen erhalten eine Siegprämie von 1.000 US-Dollar und können im Rahmen von ILO-Initiativen wie Seminaren oder Workshops ihre Arbeiten einem internationalen Publikum als „an example of good journalism“ (ILO 2016) vorstellen.124 Bis 2017 hatten sich zwar keine Journalist*innen aus Pakistan an diesem Wettbewerb beteiligt, Vertreter*innen der ILO betonten aber, den Bekanntheitsgrad von „Breaking Stereotypes on Labour Migration“ auch in Pakistan ausweiten zu wollen.
Neben solchen Initiativen helfen den Journalist*innen jedoch vor allem persönliche Kontakte zu Vetreter*innen der zivilgesellschaftlichen Initiativen. Sie greifen zunehmend in ihrer Recherchearbeit auf die Expertise von MRC oder JPP zurück, um Insiderinformationen zu erhalten und kritische Perspektiven in ihre Berichterstattung zu integrieren. Diese professionelle Kooperation hilft den Journalist*innen dabei, eigene Artikel zu verfassen, ohne selbst investigative Recherchen durchführen zu müssen. Dies ist aufgrund der kommerzialisierten Arbeitsbedingungen oftmals weder aus zeitlichem Druck möglich noch im Sinne der Chefredaktionen. Deswegen bedienen sie sich gern der Materialien von JPP, um so einen differenzierten Einblick in die Thematik zu erhalten. Diese Informationsvermittlung ist gleichzeitig integraler Bestandteil der Medienstrategie der untersuchten NRO: „We forward documents of each case to the press. Today, it is more easy for us to get an op-ed in the newspaper“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:10:22-4#). Dabei sind vor allem individualisierte Fälle von journalistischem Interesse, um vor der Veröffentlichung die Aufmerksamkeit der Redaktion und im Anschluss die der Leser*innen zu gewinnen. Deswegen sind auch die im Rahmen meiner Forschung untersuchten NRO wie JPP daran interessiert, diesen Journalist*innen Hintergrundinformationen zu „Einzelschicksalen“ zukommen zu lassen, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken: Dafür müssen die relevanten Medienvertreter*innen – in TV- wie Printformaten, in Urdu- wie englischsprachigen, in nationalen wie ausländischen Medien – auf die Aktualität, die Brisanz und die Dringlichkeit dieser Themen hingewiesen werden: „Normally, whether it is English or Urdu, local or foreign, you have to pitch the story for them. Otherwise they are not interested“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:24:30-4#). Journalist*innen werden z. B. zu Hintergrundgesprächen mit anschließendem Mittagessen eingeladen, wo ihnen in entspannter Atmosphäre die migrationsrelevanten Initiativen vorgestellt werden. Nur so ist es den NRO möglich, das Interesse der Journalist*innen zu erringen (vgl. HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:44:05-5#). Die im PANOS South Asia-Programm aktiven pakistanischen Journalist*innen werden somit regelmäßig von MRC-Kolleg*innen frequentiert und institutionell eingebunden, um sie über konkrete Veranstaltungen und Aktionen zu informieren. Einer dieser Journalisten ist MAH_LAH, dem von Repräsentant*innen des MRC eine herausragende Funktion als Vermittler in der Migrationsberichterstattung zugeschrieben wird:
„He said that he will include MRC in all his stories that are covering labour migration. People like him can make a difference in the public (...) He is personally interested in this issue and he will base his career on that topic because nobody is working on that so far. He’ll be the one in Pakistan who is working on the migrant issue“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #01:01:23-4#).
Sein persönliches Engagement, sein Expertenwissen um die Empfängerregion und die Migrationsabläufe sowie seine innerhalb der PANOS South Asia-Initiative gesammelten Erfahrungen stellen für das MRC wichtige Kriterien dar, mit seiner Unterstützung als Vermittler Zugang zum Teilbereich der medialen Öffentlichkeit zu Migration zu erlangen. So arbeitet er bei der Berichterstattung über Migration eng mit dem MRC zusammen, wird regelmäßig zu Orientierungsworkshops, öffentlichen Veranstaltungen wie der Eröffnungszeremonie des MRC in Lahore und Hintergrundgesprächen eingeladen. Gleichzeitig profitiert er von den engen persönlichen Kontakten zum MRC, da er von den dortigen Kolleg*innen als Fellow der PANOS-Initiative des MFA empfohlen wurde:
„Actually, I found some stories before I joined the program as a fellow. A local reporter from the NEWS contacted me and informed me about the fellowship. Afterwards, an official from the ILO recommended me to the South Asia Forum“ (MAH_LAH, Interview, 05.02.2016, Lahore, #00:10:44-3#).
MAH_LAH engagiert sich neben seinen Aktivitäten für PANOS South Asia auch im SAMM-Projekt. Als explizites Ziel der Initiative wird genannt, Druck auf die jeweiligen Regierungen auszuüben, indem neue Themen in die Öffentlichkeit gebracht und bestehende Narrative zu Migration herausgefordert werden. „The media will also be used as a critical tool to monitor the implementation of recommendations undertaken by origin and host country governments at regional and global processes“ (MFA: South Asian Media for Migrants). In eigenen Publikationen und Policy Briefs wird die Situation von Migranten aus unterschiedlichen Entsendestaaten analysiert. So werden die Haftbedingungen von unregistrierten Migranten (MFA: Detention of Undocumented Migrants in Asia), die Gründe für sogenannte „gestrandete Migranten“ (MFA: Stranded Migrants) oder die prekären Rekrutierungsmechanismen (vgl. MFA 2014) geschildert. Ziel dieser Initiativen und Publikationen ist es, den Informationsstand über Migration zu erweitern und Netzwerke herauszubilden, um mit deren Hilfe den Zugang zu unterschiedlichen Arenen der Öffentlichkeit zu Migration zu erhalten. Damit kann MFA eine sprechende Vermittlerfunktion zugeschrieben werden, wenngleich sich das Engagement zu pakistanischer Migration im Gegensatz zu PANOS South Asia doch deutlich geringer darstellt, als zu anderen südasiatischen Entsendestaaten wie Indien oder Bangladesch. So war bis auf den Repräsentanten von MRC den anderen von mir untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen das Engagement von MFA unbekannt, während sie mit PANOS South Asia bereits entweder direkt oder indirekt in Berührung gekommen waren.
Alle neuen Öffentlichkeitsakteur*innen betonen, dass Initiativen wie PANOS South Asia und MFA zwar hilfreich seien, die mediale Sichtbarmachung von Migration voranzutreiben, ohne persönliche Beziehungen zwischen den einzelnen Initiativen und Vermittler*innen sich dieses Ziel jedoch nicht erreichen lasse. Personalisierte Kontakte dienen ihnen als maßgebliche Vorbedingung, um Zutritt zur medialen Arena zu Migration zu erhalten. Bislang erstreckt sich dieses Netzwerk zwar nur auf ausgewählte Journalist*innen, die sich bereits vor Kontaktaufnahme durch das MRC migrationsspezifischen Themen widmeten, doch soll der Pool an kooperativen Jounalist*innen sukzessive erweitert werden. So hofft BUK_LAH vom MRC Lahore, in Zukunft verstärkt Kontakt zu Redakteur*innen aus TV und Radio aufbauen zu können, die im Gegensatz zu den Printjournalist*innen bislang kaum Interesse für ihre Migrationsinitiativen aufgebracht haben. Dies hängt mit dem hohen Grad der Kommerzialisierung elektronischer Medien zusammen: Wie in Kapitel 7 analysiert, lehnen viele TV- und Radio-Produzent*innen und Chefredaktionen aufgrund der komplexen und volatilen Einkommenssituation und der mangelnden Attraktivität beim Zielpublikum eine ausgiebige Berichterstattung über soziale Benachteiligungen von Migranten ab. Selbst über juristisch relevante Fälle wie drohende Todesstrafen für in Saudi-Arabien inhaftierte pakistanische Staatsangehörige werde im Fernsehen kaum berichtet, bemängelt auch BEL_LAH von JPP:
„TV is horrible. (zögert) Unless something huge happened, such as the Hajj tragedy… Then, we can put the death penalty in TV and talk about it. Otherwise, you really need to develop a relationship and pitch the show again and again. It really depends on if the anchors want to do that story or not. Sometimes we go to TV and bring ourselves some footage (…) However, in the press have been quite a few op-eds. You really need to develop a relationship to the anchors and the producers“ (BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:13:27-6#).
Generell sind die neuen Öffentlichkeitsakteur*innen daran interessiert, sich mit medialen Vermittler*innen zu vernetzen, um ihre Sichtbarkeit im Teilbereich der pakistanischen Öffentlichkeit zu Migration zu erhöhen und ihre issues platzieren zu können. Dafür engagieren sie sich auf unterschiedlichen Wegen, um passende Vermittler*innen zu identifizieren und von einer intensiveren Zusammenarbeit zu überzeugen, was teilweise durch transnationale Initiativen wie PANOS South Asia oder MFA in Zukunft noch erleichtert werden kann. Gleichzeitig stellen diese strategischen Partnerschaften auch für potenzielle Vermittler*innen der traditionellen Massenmedien eine passende Gelegenheit dar, ihr inhaltliches Portfolio weiter zu schärfen. Sie benötigen die Zugänge und Informationsquellen der zivilgesellschaftlichen Initiativen wie JPP, um sich in einem hochgradig kompetitiven Mediensystem behaupten zu können und ihre Chefredaktionen davon zu überzeugen, über ein attraktives Alleinstellungsmerkmal im Hinblick auf die mediale Sichtbarmachung von Migration zu verfügen. In diesem medienstrategischen Bereich besteht somit ein signifikantes Potenzial, vor allem den neuen Öffentlichkeitsakteur*innen aus der Zivilgesellschaft mithilfe dieser Vermittler*innen den Zugang zur medialen Arena zu Migration zu erleichtern, indem Synergieeffekte und Netzwerke geschaffen werden, um die Adressierung des Publikums, die Sichtbarkeit gegenüber den Gatekeeper*innen und die gegenseitige Vernetzung gewährleisten zu können.
8.5 Möglichkeiten zu mehr Sichtbarkeit durch Kooperation: „Use my linkages“
Von allen untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen suchen vor allem das RC und die MRC den gegenseitigen Austausch. Dabei diskutieren sie nicht nur die Fortschritte der jeweiligen Initiativen, sondern auch mögliche Synergieeffekte sowie Optionen für den Aufbau gemeinsamer Projekte im Bereich der Vorbereitung von Migranten, wie JAK_ISL, Mitarbeiter des RC der ILO in Islamabad, beschreibt:
„We work together with ILO to develop the curriculum for the MRC. They requested us for our expertise in how we do cultural orientation. The last meeting was last week in order to discuss the contents of the curriculum regarding contract issues and orientation“ (JAK_ISL, Interview, 29.02.2016, Islamabad, #00:18:21-1#).
Dieser regelmäßige Kontakt findet in Form von gemeinsamen Workshops, Weiterbildungsseminaren für die Mitarbeiter*innen beider Organisationen und wöchentlichen bzw. monatlichen Telefonkonferenzen statt. JAK_ISL unterstreicht die konstruktive und kollegiale Zusammenarbeit mit seinen Kolleg*innen beim MRC und sieht keinerlei Risiko für mögliche Kompetenzstreitigkeiten. Beide Organisationen verfolgen ähnliche Ziele, sodass Synergieeffekte genutzt werden können, um optimale Ergebnisse im Sinne der Migranten zu erzielen, wie er sagt. Deswegen sei es nur sinnvoll, Erfahrungen auszutauschen oder Ansprechpartner*innen bei Medien und Politik zu vermitteln. Für ihn sei diese bi-institutionelle Kooperation ein Positivbeispiel für die mannigfaltigen Möglichkeiten, sich mit unterschiedlichen Akteur*innen zu vernetzen. Allerdings befindet sich die institutionelle Zusammenarbeit zwischen ILO und IOM im pakistanischen Migrationskontext noch immer im Anfangsstadium. So ist zukünftig angedacht, gemeinsame Medienstrategien zu entwickeln, um deutlich mehr Aufmerksamkeit in der pakistanischen Öffentlichkeitssphäre zu generieren, doch diese Planungen wurden während des Untersuchungszeitraums nicht konkretisiert.
Beim MRC liegt auch eine Übersicht möglicher zivilgesellschaftlicher Kooperationspartner vor. Diese Übersicht umfasst neben JPP, BLLF und HRCP ausländische Geberorganisationen wie USAID oder die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH sowie politische Stiftungen wie die Heinrich-Böll- und die FES aus Deutschland. Für sie wurde eine Broschüre für politische und zivilgesellschaftliche Stakeholder erstellt (vgl. HAM_LAH, Interview, 27.01.2016, Lahore, #00:23:12-6#). So habe man u. a. mit Kollegen anderer NRO wie der BLLF bei der Erstellung von Lehrplänen und Vorbereitungskursen zusammengearbeitet. Nach eigener Aussage habe sich BUK_LAH bemüht, auch mit JPP Kontakte aufzubauen – bisher ohne Erfolg.
„I also contacted other NGOs and said: Look, I have the contact to the national government and to the provincial government. You can use my linkages. Then we can organize a forum to bring people from different institutions together. We can force them to have something concrete for the migrant workers“ (BUK_LAH, Interview, 03.02.2016, Lahore, #00:52:42-6#).
Vertreter*innen des JPP sind jedoch solche Kontaktbemühungen nicht bekannt. Sie kennen andere NRO wie BLLF oder HRCP zwar namentlich, haben aber bislang keinen Erfahrungsaustausch forciert oder gemeinsame Projekte initiiert (vgl. BEL_LAH, Interview, 15.02.2016, Lahore, #00:28:24-5#). Alle untersuchten neuen Öffentlichkeitsakteur*innen sind jedoch überzeugt davon, in Zukunft einen engeren gegenseitigen Austausch initiieren zu wollen, um damit ihre Sichtbarkeit in der öffentlichen Arena zu Migration zu erhöhen, wenngleich institutionalisierte Netzwerke auf zivilgesellschaftlicher Ebene noch fehlen.
8.6 Zwischenanalyse
Die untersuchten unterschiedlichen Akteur*innen setzen an unterschiedlichen Punkten an, um Öffentlichkeit zu erreichen:
  • So ist den untersuchten zivilgesellschaftlichen Initiativen vor allem daran gelegen, mit diversen Kampagnen in klassischen und sozialen Medien sowie Demonstrationen gemeinsam mit den Angehörigen der Migranten auf die Missstände in Saudi-Arabien hinzuweisen. Darüber hinaus konzentrieren sie sich immer mehr auf community-basierte Praktiken, indem die Angehörigen der Migranten über Face-to-Face-Kommunikation oder Social-Media-Kampagnen adressiert werden. Sie wollen ihrer „Schutzverantwortung“ nachkommen, indem sie Repräsentant*innen der Gatekeeper*innen adressieren, diese für das vernachlässigte Anliegen zu emotionalisieren und für sich zu gewinnen. Somit richtet sich ihr Agendasetting auf die Rezipienten, da sie darauf angewiesen sind, „Sprachrohre“ aus der Politik zu aquirieren. Hinter ihrem Engagement steht zumeist eine persönliche Leidenschaft, die sich zum Teil aus eigenen Migrationserfahrungen speist. Daraus ziehen sie ihre Motivation, sich an Vertreter*innen des politischen und medialen Systems zu wenden. Um dies zu erreichen, suchen sie zunehmend die Zusammenarbeit mit interessierten Journalist*innen, die als „Vermittler*innen“ über Zugang zur Arena zu Migration verfügen und die Anliegen der NRO sichtbar machen können.
  • Die untersuchten internationalen Organisationen sind zwar auch daran interessiert, traditionelle Gatekeeper*innen für ihre Anliegen zu gewinnen, verfügen jedoch über mehr (finanzielle) Unabhängigkeit, um sich mehr der eigentlichen Zielgruppe, den zukünftigen Migranten, widmen zu können. Vor diesem Hintergrund organisieren sie Orientierungsseminare und konzentrieren sich in ihren Kampagnen eher darauf, in der Community der zukünftigen Migranten sichtbar zu werden. Um dies realisieren zu können, sind sie noch mehr als die NRO auf die Unterstützung traditioneller Gatekeeper*innen angewiesen und suchen daher mit ihnen die Zusammenarbeit. Trotz einiger Misserfolge ist es vor allem dem MRC dadurch gelungen, ihre Ansätze bei staatlichen Akteur*innen zu platzieren und politischen Rückhalt zu erzielen. Dafür stützen sie sich wie die NRO ebenfalls auf die Zusammenarbeit mit journalistischen „Vermittler*innen“, sind aber weniger daran interessiert, politische „Sprachrohre“ zu gewinnen. Aufgrund ihrer finanziellen Unabhängigkeit können sie in diesem Bereich selbständiger handeln, als die NRO, die auf externe Unterstützung und Drittmittel angewiesen sind.
  • Die untersuchten Journalist*innen fungieren in ihrer Funktion als „Vermittler*innen“ als relevante Katalysatoren für die NRO sowie die internationalen Organisationen. Beide sind auf die Zugänge der untersuchten Journalist*innen angewiesen, während diese ihre Zugangsprivilegien nutzen, um ihre Themen sichtbar machen zu können. Dabei müssen sie sich jedoch immer wieder gegen traditionelle Gatekeeper*innen aus Medien, Politik, Wirtschaft oder Militär behaupten, was ihnen auch dadurch gelingt, dass sie sich untereinander und mit den anderen Öffentlichkeitsakteur*innen besser vernetzen. Transnationale Medieninitiativen wie PANOS South Asia etc. dienen hierbei als weitere Plattformen, vertrauenswürdige Netzwerke herzustellen und damit höhere Sichtbarkeit zu erfahren. Sie nutzen dafür traditionell journalistische Instrumente, um ihre Anliegen zur öffentlichen Diskussion zu stellen.
Die empirische Analyse der jeweiligen Medienstrategien und -praktiken verdeutlicht somit, dass diese Akteur*innen einen stetigen Balanceakt vollziehen müssen, um im Teilbereich der pakistanischen Öffentlichkeit zu Migration wahrgenommen zu werden. Aufgrund ihrer Beschäftigung mit Migration nach Saudi-Arabien müssen sie zum einen ein tabuisiertes Phänomen sichtbar machen, was aufgrund der hohen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sensibilität gravierende Herausforderungen in der medienstrategischen Umsetzung mit sich bringt. Zum anderen ist den neuen Öffentlichkeitsakteur*innen bewusst, dass sie trotz ihrer kritischen Haltung gegenüber den Gatekeeper*innen dennoch mit ihnen zweckgebunden zusammenarbeiten müssen, um ihre Anliegen öffentlich aushandeln zu können. Diese ambivalente Situation bestimmt die Medienpraktiken aller untersuchten Akteur*innen.
8. Strategien und Praktiken der neuen Öffentlichkeitsakteur*innen: Instrumente zur Herstellung von Sichtbarkeit in der öffentlichen Arena zu Migration
8.1 Schutzverantwortung gegenüber den Migranten: „Talk about the protection of your people”
8.2 Selbstertüchtigung der Migranten: „Travel Smart and Work Smart!”
8.3 „Sprachrohre“ als Interessensvertreter*innen: „We need a face!“
8.4 Sichtbarmachung von Migration über Vermittler*innen: „Attracting the media to get attention”
8.5 Möglichkeiten zu mehr Sichtbarkeit durch Kooperation: „Use my linkages“
8.6 Zwischenanalyse