Kunst, Markt, Kommunikation: Die zeitgenössische Kunstwelt in Indien im Wandel (2000–2018)
26 Aug 2021
DOI: 10.11588/xabooks.849
Fazit und Ausblick
Der globale Kunstmarkt verzeichnet seit 1991 trotz der weltweiten Finanzkrise 2008 ein Wachstum von 575 Prozent (vgl. McAndrew 2012: 15) und gilt als Treiber der Globalisierung der zeitgenössischen Kunst. Nehmen wir die geografische Ausbreitung des Kunstmarkts in den Blick und fokussieren auf seine neuen Orte und jene der Kunstereignisse, ist eine Verschiebung des künstlerischen Feldes in den Globalen Süden zu erkennen. Nicht nur die Kunst, sondern auch die geografische Verteilung von Reichtum „continues to shift East“ (McAndrew 2011: 18).
2018 listete die Organisation The Biennial Foundation auf ihrer Webseite 243 Biennalen (The Biennial Foundation). Ihre geografische Verteilung spiegelt die neue Präsenz des Globalen Südens im globalisierenden künstlerischen Feld. Doch auch wenn der Prozess der Dezentrierung und Entterritorialisierung des Kunstfelds sicherlich unbestreitbar ist, so ist doch das globale Feld noch nicht als ein globales Netzwerk aus künstlerischen Knoten zu deklarieren, das keine Peripherie und kein Zentrum mehr kennt. Solch euphorische Stimmen übersehen die ungleiche Ausstattung von Kapitalien und die asymmetrische Verteilung von Deutungshoheit (vgl. Buchholz & Wuggenig 2005, Wu 2009, Quemin 2006).
Der Prozess der Dezentrierung ist eine Entwicklung, die nicht nur eine Koordinatenverschiebung von Kunstzentren und Kunstereignissen meint, sondern auch Veränderungen auf Ebene der Deutungsmacht über zeitgenössische Kunst bewirkt, die bisher bei den Akteur*innen der westlichen Kunstzentren lag. Mit dem in der Forschungsarbeit gewählten Zuschnitt, den Wandel des künstlerischen Feldes in Indien anhand des Kunstmarkts, der Gesellschaft und der Kommunikation über Kunst zu erforschen, wird diese Dimension der kulturellen Globalisierung deutlich: Seit knapp zwanzig Jahren wird die kulturelle Vormachtstellung des Westens im globalen Kunstfeld dezentralisiert, was im Zuge von Mediatisierung und Wirtschaftsliberalisierung dazu führt, dass Vermittlungsakteur*innen den Raum haben, lokale Deutungsmacht über zeitgenössische Kunst im Globalen Süden aufzubauen. Dies zeugt mehr und mehr von einem emanzipierten und selbstbewussten lokalen Kunstverständnis.
Im Kontext dieser Entwicklung und vor dem Hintergrund der Globalisierung, Wirtschaftsliberalisierung und Mediatisierung hat die vorliegende Arbeit am Beispiel von Mumbai, Delhi und Kochi danach gefragt, wie sich die kunstbezogenen Praktiken konkret verändert haben und welche neuen Orte und Räume für zeitgenössische Kunst entstanden sind. Im Mittelpunkt standen die Wahrnehmungen und Praktiken von Akteur*innen der zeitgenössischen Kunstwelt, die seit der indischen Wirtschaftsliberalisierung die künstlerische Infrastruktur – hier insbesondere mit dem Fokus Kunstmarkt – aufbauten, erweiterten und Kontaktzonen mit der lokalen Bevölkerung sowie mit Institutionen des globalen Kunstfelds bildeten. Globalisierungsprozesse wurden so als Lokalisierungsprozesse am Beispiel der neuen Kunstorte und künstlerischen Strukturen in Indien erfasst. Aus Perspektive des Kunstmarkts und der Kommunikation über Kunst konnte gezeigt werden, wie sich eine Kunstwelt (lokal begrenztes kleines Netzwerk aus national kollaborierenden Akteur*innen) in ein globales künstlerisches Feld transformierte, in dem immer mehr Institutionen und Akteur*innen nach den globalen Spielregeln der Kunst neue Handlungs- und Wertlogiken generieren. Mit dem Aufbau von eigenen, lokalen Ressourcen verfügen die neuen Kunstakteur*innen im Globalen Süden über kulturelles und symbolisches Kapital, das ihnen zu Deutungsmacht und damit Anerkennung im globalen Kunstfeld verhilft. Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse zusammengefasst und dimensioniert, bevor sie im Ausblick in einen erweiterten Forschungszusammenhang gestellt werden.
Neue lokale Institutionen und Handlungslogiken im Feld der Kunst
Erstes zentrales Ergebnis ist, dass seit 2000 eine beschleunigte Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Kunstmarkts, der Kunstereignisse und der Kunstkommunikation besteht. Die künstlerische Infrastruktur wird von kunstvermittelnden Akteur*innen neu strukturiert, professionalisiert und translokalisiert. Globalisierung spielt dabei für die analysierten Akteur*innen insofern eine Rolle, als dass sie das Globale als ihren neuen, freiraumschaffenden Lebens- und Arbeitskontext wahrnehmen. Das Globale als neuer Kontext des Lokalen hat ihnen geholfen, für andere Kunstzentren und Akteur*innen nicht nur sichtbar, sondern auch zugänglich zu sein (siehe Kapitel 3). Damit eröffneten sich nicht nur neue physische Orte und Räume für Kunst, sondern auch ideelle.
Die Analysen der Kunstmesse India Art Fair sowie der Kunstbiennale Kochi-Muziris-Biennale (siehe Kapitel 4) exemplifizieren genau das: In Delhi und Kochi sind seit 2008 künstlerische Knotenpunkte entstanden, die nicht nur für die lokale Bevölkerung und für die unmittelbaren Nachbarregionen, sondern auch für das globale Kunstfeld Sichtbarkeit, Anschlussfähigkeit und Partizipation bedeuten. Die Kunstmesse und Kunstbiennale zeigen, dass dort der ästhetische und der kommerzielle Wert von Kunst gemeinsam gebildet und diskutiert werden. Sie sind die neuen diskursiven und kommerziellen Knotenpunkte im indischen Kunstfeld, die aber global anschlussfähig und anziehend sind. An der IAF und KMB wird erstmalig kulturelles und symbolisches Kapital so öffentlichkeitswirksam gebildet, dass sie zu neuen Zentren des globalen Kunstfelds geworden sind. Dies erhöht das kulturelle Selbstbewusstsein der ausrichtenden und daran teilnehmenden Akteur*innen erheblich. Auch für die benachbarten Kunstwelten und allgemein für die des Globalen Südens sind die IAF und sie KMB zu Gatekeepern geworden. Sie zeigen, dass ästhetische und kommerzielle Werte von Kunst auch vor Ort, also lokal gebildet werden, und dass regional bedeutsame, künstlerische und kunsttheoretische Diskurse von diesen neuen Kunstzentren ausgehen können.
Aus feldtheoretischer Perspektive ist diese Entwicklung das Ergebnis eines Transformationsprozesses von Kunstwelt zu Kunstfeld, den die Untersuchung freigelegt hat und der weiterhin andauert: das Entstehen von Institutionen, in denen die spezielle Handlungslogik des Kunstfelds Einzug gehalten hat und angewandt wird. Weil sie transnational und translokal wirken, sind die Akteur*innen nicht nur im eigenen, sondern auch im globalen Kunstfeld sichtbar und an Wertbildungsprozessen der zeitgenössischen Kunst beteiligt.
Zweites zentrales Ergebnis ist, dass das zeitgenössische Kunstfeld zu einem professionalisierten integralen Bestandteil der indischen Gesellschaft geworden ist, und immer mehr Akteur*innen, Publika und Anerkennung in Indien anzieht. Die rasante, durch den Boom ausgelöste Ausdifferenzierung des Kunstfelds mit seinen neuen Kunstereignissen und Kunsträumen hat dazu beigetragen, den Stellenwert von zeitgenössischer Kunst stärker in der indischen Gesellschaft zu verankern. War es zuvor eine sehr kleine, oft lokal begrenzte und lokal agierende Szene, die eher informell und elitär funktionierte, ist das zeitgenössische Kunstfeld in Mumbai, Delhi und Kochi heute so angelegt, dass es auch für die indische Mittel- und Oberschicht nicht nur zugänglich, sondern auch attraktiv ist. Die Idee von Kunstwelt als einer kleinen, geopolitisch im Westen angesiedelten Gesellschaft, ist damit überholt. Nach Aussagen der befragten Kunstakteur*innen und eigener Beobachtungen trägt hierzu besonders die mediale Kommunikation über Kunst bei. Zeitgenössische Kunst hat eine mediale Öffentlichkeit erhalten, sowohl lokal als auch transregional (Kapitel 5). Analog zur Auflagensteigerung von online und gedruckten Lifestyle-Magazinen sind hier vor allem die Art News zu nennen, die die Öffentlichkeit über die Neuigkeiten auf dem Kunstmarkt oder auf Social Events wie Vernissagen informieren. Die Zielgruppe der Art News ist vor allem die junge, lifestyle- und konsumorientierte obere Mittelschicht und die sogenannten Socialites der Oberschicht, die Kunst als ihr neues Statussymbol oder als ein Investment sehen. Wie unter einem Brennglas ist zu beobachten, wie sich das Kunstfeld in Indien besonders auf der Meso- und Mikroebene zu einer mediatisierten Welt entwickelt.
Das dritte zentrale Ergebnis, das sich aus allen drei empirischen Kapiteln ableiten lässt, ist die These, dass die Kunstakteur*innen der oberen Mittelschicht und Oberschicht die Motoren bzw. Agent*innen der Transformation von Kunstwelt zu Kunstfeld in Indien sind. Es handelt sich dabei um lokale Akteur*innen in Mumbai, Delhi und Kochi, die die Räume und Orte des künstlerischen Feldes zu institutionalisieren, translokalisieren und mediatisieren begonnen haben. Damit etablieren sie sowohl zwischen zeitgenössischer Kunst und indischer Gesellschaft als auch zwischen ihren kunstbezogenen Praktiken und dem globalen Kunstfeld zugängliche und anerkannte Kontaktzonen. Die Darstellung der Analyse in den empirischen Kapiteln 3, 4 und 5 verdeutlicht, wie die privatwirtschaftlichen Kunstakteur*innen, die vor allem in der ökonomischen Sphäre der Kunst agieren, maßgeblich für die Entwicklungsdynamik der künstlerischen Infrastruktur im indischen Kunstfeld verantwortlich sind.
Die Analyse der Wahrnehmungen und Praktiken von Kunstakteur*innen zeigt, mit welchem Verständnis dezidiert translokal agierende Institutionen und Wissensräume konzipiert wurden: Während es ein differenziertes Bewusstsein dafür gab, dass Kunst lokale Strukturen und Räume braucht und diese geschaffen wurden, so wurde jedoch genauso intensiv darauf geachtet, den Kontext des Globalen gleichermaßen darin zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass lokale Positionierungen stets auch globale Reichweite generieren und dass lokalisierte Kunstereignisse wie beispielsweise die IAF oder die KMB im künstlerischen Feld in Indien nach globalen Regeln der Kunst ausgerichtet werden.
Die Rolle des Staates beim Aufbau von lokalen Ressourcen im Feld der Kunst
Immer wieder verwiesen die Akteur*innen, mit denen Interviews und Gespräche geführt wurden, auf die fehlende „nationale Kunstkultur“ und die ungenügende finanzielle Unterstützung seitens des Staates in Indien. Die Absenz des Staates bei der Entwicklung des künstlerischen Feldes wird von den Akteur*innen stets als Kritikpunkt und Erklärungsmodell für fehlendes symbolisches Kapital genannt. Gleichzeitig kommt im Äußern dieser Kritik der Wunsch zum Ausdruck, der Staat solle im Kunstfeld in Indien präsenter agieren. Obwohl die Kunstakteur*innen im Aufbauprozess des Art Worlding die Möglichkeit haben, unabhängig vom Staat zu gestalten und eigenes finanzielles Kapital einzusetzen, um ihre Interessen zu professionalisieren, machen sie den Staat trotzdem für die ihrerseits diagnostizierte fehlende Kunst- und Museumskultur ihrer Städte verantwortlich. Es wird deutlich, dass sie den Staat als Garant für eine kunstgeschichtlich und kunsttheoretisch legitime Definitionsmacht – und damit Konsekrationsmacht – erachten, die darüber entscheidet, was gute oder schlechte Kunst ist oder sein wird. Staatliche Kunstinstitutionen und Kunstförderung sehen sie als diejenigen Institutionen an, die ästhetischen Wert zuschreiben. Viele berufen sich hier auf ihre Auslandserfahrungen in London und New York oder auf ihre positiven Erfahrungen, die sie mit ausländischen Kulturinstituten wie dem Max Mueller Bhavan bei der Beschäftigung mit Kunst und Literatur gemacht haben.
Die empfundene Abwesenheit des Staates zusammen mit der Medienpräsenz und dem Markterfolg der zeitgenössischen Kunst spiegelt für das indische Kunstfeld das, was Graw (2008) als Machtverschiebung im zeitgenössischen globalen Kunstfeld charakterisiert: Die neuen Qualitätskriterien „Markterfolg“ und „Medienpräsenz“, der Kunstmarkt und „die auf die ‚celebrity culture‘ spezialisierten Medien übernehmen heute zunehmend die Rolle der Kunstkritik und der Kunstgeschichte, wenn es darum geht zu bestimmen, was gute Kunst ist“ (Tabor 2010: 31). Der Wandel des Kunstfelds liegt so gesehen vornehmlich in der veränderten Beziehung zwischen Kunst und Markt (vgl. Graw 2008). Dass Medien und Markt in Indien so bedeutungsmächtig werden konnten, ist nach Aussage der Akteur*innen auf die Absenz des Staates im indischen Kunstfeld zurückzuführen.
Die Wahrnehmungen der Akteur*innen zur fehlenden Rolle des Staates im künstlerischen Feld in Indien deuten darauf hin, dass das Kunstfeld als gesellschaftlicher Teilbereich die Unterstützung und Anerkennung des indischen Staates braucht, um im globalen Feld der Kunst als gleichwertig zu gelten. Die Akteur*innen verglichen in den Konversationen ihren kulturpolitischen Kontext mit dem der westlichen oder den chinesischen Kunstzentren – also mit Orten, an welchen sie den jeweiligen Staat als aktiv in die Kunstwelt mit eingebunden sehen. Die Konsequenz aus der staatlichen Partizipation im lokalen Kunstfeld sei dessen Legitimation als gesellschaftlicher Teilbereich. Sobald der Staat und privatwirtschaftliche Akteur*innen gemeinsam an der Präsentation und Anerkennung von Künstler*innen arbeiten (z. B. Museumsausstellungen, Biennale-Ausrichtungen), werden das Kunstwerk und die Beschäftigung damit ideell und kommerziell aufgewertet.
Bourdieu sieht symbolisches Kapital als eine Art Kredit, den der Staat verteilt. Seiner Auffassung nach fungiert der Staat im Feld der kulturellen Produktion als „Zentralbank des symbolischen Kredits“ (Bourdieu zitiert in Fröhlich & Rehbein 2014: 415). Die Rolle des Staates ist demnach, als Geber des symbolischen Kapitals zu agieren und damit Konsekrationsmacht auszuüben, die eine Hoheit über unterschiedliche Bereiche im Kunstfeld besitzt und einer „wahrhaft schöpferischen“ und „gottähnlichen Macht“ gleicht (vgl. Bourdieu 1993: 115). Sobald die Vergabe symbolischen Kapitals durch den Staat fehlt, ergibt sich Raum für diejenigen, die über das Potenzial verfügen, ökonomisches Kapital in kulturelles und symbolisches Kapital umzuwandeln. Diesen lokalen Vorgang konnte die vorliegende Forschungsarbeit am Beispiel der analysierten Kunstmarktpraktiken individueller und organisationaler Akteur*innen zeigen und demonstrieren, dass die indische Kulturpolitik die Verleihung kulturellen und symbolischen Kapitals dem (auch Inhalte vermittelnden) Kunstmarkt und dessen Vermittlungsakteur*innen überlassen hat.
An dieser Stelle wird der „Kreislauf der Konsekration“ (Buchholz 2008: 223) unterbrochen. In den Kunstzentren Mumbai, Delhi und Kochi fehlte es lange an eigenen, lokalen Konsekrationsstätten, mit denen sich Indien als Emerging Art Market auf dem globalen Kunstmarkt präsentieren konnte. Seit dem Boom des indischen Kunstmarkts hat das Land jedoch aufgeholt und individuelle und institutionelle Akteur*innen ausgebildet, die kulturelles und symbolisches Kapital über zeitgenössische Kunst aus Indien für das globale Kunstfeld gut sichtbar akkumulieren und verteilen. Mit der so generierten lokalen Ressource „Konsekrationsmacht“ entwickeln sich indische Kunstakteur*innen hin zu gleichberechtigten Spieler*innen im globalen Kunstfeld, denn der Aufbau und Einsatz kulturellen und symbolischen Kapitals im Kunstfeld in Indien setzt eine Dynamik in Gang, die das verschieben kann, was Buchholz (2008: 222) als „asymmetrische Verteilung internationalen Konsekrationskapitals“ bezeichnet. Gemeint sind die „ungleiche(n) Voraussetzungen des Zugangs nichtwestlicher Künstler in die westlichen Kunstzentren, die sich als entscheidende Nachteile für ihren internationalen Erfolg erweisen“ (2008: 222). Trotz dieser Erfolge ist die Sehnsucht nach einer verstärkten staatlichen Unterstützung ungebrochen.
Woran liegt es, dass der staatliche Gestaltungswille im Bereich der zeitgenössischen Kunst in Indien als geschwächt wahrgenommen wird? Wie agierte der Staat während der indischen Moderne, dem Zeitpunkt vor und nach der indischen Unabhängigkeitserklärung 1947 auf das Sammeln, Präsentieren und Vermitteln von Kunstwerken – Praktiken, die der Institution Museum vorbehalten sind? Wie verhält sich der indische Staat zu den lokalen und translokalen Politiken der Kunst?
Diesen Fragen umfassende Antworten zu geben, bedarf speziell dazu angelegter Forschungen. Dennoch soll hier zur Dimensionierung dieses wichtigen Forschungsergebnisses ein erster Hinweis dazu gegeben werden, in welchem historischen Verhältnis bildende Kunst und Museen als Vertreter der staatlichen indischen Kulturpolitik stehen: Kurz nach der Staatsgründung 1947 zeigte Indien als Zeichen seiner neuen Unabhängigkeit von den Kolonialmächten seine „Modernität“ durch die Errichtung öffentlicher Museen für die nationale zeitgenössische Kunst. Damit ist es eines der ersten Länder Asiens und Afrikas, die ein modernes Kunstmuseum bauten (vgl. Rajendran 2016: 349). Trotzdem besitzt Indien im Vergleich zu anderen Emerging Art Market Countries wie China 99 nur 20 zeitgenössische Kunstmuseen, und diese sind inhaltlich als „entfernt“ von ihrem Publikum und der gegenwärtigen Kunstproduktion zu charakterisieren.
Annika Hampel nimmt die Rolle der staatlichen indischen Kulturpolitik genauer in den Blick. In ihrer Studie zur indisch-deutschen Kulturpolitik stellt sie fest, dass sich „[i]n der indischen Kunstwelt (...) zwei parallele Universen etabliert [haben], das der klassischen und das der zeitgenössischen Künste. Sie grenzen sich bewusst voneinander ab und buhlen um die mangelnden finanziellen Mittel im eigenen Land. Diese Konkurrenz verstärken insbesondere die Regierung und ihre Fördersysteme, die die traditionellen Künste bevorzugen“ (Hampel 2015: 94). Diese Distanz zwischen Museum und Publikum im National Museum in Delhi, das 1949 für die Ausstellung Exhibition of Indian Art errichtet und nach dem Ausstellungsformat der Londoner Royal Academy gestaltet wurde, identifiziert Rajendran wie folgt:
It is significant that the exhibition not only followed the format of the Western colonial gaze but also remained disconnected from its own time by focusing on a precolonial past.
The National Museum in its early years aesthetically imagined and celebrated the nation as a singular community. Its curatorial narrative did not necessarily acknowledge the diverse living communities within it. The discourse surrounding museum objects was primarily Hindu, with a vast array of Buddhist art as well. (Rajendran 2016: 351–352)
Das National Museum in Delhi betrieb vor allem eine Kultur der Exklusion aus dem nationalen Mainstream (vgl. Rajendran 2016: 351) und griff auf eine vorkoloniale Zeit indischer Kunst zurück. Auch andere Einrichtungen wie beispielsweise die National Gallery of Modern Art (NGMA) zeugen von dieser Diskrepanz zum zeitgenössischen Kunstfeld, indem vor allem die gegenwärtige Kunstproduktion, d. h. die zeitgenössische globale Kunst, ignoriert wurde. Das NGMA wurde 1954 in Delhi auf Bestreben moderner indischer Künstler*innen unter dem ersten Premierminister, Jawaharlal Nehru, gegründet. Es verfügt über eine große Sammlung moderner indischer Kunst. Obwohl die Gründungsidee für das NGMA darin bestand, zeitgenössische Künstler*innen durch Ausstellungen und Ankäufe zu fördern, verlegte das NGMA seinen Sammlungsfokus auf die Periode der Bengal School of Art, einer Künstler*innengruppe, deren Schaffenszeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert anzusiedeln ist.
Ähnlich wie beim National Museum wurde damit die Auseinandersetzung mit der Kunstproduktion der Gegenwart vermieden, was zur Entfremdung des Publikums von seinem Museum führte, da dies nicht hielt, was in seinen Gründungsjahren versprochen worden war: das Sammeln und Ausstellen von „‘forward-looking’, internationalizing currents in the modern Indian art“ (Singh 2010: 29). Die Kunsthistorikerin Kavita Singh führt diesen Gedanken aus:
... when the works of Abindranath Tagore, Nandalal Bose and other Bengal School artists were acquired by the NGMA, the collection began to take on the contours of an impartial and even handed representation of the history of modern Indian art. (Singh 2010: 29)
Singh führt die museale bzw. institutionelle Abwesenheit des Staates im zeitgenössischen Kunstfeld in Indien darauf zurück, dass die Regierung, der das NGMA unterstand, sehr darauf bedacht war, die indigene Moderne in einem Museum zu historisieren. Das NGMA sollte mit seiner Gründung 1954, also kurz nach Indiens Unabhängigkeitserklärung, ein Ort für die Kunst der indischen Moderne und Symbol für die Staatsgründung sein; es sollte den Fortschritt der indischen Gesellschaft anhand ihrer Kunstproduktion repräsentieren.
Trotz eines Akquisitionskomitees für zeitgenössische Kunst und der Außendarstellung des Museums erwarb das NGMA für seine Sammlung nach dem Jahr 2000 keine nennenswerten zeitgenössischen Kunstwerke mehr.100
Das Museum präsentiert sich selbstbewusst als „premier institution of its kind in India“ (NGMA) für moderne und zeitgenössische Kunst. Jedoch zeigt sein Internetauftritt bereits die Gewichtung eines besonderen Kunstverständnisses und die Funktion moderner Kunst in Indien:
The Gallery is the premier institution of its kind in India. It is run and administered as a subordinate office to the Department of Culture, Government of India. The NGMA has two branches one at Mumbai and the other at Bangaluru.
The gallery is a repository of the cultural ethos of the country and showcases the changing art forms through the passage of the last hundred and fifty years starting from about 1857 in the field of Visual and Plastic arts. Notwithstanding some gaps and some trivia, the NGMA collection today is undeniably the most significant collection of modern and contemporary art in the country today. (NGMA 2019: o. S.)
Das NGMA benennt zwar den Aspekt der Sammlungslücken in der Gegenwartskunst, rechtfertigt sich jedoch nicht dafür, sondern hebt sich selbst als die bedeutendste nationale Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst heraus. Hierzu ist es wichtig, auf den damaligen Markt für zeitgenössische Kunst aus Indien zu blicken: Die Preise, die für moderne Kunst aus Indien auf dem globalen Kunstmarkt erzielt wurden, überstiegen bei weitem das Ankaufsbudget des NGMA. Auch wenn das Ankaufskomitee beabsichtigt hatte, zeitgenössische Kunst zu erwerben, konnte das NGMA nicht mit den neuen Kunstsammler*innen, die sich für hochpreisige Kunst aus Indien interessierten, konkurrieren. Singh (2010) zufolge entstand die Sammlungslücke aus ideologischen und internen Streitigkeiten geschuldeter Tatenlosigkeit des NGMA. Im rasant wachsenden Kunstmarkt und dessen immensen Preisbildungen liegt für sie die Ursache, dass die Regierung keine Chance hatte, innerhalb ihres Budgetrahmens Ankäufe zu tätigen. Sie zieht ein klares Fazit: „India’s prime governmental institution for modern art has missed the opportunity to collect through an important phase in our unfolding history.“ (Singh 2010: 31) Dieser Umstand wirkt sich nicht nur darauf aus, dass es keine Bildungsangebote für eine kunstinteressierte Öffentlichkeit gibt, sondern greift auch tief in die Lebens- und Arbeitsstrukturen der zeitgenössischen Künstler*innen in Indien ein: Weder wurde so soziales noch kulturelles Kapital aufgebaut. Durch die Distanzierung vom Kunstfeld der Gegenwart wird das Museum nicht zu einem „kapitalstarken Agenten“ (Buchholz 2013: 223), der symbolisches Kapital verleiht.
Singh problematisiert die schwache Infrastruktur für zeitgenössische Kunst mit dem Argument einer fehlenden Valorisierung durch ein zeitgenössisches Kunstmuseum, wenn sie fragt: „In the churning world of contemporary Indian art, what space was there for the memory of contemporary Indian art to live?“ (Singh 2010: 32) Exakt diesen Erinnerungsraum produzierten meinen Ergebnissen zufolge diejenigen Akteur*innen des Kunstmarktes, die ab dem Jahr 2000 als Antwort auf die rasant steigende globale Nachfrage des Marktes nach moderner und zeitgenössischer Kunst aus Indien ein Netzwerk aus neuen Kunstorganisationen gründeten. Die Anerkennung für die Leistungen einzelner individueller und organisationaler Akteur*innen des zeitgenössischen Kunstmarktes (der traditionell nicht der Bereich ist, in dem sich ein Kunstfeld auf diskursiver Ebene hervortun will) ist besonders groß für den Aufbau der Kunstvermittlung und -distribution: Während dem Staat die Partizipation am Aufbau des Kunstfelds in Indien abgesprochen wird („A place like the NGMA: The government is not doing anything, those people who are involved are not interested“, Audiotranskript, STANGA 2010: 5), nimmt die Bedeutung einzelner Akteur*innen insbesondere im Bereich der Wissensproduktion und -vermittlung daran zu und wird anerkennend hervorgehoben: „In that sense then, the galleries in India have performed a very heroic work.“ (ebd.) Galerist*innen wird somit als Schlüsselakteur*innen des Kunstmarktes in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts eine besondere Relevanz im Kunstfeld zugesprochen: die Übernahme und Ausführung von Aufgaben, die nach der „künstlerischen Tradition des Feldes“ (Buchholz 2008: 223) Hand in Hand mit einer öffentlichen Institution ausgeführt werden sollten. Dies finden nicht nur die Akteur*innen des Kunstmarktes anerkennenswert, sondern diejenigen Befragten, die eher dem politisch linken Spektrum des Kunstfelds zuzuordnen sind: Künstler*innen, Kurator*innen, Kritiker*innen.
Dass der Staat nicht aktiv am Aufbau des zeitgenössischen Kunstfelds in den entscheidenden Jahren der Ausdifferenzierung nachkam, führte laut der Akteur*innen zu „Bindestrich-Identitäten“. Damit sind Akteur*innen im indischen Kunstfeld gemeint, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sich mehr als nur einem Tätigkeitsbereich zu widmen, um ein möglichst breites Spektrum an Praktiken im Kunstfeld abzudecken, die es braucht, um die Infrastruktur auszudifferenzieren: Galerien verkaufen nicht nur zeitgenössische Kunst, sondern produzieren auch Wissen darüber, das zu kulturellem Kapital verhelfen soll. Kunstmagazine, Messen und Biennalen haben nicht nur die Aufgabe, aktuelle Diskussionen und Positionen der zeitgenössischen Kunst zu zeigen, sondern agieren wie eine staatliche Kunstinstitution, indem sie zeitgenössische Kunst für eine breite Öffentlichkeit zugänglich und erfahrbar machen. Im Gegensatz zu den Praktiken der oben besprochenen Museen sind ihre publikumsorientiert, das bedeutet, sie holen ihr Publikum dort ab, wo es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet: im Wandel zu einem translokalen zeitgenössischen Kunstfeld.
Für Olivier Roueff (2017) spielt der Staat in der Gegenwart hingegen eine weitaus bedeutendere Rolle. In seiner Studie Elite Delights: The Structure of Art Gallery Networks in India zur Netzwerkstruktur von Kunstgalerien in Indien ruft er in Erinnerung:
Nevertheless, a crucial point is rarely stressed: the Indian state actually plays a significant role in artist recognition – through art departments in public or approved universities, some of which are among the most renowned,4 and via the national and local academies (Lalit Kala Akademi) and their training centers, workshops, group exhibitions, awards, and scholarships. A look at the curricula of hundreds of artists selected for exhibitions or dictionaries quickly reveals that very few do not include at least one Akademi credential. Private foundations, providing orders, grants, and residencies, were for their part undeveloped until the 2010s. (Roueff 2017: 30)
Roueff behauptet hier zwar zu Recht, dass die Universitäten und die Akademien der Kunst in Indien Künstler*innen innerhalb des Konsekrationszyklus unterstützt haben. Dies ist auch daran sichtbar, dass nationale Museen wie das NGMA sich aus der Idee des nation-buildings entwickelt haben. Was allerdings bei Roueff unberücksichtigt bleibt, ist, dass der indische Staat nicht bzw. nur sehr eingeschränkt die zeitgenössische Kunst unterstützt und erst ab dem Zeitpunkt strukturiert in Erscheinung tritt, an dem die Institutionen des indischen Kunstmarktes eine starke Präsenz und große Aufmerksamkeit aufweisen. Bis dahin haben die privaten Kunstakteur*innen der indischen Oberschicht die Künstler*innen im Kunstfeld in Indien bereits maßgeblich unterstützt, sichtbar gemacht und im globalen Kunstfeld positioniert.
Auch der wissenschaftliche Diskurs in Indien über die nationale moderne Museumslandschaft ist an meine Forschungsergebnisse anschlussfähig und steht im Kontrast zu Roueffs Aussagen. Die deutlichste Stimme hierzu ist die von Kavita Singh: „In India, the market is making the museum! Preserving archives, amassing collections, building infrastructure: the contemporary art museum is coming to India through the initiatives of private foundations.“ (2010: 31) Shukla Sawant geht noch tiefer ins Detail und legt dar, was sie von staatlichen Akteur*innen innerhalb des Kunstfelds erwartet: die Bildung von Kunstkritik.
Ideally, state-funded bodies should play an active role in acquiring and exhibiting contemporary art as it evolves and develops new forms of critique. Yet, as acquisition budgets for these institutions are miniscule and state sponsored museums run on a skeletal staff, ill-equipped to handle the “preciousness” that is now associated with art as museumized object, the onus of building significant contemporary art collections has been taken up by individuals who have the material means and aesthetic sensibility to acquire or support experimental work. (Sawant 2010: 17)
Bezogen auf den Aufbau einer Sammlung zu zeitgenössischer Kunst verdeutlicht Rajendran, dass sich das NGMA von seinem Publikum entfernt, indem es nicht die künstlerische Gegenwart sammelt, erforscht und konserviert, in der die jetzige Generation lebt:
Finally, the NGMA in India remains divorced from the contemporary, as its protocols do not allow the acquisition of the very ephemeral or conceptual art that forms a large portion of the contemporary art produced in the country. (Rajendran 2016: 352)
Meine Ergebnisse schließen an Rajendrans, Singhs und Sawants Beobachtungen an und deuten an, dass es weniger die indische Kulturpolitik ist, die Gesellschaft und zeitgenössische Kunst miteinander in Kontakt bringt, sondern die Kunstakteur*innen der Oberschicht, die mit ihrem ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapital dazu neue Orte und Räume für zeitgenössische Kunst aufbauen.
Lokalisierung und Institutionalisierung von Konsekrationsmacht
Die Bedeutung der Akteur*innen für die Veränderung im Kunstfeld in Indien liegt in ihrer Agency. Damit fasse ich ihre besondere Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht als neue soziale Kategorie der indischen oberen Mittelschicht und Oberschicht zusammen, die es ihr ermöglicht, translokal, transnational und transregional verbindend aufzutreten und zu agieren. Die obere Mittelschicht und die Oberschicht sind dabei beides zugleich: ihre Agent*innen und ihr Publikum. Sie besuchen regelmäßig und in konstant hoher Zahl Kunstereignisse wie die IAF und KMB, Museen und Vernissagen. Analysen zu den Kunstakteur*innen der oberen Mittelschicht und Oberschicht ergeben folgende drei Kennzeichen: 1.) Sie hatten durch ihre Mobilität Einblicke in und Erfahrungen mit westlichen Akteur*innen und Institutionen der Kunstzentren London und New York. 2.) Sie verfügen durch ihre Zugehörigkeit zur oberen Mittelschicht und Oberschicht sowohl über ausreichend ökonomisches wie auch soziales Kapital, um die Erfahrungen, die sie im westlichen Kunstfeld gemacht haben, in ihrer eigenen Arbeitswelt, meist dem Kunstmarkt und seinen vermittelnden Organisationen, umzusetzen. 3.) Sie konnten durch die wirtschaftlichen Freiräume, die die Liberalisierung bot, nicht nur im indischen Kunstfeld handeln, sondern mit ihren Praktiken auch schnell in Kontakt und damit in den Wettbewerb mit dem globalen Kunstfeld treten. Dies zeigt das Beispiel der Bodhi Art Galerie besonders deutlich: Dadurch, dass das Kunstfeld transnational und translokal ist und die Galerie sich diese Eigenschaften als erste indische Galerie für zeitgenössische Kunst als Geschäftsmodell aneignete, standen die Mitarbeiter*innen von der Gründung an mit dem Ausland und damit mit dem globalisierten Kunstfeld gleichermaßen in Verbindung und in Konkurrenz um kulturelle Deutungsmacht.
Mit der Öffnung Indiens und der neuen Marktfreiheit durch die ökonomische Liberalisierung war es den befragten Kunstakteur*innen möglich, selbstbestimmt ihren lokalen Kontext zu wechseln – eine Freiheit, von der sie Gebrauch machten und die als sozialräumliche Autonomie, d. h. als „Chance, den Kontext auf eigenen Wunsch wechseln zu können“ (Weiß 2017 zitiert nach Rehbein [2017: 222]), definiert wird. Sie haben ihr ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital in den Kunstzentren und darin befindlichen Organisationen und Institutionen Mumbais, Delhis und Kochis für den Aufbau einer translokalen Infrastruktur von Kunst eingesetzt. Vor diesem Hintergrund ist herauszuheben, dass die Agency zwar translokalisierend, internationalisierend und transkulturalisierend wirkt, den starken Bezug zu Südasien aber durchgehend aufrechterhält.
In der Analyse der Praktiken von Kunstakteur*innen in Kapitel 3 bis 5 konnte ich zeigen, dass sie als Zugehörige der oberen Mittelschicht und Oberschicht diejenigen sind, die Kultur durch zeitgenössische Kunst in Indien im Sinne der Production-of-Culture-Perspektive von Richard A. Peterson (1976, 2004) und Paul DiMaggio (1982, 1992) produzieren. Insbesondere im Kontext der Emerging Art Market Countries wurden die kaufkräftigen und finanzstarken Akteur*innen in ihrer Rolle als neue Konsument*innen zeitgenössischer Kunst als Investment Asset und zeitgenössische Kunst als neues Statussymbol betrachtet.
Was bislang jedoch nicht für den indischen Kontext untersucht wurde, ist die Rolle, die (neue) Akteur*innen der Kunst als Kulturproduzent*innen im zeitgenössischen Kunstfeld einnehmen. Meine Ergebnisse leisten hier einen ersten Beitrag, indem ich die herausgearbeiteten Praktiken der Kunstakteur*innen in ihrer Funktion als Kulturproduzenten dimensioniere. Ihre Art Worlding Practices sind raumproduzierende Praktiken, die durch die Handlungslogik der Konsekrationsmacht gekennzeichnet sind. Diese Räume sind insbesondere Wissensräume, in denen kulturelles und symbolisches Kapital produziert wird. Die Akteur*innen, die verantwortlich sind für die Erschaffung dieser neuen Wissensräume und ihrer Verknüpfung untereinander, sind damit diejenigen, die die Genese des indischen Kunstfelds voranbrachten und translokalisierten und damit Schnittstellen zu anderen individuellen und institutionellen Kunstakteur*innen produziert haben.
Während Globalisierung oftmals als treibende Kraft des Wandels des zeitgenössischen Kunstfelds in Indien gesehen wird, zeigen meine Analyseergebnisse ein weitaus differenzierteres Bild. Die Globalisierung des Kunstfelds in Indien bedeutet zunächst einmal, dass lokale Kunstakteur*innen mit ihren Praktiken am globalen Kunstgeschehen teilnehmen wollen und können. Anstelle eines kulturellen Globalisierungsprozesses, den das Kunstfeld in Indien durchlaufen oder durchströmt hat (im Sinne von Appadurais Cultural Flows, 1996), tritt in meiner Analyse die Handlungsfähigkeit und -macht (Agency) insbesondere der indischen Oberschicht im Kontext der Leerstelle Staat als treibender Kraft der Transformation von Kunstwelt zu Kunstfeld zutage.
Die Akteur*innen selbst verneinen in den Interviews die Frage, ob die Mittel- und Oberschicht in der Kunst eine Rolle spiele. Zwar sehen sie in der wachsenden Mittel- und Oberschicht einen differenzierteren Käufer*innentypus für zeitgenössische Kunst, beispielsweise echte Sammler*innen, Kunstinvestor*innen oder Kunstkäufer*innen aus Statusgründen. Darüber hinaus erkennen sie jedoch keine Bedeutung der Mittel- und Oberschicht für die Entwicklung des Kunstfeldes in Indien – und dies, obwohl sie sich über ihre Handlungsfähigkeit (Private Agency) im Aufbau der künstlerischen Infrastruktur durchaus bewusst sind. Private Agency, mit der ein großer Möglichkeitsraum gestaltet werden kann, ist ein Aspekt, den die Anthropologin Minna Säävälä in ihrer Untersuchung zur neuen Mittelschicht in Indien anführt. Darin arbeitet sie mit einer Analyse zu moralischen Grundsätzen der neuen indischen Mittelschicht („middle class moralities“) in Hyderabad u. a. ein spezifisches Verhältnis von Staat und neuer indischer Mittelschicht heraus: Anders als die „old middle classes“, die als „state-oriented up to the point to the economic reforms“ (Tenhunen & Säävälä 2012: 136) galten, sei es Kennzeichen der neuen Mittelschicht, unabhängig vom Staat zu agieren. Auch in meiner Forschung tritt dieses Kennzeichen, hier insbesondere der Oberschicht, deutlich hervor: Im Feld der Kunst in Indien ist die Private Agency der indischen Oberschicht gekennzeichnet von Praktiken, deren Akteur*innen mobil, transkulturell und translokal agieren. Kapitel 3 und 4 verdeutlichen dies mittels der geschilderten Arbeitserfahrungen, Wahrnehmungen und Erlebnisse der befragten Kunstakteur*innen, die zwischen Mitte der 1980er und Beginn der 2000er Jahre in ausländischen Kunstwelten gemacht wurden. Die Kunstakteur*innen, die meist der Kunstvermittlung des Kunstfeldes, allen voran dem Kunstmarkt, angehören, versuchten zwischen den Jahren 2000 und 2018 den Wert und die Qualität ihrer Künstler*innen und deren Werke im Kunstfeld zu etablieren. Im Fall der Galerie Bodhi Art transformierte sich ein individueller Akteur, der eine Vision verfolgte, in einen translokalen und institutionellen Akteur, der (inter-)national sichtbar und gut positioniert im globalen Kunstmarkt agierte. Bemerkenswert an dieser Dynamik ist, dass ein individueller und später institutioneller Akteur weder staatlich gefördert noch in seinen Praktiken ermutigt worden war. Solche Akteur*innen schufen sich im Laufe der 1990er Jahre einen eigenen Handlungsraum, den sie ab 2000 so ausgestalten konnten, dass er Zugänge und Kontaktzonen, Vernetzungslinien und Knotenpunkte mit dem globalen Kunstfeld bot. Was sie verbindet, ist das, was Enwezor als „the will to globality“ (Enwezor 2002) bezeichnet und was als Form der „transcultural mobility“ (Juneja 2011: 285) begriffen werden kann. Aus der Agency der Oberschicht ergibt sich demnach eine lokalisierte Form von Konsekrationsmacht im künstlerischen Feld in Indien. Mittels ihrer guten ökonomischen und symbolischen Kapitalausstattung treten sie immer häufiger und zuverlässiger im globalen Kunstfeld auf, um das indische Kunstfeld zu repräsentieren: Sie avancierten zu mobilen, sichtbaren und interagierenden Agent*innen des Kunstfeldes in Indien und generierten mediale Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für die sich darin befindlichen Transformationsprozesse. Hier ist der Bedeutungszuwachs der Stellung von bildender, zeitgenössischer Kunst in der indischen Gesellschaft und im globalen Kunstfeld besonders gut erkennbar.
Die neue indische Deutungselite
Säävälä zeigt in Middle Class Moralities. Everyday Struggle Over Belonging and Prestige in India (2010), dass Indian Middle Classness eine Form sozialer und kultureller Zugehörigkeit ist. Anhand der Middle Classness im indischen Hyderabad demonstriert sie, wie sich globaler Kapitalismus in den Lokalisierungsprozessen einer spezifischen Kultur niederschlägt, und stellt fest, dass die neuen indischen Mittelschichten relativ unabhängig von staatlichen Einflüssen agierten. Middle Classness wird letztlich als eine Kategorie sozialer und kultureller Zugehörigkeit definiert, was im Umkehrschluss heißt, dass die Mittelschichtzugehörigkeit auch eine Form der sozialen und kulturellen Ausdifferenzierung ebenso wie Abgrenzung ist. Sie proklamiert, dass
[w]hen under pressure from hegemonic outside influences, people tend to create a new sense of conscious culturalism: a conscious mobilisation of cultural differences in the service of a lager national and transnational politics … we will see how new middle classes in India are creating their cultural distinctiveness in this process of identity formation, a process being replicated globally. Creating cultural particularity is a dialectical process in which identifications are based on conceptualisations of difference. (Säävälä 2010: 4–5)
Sääväläs Forschungsergebnisse können auf die indische obere Mittelschicht und Oberschicht bezogen werden. Im Prozess „Identitätsbildung durch Zugehörigkeit“, in dem sich die obere Mittel- und Oberschicht befindet, fungiert zeitgenössische Kunst als Marker kultureller Abgrenzung bzw. kultureller Besonderheit. Die Prozesse der Abgrenzung und Besonderheit (Cultural Distinctiveness) bei gleichzeitiger Bekräftigung des Eigenen sind im künstlerischen Feld in Indien am Beispiel der Praktiken der Kunstakteur*innen gut zu erkennen. Besonders die indische Oberschicht erschafft mit ihren Praktiken den Nährboden und Anschlussstellen für die Ausbildung sozialer und kultureller Zugehörigkeit. Diese kollektiven Praktiken unterstützen die Bildung eines neuen gesellschaftlichen Teilbereichs, der durch die Mediatisierung des Kunstfelds eine neue Öffentlichkeit für Kunst beinhaltet. Anstatt Classness als Distinktionsmittel zu definieren, plädiert Säävälä dafür, Middle Classness als Zugehörigkeit bzw. Anerkennung im Sinne einer verbindenden Gemeinsamkeit oder gar der Definition einer neuen Mittelschicht in Indien zu sehen.
In Bourdieu’s French case, the main issue was the struggle over distinction through maneuvering with good taste in terms of cultural practices such as art, music, and cuisine. In the Indian case, I maintain that class struggle among people identifying themselves as middle class is more about belonging – acceptance – than about distinction, which basically refers more to marking difference than to a struggle over belonging. (Säävälä 2010: 8)
Auch wenn meine Forschung dezidiert die obere Mittelschicht und die Oberschicht fokussiert, so ist die bei Säävälä dargelegte Classness auch für die von mir untersuchten Akteur*innen als verbindende Gemeinsamkeit zu verstehen: Die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst ist eine sozial verbindende Gemeinsamkeit, die jegliche sozialen Räume miteinander verbindet. Die indische Oberschicht, die im Kunstfeld partizipiert, hat sich mit dem Aufbau der künstlerischen Infrastrukturen und Institutionalisierung von Kunstmarktpraktiken eine Culture Classness im Sinne Peterson und Anands Begriff der „culture classes“ (2004) erarbeitet, in der es weniger um Einkommensunterschiede als um soziokulturelle Zugehörigkeit geht. Sie definieren Culture Classes als „groupings of people ranked by their patterns of consumption“ (2004: 324).
Vor diesem Hintergrund erkenne ich im institutionellen Aufbau des translokalen Kunstfelds in Indien eine neue Funktion zeitgenössischer Kunst im Globalen Süden: Anstatt Kunst lediglich als Mittel sozialer und kultureller Distinktion zu sehen, besitzt sie auch die Fähigkeit, soziokulturell zu verbinden und Zugehörigkeiten zu schaffen. Im Bezug auf Lokalisierung als Strategie der Globalisierung bedeuten ihre Kunstpraktiken hier nicht nur die Inkorporierung globaler Strukturen, Ideen und Formate in einen lokalen Kontext – wie ich mit der Transformation von Kunstwelt zu Kunstfeld demonstrieren konnte. Am Beispiel des Kunstfelds in Indien tritt Lokalisierung als eine Handlungsfähigkeit auf, die vor Ort strategisch Ressourcen einsetzt, die den eigenen Interessen dienen. So gesehen ist Lokalisierung die Strategie (Pfaff-Czarnecka 2005), mit eigenen Ressourcen – sprich Konsekrationsstätten und Kapitalien – im globalen Wettbewerb zugehörig, sichtbar und aktiv zu werden.
Am Beispiel der untersuchten Praktiken in Mumbai, Delhi und Kochi wurden Einblicke in die Verflechtungsgeschichte der Gegenwart der lokalen Kunstproduktion gegeben und gezeigt, wie Kultur heute gestaltet wird und welche Bedeutung dies für die Gesellschaft hat – insbesondere für moderne Gesellschaften, die eine koloniale Vergangenheit haben oder in einem Emerging Market des Globalen Südens lokalisiert sind. Die Emanzipation indischer Kunstakteur*innen aus der Abhängigkeit westlicher Deutungsmacht und die Bildung eines neuen künstlerischen Selbstwertgefühls, das in der Zugehörigkeit der indischen Kunstakteur*innen zur kulturellen Deutungselite besteht, sind die ersten Schritte in Richtung einer strukturellen Dezentrierung des globalen künstlerischen Feldes und einer Partizipation des Globalen Südens.
Ausblick
Die lokalisierenden Strategien der Kunstakteur*innen sind ein erster empirischer Anhaltspunkt, dass sich seit 2000 im indischen Kunstfeld eine neue kulturelle Deutungselite formiert, die gleichzeitig kosmopolitisch auftritt und lokal (re)agiert. Da zur Erforschung der kulturellen Globalisierungsprozesse der Aufstieg von Deutungseliten im Globalen Süden ein noch wenig bearbeitetes Forschungsfeld darstellt (vgl. Schneickert 2014), bietet die vorliegende Forschung diverse Anknüpfungspunkte zu weiterführenden Studien. Diese Forschungslücke überrascht vor dem Hintergrund, dass „Eliten über mehr transnationales Kapital verfügen und sich somit schneller globalisieren als andere sozialstrukturelle Gruppen“ (Schneickert 2014: 1). Mit Eliten sind zunächst Akteur*innen gemeint, die aufgrund einer breit angelegten und hohen Ressourcenausstattung in der Lage sind, unabhängig von institutioneller und struktureller Beschränkung zu agieren (Schneickert 2014: 2014, Hartmann 2008: 241). Nach Schneickert sind sie
Inhaber von Spitzenpositionen relevanter gesellschaftlicher Sektoren, deren Urteile und Handlungen, wichtige gesellschaftliche Entscheidungen maßgeblich mitbestimmen bzw. beeinflussen oder zur Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur und der sie tragenden Normen unmittelbar beitragen. (Schneickert 2014: 9)
Eliten werden von der Soziologie nach zwei unterschiedlichen Auffassungen gruppiert: in solche, die sich vom Nationalstaat lösen und damit als globale Elite zu sehen sind, und in solche, die weiterhin eng mit dem Nationalstaat verbunden sind. Schneickert vertritt letztere Auffassung, insbesondere wenn es um Eliten im Globalen Süden geht. Auch meine Forschungsergebnisse zu den lokalisierenden Strategien der kulturellen Deutungselite lassen die Vermutung zu, dass die indische Deutungselite im Bereich der Kultur im lokalen und regionalen Kontext eingebettet bleiben und im indischen Nationalstaat ihre Private Agency einsetzen wird.
Nicht nur aus Perspektive der Südasienstudien, auch aus der der Globalen Kunstgeschichte lohnt es sich, den Production-of-Culture-Ansatz (Peterson & Anand 2004) um die Ressource „Lokalität als Ergebnis von Globalisierungsprozessen in Verbindung mit zeitgenössischer Kunst“ zu erweitern. In meiner Arbeit habe ich die Beschäftigung mit Künstler*innen und Kunstwerken ausgeklammert. Auf Basis meiner Ergebnisse wäre es jedoch erkenntnisführend, sich nicht nur mit der Kunstvermittlung, sondern auch mit der zeitgenössischen Kunstproduktion in Indien zu beschäftigen: Wie steht es um die institutionelle Künstler*innenausbildung, wie und wo wird Kunst heute gelehrt? Was ist die Bedeutung von Mobilitätsprogrammen wie Artist-in-Residence-Programmen? Und wie haben sich durch die lokalen Strukturveränderungen und die globale Aufmerksamkeit die Inhalte, Formen und Ästhetiken von Kunstwerken selbst verändert? Interessant ist auch hier der Aspekt des Kolonialerbes: Wie verändert sich Künstler*innenausbildung, die zunächst stark kolonialisiert war (die Briten führten die Praxis der Kunstakademieausbildung in Indien ein) vor dem Hintergrund der jüngsten Verflechtungsgeschichten des globalen Kunstfelds? Wie steht es um die aktuellen Diskurse zu zeitgenössischer Kunst und kulturellen Praktiken, welchen Platz nimmt die koloniale Vergangenheit Indiens darin ein?
Eine weitere Forschungslinie auf der Mikroebene, der es nachzugehen lohnt, sind Einzelfallstudien zur Veränderung von Praktiken durch die Mediatisierung des Kunstfelds in Indien. Wie ich am Beispiel der medialen Kommunikation über Kunst im Kunstfeld in Indien zeigen konnte, stehen Medien, Markt und das Kunstfeld in einem neuen Verhältnis, das vor allem an jenen neuen Kunstzentren sichtbar wird, wo ein beschleunigter sozialer und medialer Wandel zu beobachten ist. Mit Untersuchungen zu anderen Orten der Kunst im Globalen Süden könnte das bislang westlich orientierte Konzept der medialisierten Welt von Hepp & Krotz (2012) geografisch erweitert werden. Die durch eine neue Aufmerksamkeitsökonomie entstandene mediale Öffentlichkeit für zeitgenössische Kunst wäre zudem besonders lohnend durch die Linse einer kritischen Diskursanalyse zu betrachten, um damit das Potenzial, das Sperling (2014) zum Diskurs als neuen Raum von Globalisierungs- und damit auch Lokalisierungsprozessen festhält, zu beleuchten. Besonders relevant sehe ich hier die Analyse von Vorträgen und Konferenzbeiträgen, die oftmals nicht in Schriftform vorliegen und daher noch keinen Eingang in den globalen Kunstdiskurs gefunden haben.
Anschließende Forschungen zum Verhältnis von staatlicher Kulturpolitik und zeitgenössischer Kunst und Kultur wären wünschenswert, um die Rolle der Kulturpolitik der BRICS-Staaten, in Südasien und generell im Globalen Süden vergleichend zu betrachten. Interessant wäre hierbei der normative Aspekt, welche Rolle der Staat bei der Förderung der zeitgenössischen Kunst (die ja oftmals als Luxusgut kontextualisiert wird) übernehmen sollte – gerade in einem Land wie Indien, das durch massive soziale Ungerechtigkeit und Armut geprägt ist.
Bisher haben meine Ergebnisse verdeutlicht, dass der indische Staat im Kontrast zur Zeit der indischen Moderne in der ersten Phase der Wirtschaftsliberalisierung sehr zurückhaltend im Feld der Kunst partizipierte. Wie Hampel in Fair Cooperation. Partnerschaftliche Zusammenarbeit in der Auswärtigen Kulturpolitik (2015) gezeigt hat, ist das Kunstfeld in Indien in klassische und zeitgenössische Künste (vgl. 2015: 94) unterteilt, die unterschiedlich von der indischen Kulturpolitik gefördert werden. Ihrer Ansicht nach besteht zwischen beiden Kunstarten eine Konkurrenz, wobei sich der indische Staat oftmals gegen die neoliberale Kulturpolitik – das bedeutet gegen die zeitgenössische Kunst – und zugunsten der klassischen Kunstwelt entscheidet, da die „nationale Kulturförderung vorrangig auf den Schutz des nationalen Kulturerbes ausgerichtet“ sei (Hampel 2015: 94). Diese Beobachtung ist richtig, doch die jüngsten Entwicklungen im zeitgenössischen Kunstfeld sind nicht unbeobachtet am indischen Staat vorbeigegangen, sondern sie lösen eine neue Phase des staatlichen Interesses an der zeitgenössischen Kunst aus – eine auf meiner Empirie basierende Annahme, die ich im Folgenden als abschließenden Exkurs für weitergehende Forschungen kurz skizzieren werde:
Dem NGMA in Delhi ist es gemäß seiner programmatischen Ausrichtung nicht gestattet, zeitgenössische Kunst zu sammeln: „its protocols do not allow the acquisition of the very ephemeral or conceptual art that forms a large portion of the contemporary art produced in the country.“ (Rajendran 2016: 352) Dennoch zeigt das NGMA in Delhi seit knapp zehn Jahren ein steigendes Interesse, mit internationalen Ausstellungen an der zeitgenössischen Kunstwelt in Indien teilzunehmen und so Teil dieser neuen Entwicklung zu werden. Dies gelang ihm zumindest unter dem Direktor Rajeev Lochan mit der Präsentation zeitgenössischer Künstler*innen aus dem In- und Ausland, eine neue Praxis, die bisher noch nicht untersucht wurde. Doch wäre eine Beschäftigung mit dem NGMA als neuem Akteur in der indischen Kulturpolitik gewinnbringend, um den Einsatz lokaler Deutungsmacht anhand eines staatlichen Kunstakteurs zu erforschen.
Ein weiteres Beispiel für eine veränderte staatliche Museumspraxis sind die Praktiken des Dr. Bhau Daji Lad Museums (BDL Museum) in Mumbai. Das Museum ist das älteste Indiens, und das erste staatliche Museum, das mit der indischen Privatwirtschaft in Form einer Public-Private-Partnership-Kooperation zusammenarbeitet. Es bietet seinen Besucher*innen ein breit gefächertes Bildungsprogramm an, darunter seit 2012 auch einen postgradualen einjährigen und berufsbegleitenden Diplomkurs in Modern and Contemporary Indian Art and Curatorial Studies für 1.00.000 Rupien (vgl. Bhau Daji Lad Museum, Kursbeschreibung). 2008 begann das BDL mit dem Projekt Engaging Traditions, einer Art Artist-in-Residence-Programm, Kunst zu sammeln. Das Museum lud Künstler*innen ein, die sich mit Themen beschäftigen, die auch in der permanenten Sammlung zur Stadtgeschichte Mumbais eine Rolle spielen. Ziel des Projektes war es, dass sich die Künstler*innen durch die Museumsgeschichte und -sammlungen zu einem In-situ-Kunstwerk inspirieren lassen, das später als Intervention in der permanenten Ausstellung gezeigt wird; es wird dem Museum nach Laufzeitende als Spende überlassen. Hier wird sichtbar, dass der indische Staat im zeitgenössischen Kunstfeld in Indien die nationale Kunstkultur auch im Bereich der zeitgenössischen Kunst wieder finanziell zu fördern beginnt. Auch sehe ich erste Bestrebungen der staatlichen Institutionen, sich zusammen mit Akteur*innen der Privatwirtschaft der zeitgenössischen Kunstkultur in Indien wieder anzunähern.
Auch Bublatzky (2014) beobachtet im Epilog ihrer Ethnografie zur internationalen Wanderausstellung Indian Highway, dass sich der indische Staat immer interessierter an der Entwicklung des zeitgenössischen Kunstfelds zeigt, und beschreibt einen „shift towards a broader government acknowledgement of artistic contemporary practices in the country“ (2014: 323). Die Anerkennung, die Bublatzky seitens der indischen Regierung erwähnt, äußert sich meines Erachtens darin, dass der indische Staat beginnt, sich bei Art Worlding Practices einzubringen und Mumbai, Delhi und Kochi als künstlerische Knoten im globalen Netzwerk der zeitgenössischen Kunst sichtbar zu machen. Das erwachende Interesse des Staates an zeitgenössischer Kunst ist aus historischer Perspektive nicht allzu überraschend: Bereits im „historischen Projekt der Nationswerdung wurde der Kunst als imaginärem Raum der Identitätsbildung eine wichtige Position zugewiesen“ (Hoskoté 2002: 19). Dass die indische Kulturpolitik die lokale Ressource „zeitgenössische Kunst“ wiederentdeckt und einzusetzen beginnt, ist im gegenwärtigen Prozess der nationalen Positionierung Indiens nur konsequent.
Die knapp skizzierten neuen Praktiken zeugen von zaghafter Partizipation im Feld der zeitgenössischen Kunst, mit denen der indische Staat wieder in das Kunstfeld einzusteigen scheint. Der Aufbau des Kunstfelds durch die Privatwirtschaft und dessen öffentlichkeitswirksame, translokale Kommunikation bewirken erste Veränderungen der nationalen Kulturpolitik, die im Anschluss an meine Forschungen beispielsweise an indischen kunstbezogenen Institutionen wie zeitgenössischen Kunstmuseen, Stipendienprogrammen oder Ausbildungen weiterführend untersucht werden können. Anscheinend entging es staatlichen Akteur*innen nicht, welch – wie ich zeigen konnte – wichtiges Kapital die Akteur*innen der Privatwirtschaft in den Jahren 2000 bis 2018 im zeitgenössischen Feld der Kunst als Teil des Kunst- und Kultursektors der indischen Gesellschaft aufgebaut haben. Auch D’Souza bemerkt: „[t]he impoverished national state sector, which is generally both conservative and slow to respond to rapid change, is now upsurged in terms of recognition and credibility by the new commercial art fairs, private institutions and galleries.“ (D’Souza 2013: 300)
Die Feststellung, dass sich staatliche Museen dem Einzug zeitgenössischer und oftmals auch internationaler Kunst geöffnet haben, und dies nicht nur zu Ausstellungszwecken, sondern auch in Form von Finanzierungspartnerschaften, konnte ich bereits in meinen Untersuchungen erkennen. Aber es bedarf weiterer Forschungen, um das Phänomen „staatliche Akteure und Art Worlding Practices im Kunstfeld in Indien“ so zu beleuchten, dass es in seiner ganzen Relevanz auch erfasst wird. Der Einsatz von zeitgenössischer Kunst und Praktiken im Kontext von Place Branding (Anholt 2008) und Nation Branding (Szondi 2008) und die Anerkennung von Kunstfeldpraktiken über die Grenzen Indiens hinaus sind hier nur der Anfang für ein Desiderat, das die Kunstgeschichte, die Südasienstudien und die Kunstsoziologie interdisziplinär angehen können: die Rolle und Relevanz zeitgenössischer Kunst in Südasien und im Globalen Süden.
Fazit und Ausblick
Neue lokale Institutionen und Handlungslogiken im Feld der Kunst
Die Rolle des Staates beim Aufbau von lokalen Ressourcen im Feld der Kunst
Lokalisierung und Institutionalisierung von Konsekrationsmacht
Die neue indische Deutungselite
Ausblick